L&Poe Journal 2 (2022)

Editorial

Journal #02 wird hiermit abgeschlossen. Als Textschwerpunkt gab es Gedichte von starken Frauen (Jayne-Ann Igel, Silke Peters, Mara Genschel, Kerstin Becker, Brigitte Struzyk, Odile Endres, Martina Hefter, Anna Hoffmann und Sophie Reyer). Das ist schon in sich eine kleine aber feine Anthologie, die wie alles andere hierunter nachgelesen werden kann. Im ersten Teil eines Dossiers stelle ich die Autorin und Künstlerin Angelika Janz vor. Der Überfall auf die Ukraine gab den traurigen Anlass für einen kleinen Schwerpunkt Ukraine (Wikyrtschak, Ames, Witte). Der Abschnitt Betrachtung und Kritik versammelt Beiträge von Dirk Skiba, Konstantin Ames, Bertram Reinecke, Michael Spyra und Karl-Heinz Borchardt zu so verschiedenen Themen wie Autorenporträts, Versgrammatik, Literaturbetrieb und einen Greifswalder Denkmalstreit im 19. Jahrhundert. Kurz vor Redaktionsschluss gab noch der Tod des Lyrikkritikers Michael Braun einen traurigen Anlass. Mehr

UKRAINE | УКРАЇНА

Iryna Wikyrtschak

  • Du bist eine Dichterin, sagen sie
ich schreibe dieses gedicht nichtmal
in der sprache der opfer
obwohl ich sollte
denn sie sind es, die antworten suchen,
und ich bin es nicht, die sie kennt.

Konstantin Ames

  • Komm doch
Putin, wehrhafter als dt. Lyrik, die Kiew jetzt tapfer hält.
Pootin, du und ich, wir wissen es, dass du nichts hast.
  • Türlicht
Mariupol Mariupol sein lassen
Mund auf weit weiter : fehlt :
Wehrstachel wird sich einfinden

Georg Witte

  • Gastkommentar: Das ZWAR- und ABER-Spiel
ZWAR ist die Ukraine eine Nation, ABER keine richtige.
ZWAR ist die Ukraine europäisch, ABER nicht richtig.
ZWAR sind wir für territoriale Integrität, ABER die Krim ist doch eigentlich russisch.
ZWAR sind wir für Sanktionen, ABER wir schaden uns selbst.

NEUE TEXTE

Jayne-Ann Igel

  • Kerben
diese busfahrt mit mutter nach w., nächtliche fahrt mit lichtern, trügt mich 
die erinnerung oder hat sie im kurhaus übernachtet und mich tags darauf 
in einem bett hinterlassen, an dessen fußende
  • Fernersucht
das meer ist dort, wo immer du suchst, im überschreiten alter küstenverläufe, 
hier in der niemandslandbucht, steigst über kalk, der irgendeinmal muschelmund, 
  • Von schatten verlorene straßen alleen
Sind wir steinsmomente, die früchte uns eingetrieben, nur rum und 
rumgefahren um die langen bärte der vorfahren
  • Scherenschnitt
hier lief kein film, man traf sich stets zur selben stunde, mittags wie 
in der frühe, das hatte etwas von trotz, in der stablosen zelle –

Silke Peters

  • Frauentag
Frauentag. Schreiben verändert die Wahrnehmung, ist eine heftige Trance. Bilder 
verschmelzen bei über eintausend Grad im Lagerfeuer.

Mara Genschel

  • Ich weiß nicht
Ich weiß nicht.
Nachts schriebinne ich sie alle an.
Erst nachts stand, wie lieb ins Regal gestellt:
(ich/nichts Gebrauchte Kartons.)
Ich les nichts, Simone, und

Kerstin Becker

  • Flaum
der Brustkorb hob und senkte sich fiebrig schnell als
wär der Leibhaftige hinter ihr her, die Sonde quer
übers Gesicht
  • Minne
siehst du die Speckgürtel
und Ghettos um die Städte
Abriegelsystem humanus ich gehör
der Kaste Allerletzter an
  • Übung in Blindheit und Taubheit
fort hier kein Wort wir
suchen so lang schon
im Daumenlutschen Trost

Brigitte Struzyk

  • Cursdorf
Die Müllabfuhr heißt hier Ernst
Sie fährt vor den Wolken den Berg hoch
An den Wiesen vorbei
Vorbei an dem Duft von
Pestwurz und Augentrost
Ehrenpreis und Dost
  • Ach, altes Ach
Und geschwärzt hat sich schon
Alles Weiße im Wind
Kerzengrade wird Nacht
In den Schnee geweht
  • Schanzengraben
Wo sich die Wiesenseiten senkten
Dass jach ein Tal entstand mit alten Apfelbäumen
Den Hang hoch frühlings Veilchenwiesen
Und in den Weiden Kletternester
  • Steinbacher Stunden
Das große Fleisch wankt auf mich zu
Und wirft den Springinsfeld so hoch,
dass er die Schweine pfeifen hört
  • Für Anna Achmatowa
Es legen sich die vordiktierten Zeilen
Aufs reine Weiß.
bis alles schwebt-
  • Für H.
Kommt! Ins Offene!
Auf den Balkon!
Oder ans Fenster!
Legt Hand auf Hand!
Lasst sie gewaschen sein!
Klatscht in die Hände!
  • Friedliche Revolution
Und am  Neunten, am Abend,
kam von drei Worten ein Wind auf.
Die Blätter fielen, der Baum stand stramm,
ja, am Abend stürzte er um.

