Das Archiv der Lyriknachrichten | Seit 2001 | News that stays news
Aus aktuellem Anlass erweitere ich den Frauenchor des L&Poe Journal um ein Gedicht in englischer Sprache von einer ukrainischen Dichterin.
Iryna Wikyrtschak
„(ukrainisch Ірина Вікирчак; Transliteration Iryna Vikyrčak; * 17. Mai 1988 in Salischtschyky, Oblast Ternopil) ist eine ukrainische Schriftstellerin, Dichterin, Übersetzerin und Kulturmanagerin. (…) Einige Semester unterrichtete sie Englisch an der Universität von Czernowitz, sie unterrichtete Creative Writing und lebte in Lwiw. … Sie wirkt seit Herbst 2019 als Kulturmanagerin der „Olga-Tokarczuk-Stiftung“ in Breslau. Außerdem arbeitet sie beim Literaturhaus Breslau (Wrocławski Dom Literatury), weshalb sie inzwischen in Breslau lebt.“ (Wikipedia)
Originally Written in English You are a poet, they say, we expect you to give us answers you are a poet, they say, explain us everything with a poem a painful one, strong, render your loss and grieve over your dead with some new metaphors make the words in your language meet in the order they’ve never met before you are a poet, they say. What can I answer them, as a poet, a woman, a friend who lost their friends to the monster of war? Who has friends and friends of friends who will never return? Who left their home libraries burn with the buildings destroyed by the lethal arms so they themselves can fleet and live? Homeless, bookless, wordless, but yet alive. Who am I as a poet, not coming form the regions affected, a war victim impostor, an empath with cinematographic imagination the free verses in my head, not giving myself the right to speak on the war that is not even mine. You are a poet, they say, you come from THAT country we expect you to be giving answers to write poems, you know. How can I answer them with a poem, when anxiety cut off my voice, played on my vocal cords, ate up my words? Haven’t you read it all in the New York Times, in The Guardian and also your local press? Haven’t you used your empathy and some visuals from movies you’ve seen? Would you like me to send you a link? I am not even writing this poem in the language of victims although I should for it’s all them who are seeking the answers, for it’s not up to me to know any.
Deutsche Fassung von Gerrit Wustmann
du bist eine dichterin, sagen sie, wir erwarten dass du uns antworten gibst du bist eine dichterin, sagen sie, erkläre uns alles mit einem gedicht ein schmerzhaftes, starkes, zeichne deinen verlust und die trauer über deine toten mit neuen metaphern vereine worte in deiner sprache wie sie noch nie zuvor vereint wurden du bist eine dichterin, sagen sie was kann ich ihnen antworten, als dichterin, als frau als freundin, die ihre freunde verloren hat an das monster namens krieg? wer hat freunde und freunde von freunden die nie zurückkehren werden? wer ließ seine bücher brennend zurück die häuser zerstört von tödlichen waffen um selbst zu flüchten und zu leben? obdachlos, buchlos, wortlos, aber noch am leben. wer bin ich als dichterin, die nicht aus den betroffenen regionen kommt, eine kriegsopferdarstellerin, eine empfindende mit cinematographischer vorstellungskraft die freien verse in meinem kopf geben mir nicht das recht, zu sprechen über den krieg, der nicht meiner ist. du bist eine dichterin, sagen sie, du kommst aus DEM land wir erwarten antworten von dir, dass du gedichte schreibst, du weißt schon. wie kann ich mit einem gedicht antworten, wenn angst mir die stimme verschnürt, mit meinen stimmbändern spielt, meine wörter verschlingt? hast du es nicht alles in der new york times, im guardian, in der lokalzeitung gelesen? hast du nicht deine empathie und ein paar bilder aus filmen, die du sahst? soll ich dir einen link schicken? ich schreibe dieses gedicht nichtmal in der sprache der opfer obwohl ich sollte denn sie sind es, die