Martina Hefter

  • 2019
Die Karl-Heine-Straße ist eine breite, quirlige Straße.
Ich mach bei einem Kuchenbasar mit, Flohmarkt
im Westwerk. 
Ich kann das Sternbild Pegasus vom Sternbild Großer Wagen unterscheiden. 
Ich bin eine Roboter
man hat mich mit den Daten eines Sterns programmirt

Odile Endres

  • ausschnitte aus den traumtagebüchern vom rand der welt
barken in den traumkanälen, wunschgetrieben. parabelbögen, traumtänzer. 
über geweben aus schatten und glanz. vielfarbige glasblütendelirien
  • Fu-ku-shi-ma
fu-ku-shi-ma, poetryvideo von odile endres
  • Dichterinhaus
  • Aus der Sibylla-Serie
gleichgültig gegen den grauen greifswalder   
Himmel liebtest du die stadt & die fretowschen felder
Wälder das paradies in dem diana ritt zur jagd dort wo    
Amor seine pfeile schoss in deine glasreinen reime

Anna Hoffmann

  • Der Ophelia Club
an aller augen nagt hunger 
die potemkinsche jungfrau erscheint 
nicht pünktlich zum abendbrot 

Sophie Reyer

  • Ich bin ein Schrei aus dem Nebel. Neue Gedichte
Ich bin ein Schrei aus dem Nebel 
bin die die der Fremde spricht 
ganz ohne Nabel 
wo fange ich an

DOSSIER: ANGELIKA JANZ (1)

Delta

Sie will sich beobachtet fühlen. Sie bewegt sich gerne im Schnittpunkt der 
drei Fenster ihres Raumes. Sie spielt, als wolle sie etwas verbergen. 
Sie möchte Gegenstand einer Empörung werden, die die Bewohner 
aller gegenüberliegenden Häuser erfasst.

Fragmenttexte

Mit Verlaaaaubb
wirkmächtig heftig
Lügen die Menschen weil

Das Un

Unterwegs suchten wir
– erfüllt von der Lust zu überschreiben – 
andere Begleiter der Sprachbeherrschung

Sekunde

und während ich dies aufschreibe, läuft die graue Katze leise über die 
Tasten und verwirrt mein Geschriebenes, zärtlich und vorsichtig

Prosa, Haut

Wie du dichtest bist
du um den Stein gewunden wie
mir graut.

worte

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ALTER TEXT

Der Rabe

In den Anfängen im Jahr 2001 kürzte ich den Namen „Lyrikzeitung & Poetry News“ mit L&P ab. Der doppelte deutsch-englische Name sollte Programm für weltoffene und womöglich mehrsprachige Nachrichten sein, News auch schon mit dem Hintergedanken, der heute offen als Motto dient, der Definition von Ezra Pound: Poetry is news that stays news.

Irgendwann kam ich auf die Idee, das Kürzel zu erweitern: L&Poe. Natürlich dachte ich an den Dichter, dessen Namen erscheint, wenn man das Kürzel auf Englisch spricht: L`n Poe, Allan Poe. (Manchmal kürze ich auch LnPoe ab).

Und gewiß war auch der Kurzname programmatisch. War mir Poe anfangs „nur“ als Verfasser von Schauergeschichten bekannt, hatte ich mich langsam in seine Bedeutung für die Literatur der Moderne eingelesen. Insbesondere Baudelaire „entdeckte“ ihn für Frankreich und Europa. / Mehr dazu und zum Text von Edgar Allen Poe: Der Rabe

Niejohr

Wat is 'n Johr? En korten Schritt!
En Druppen, de in 't Weltmeer flütt!
Un doch is in em so väl Qual,
un so väl Freud' un Lust tomal!

BETRACHTUNG UND KRITIK

Zum Tod von Michael Braun

Man musste ihm nicht in allem zustimmen, aber seine Stimme wird fehlen, 
die Lücke ist nicht zu schließen. 
Statements von Paul-Henri Campbell | Andreas Heidtmann | Alexandru Bulucz | 
Carolin Callies | Dieter M. Gräf | Beate Tröger | Horst Samson | Volker Sielaff | Ulrich Koch | Hendrik Jackson hier

Dirk Skiba

„AUTHENTISCH LEHNE ICH AB!“
Dirk Skiba über seine Dichterporträts – Konstantin Ames sprach mit dem Fotografen am 19.07.2021

Konstantin Ames

Schreiben kann man angeblich auch nicht lernen, und doch gibt es 
Literaturinstitute im deutschsprachigen Raum. Und vielgelesene 
Alumni.  Und niemand weiß besser, was ein Verriss für Schreibende bedeutet, als 

Bertram Reinecke

Der Autor schreibt: "Der Fortsetzungsessay "Über Haltung und Versgrammatik" erläutert 
anhand von Aspekten der Grammatik und Syntax mein generatives Textverständnis. 
Ihm liegt die Beobachtung zugrunde, dass der deutliche Ausweis des Materialcharakters 
meiner Montagen stets aufs Neue LeserInnen verunsichert und von einer engagierten 
Lektüre abhält. Während die ersten Kapitel anhand von Streitfällen in der Bewertung 
von Interpretationen und Übersetzungslösungen zeigt, wie man Verständnis über Texte 
gewinnt, indem man sich fragt, wie wurde der erzielte Eindruck aus dem Arrangement 
des Materials gewonnen, rücken die hinteren Teile immer stärker die Frage ins 
Zentrum, wie ich aus den von mir verwendeten Materialien Texte erarbeite."
  1. Über Haltung und Versgrammatik
  2. Bei der Lektüre eines französischen Textes
  3. Versbau und Beliebigkeit
  4. Montieren: alte Verse vs. neue Verse

Michael Gratz

Rückblick auf die Debatte um einen Beitrag von Konstantin Ames: Grußwort zum Endebeginn des Lyrikbetriebs (2021)

  • 1. War da was
2021 gab es eine aufgeregte und wüste Debatte um einen Aufsatz von Konstantin Ames.
Aus dem zeitlichen Abstand versuche ich eine Neubesichtigung. 
War da was war was da da was war da war was was war da was da war.
  • 2. War was da
Ames‘ Thema ist institutionalisierte Elitenbildung. 
Ausgewählte Personen wählen andere nun auch ausgewählte aus. 
Offenbar gibt es eine Grundtendenz im Betrieb, die Zahlen klein zu halten. 
Wer sollte auch die Vielen alle lesen, kaufen, rezensieren und fördern?
  • 3. Da was war
Spätestens hier drängt sich mir der Gedanke auf, 
dass die fast geschlossene Abwehrhaltung der meisten 
an der „Debatte“ Beteiligten daher kam, 
dass eben zu viele sich mitgemeint fühlten. Zu Recht oder zu Unrecht.
  • 4. Da war was
Diese gewisse Fokusverschiebung soll aber im Rückblick nicht verdecken, dass hier 
nicht Personen angegriffen werden, sondern Strukturen. Wer würde sich offen 
gegen die Aufstellung klarer Regeln aussprechen? 
Prekäre Strukturen, über die es nicht weniger, sondern mehr Gesprächs bedarf. 
  • 5. Was war da
Sire, geben Sie Lyrikfreiheit!

Ames / Spyra

Ein Mailwechsel (Teil 1)

Name, Alter, Beruf und Vorerkrankungen: Literatrue in Zeiten des Wettbewerbs. Ein Mailwechsel

Karl-Heinz Borchardt

Greifswalder Universität entschied sich für Ernst Moritz Arndt. Greifswalder Denkmalstreit anno 1854

Hin und wieder sollten wir Autoren, über die wir sprechen, auch wieder lesen.

TABU

Wendetabu

Der Rumäne. Wenn man monatelang „Nieder mit dem Kommunismus“ gerufen hat, wundert man sich hier. Will nun ins Ausland gehen, weil es mit diesem Volk keinen Zweck hat.

Lesetabu 1: Spuren

Es sind Substantive, Verben, Adjektive und Adverbien, poetische Allerleiworte 
(Herbst, Wind, Geäst) sind dabei, aber auch sperrigere (Laubgardinen, Monatsraten, Tuerei, Geld).

Lesetabu 2: Ulysses

Der Roman ist, was mir beim Lesen passiert. Je mehr Abschweifen, umso mehr 
passiert. Nicht mehr wissen, sondern mehr erleben. Das ist der Plan.
Da hat der deutsche Übersetzer ein bisschen nachgeholfen. 
Mulligan beruft sich auf Swinburne, aber die Bilder der rotzgrünen See 
in der Farbe der irischen Dichter sind ganz sein eigen. 
Er ist kein verlässlicher Erzähler.
Ich mag die Parallele nicht ausreizen, nur die vage Idee, dass der Kapitelheld 
in Beziehung zu Stephen Dedalus gesetzt wird, die Gemeinsamkeit wäre der Konflikt 
mit der Mutter (die bei Homer den Freiern ausgesetzt ist / sie gewähren lässt). 
Eine Interpretation müsste dann hier ansetzen, aber im Moment brauche ich sie gar nicht.

Lesetabu Ulysses wird fortgesetzt im Januar 2021 (L&Poe Journal #03)

Editionstabu

Sibylla Schwarz-vorfassung 29-09-15.docx
ausgeschieden aus arbeitsfassung.docx
schwarz1 2.pdf
recovered new.pdf
neuste-28-01.docx
neuste-28-01 Kopie.docx
neuste-28-01 Kopie 2.docx
neuste-28-01 Kopie 3.docx

2 Comments on “L&Poe Journal 2 (2022)

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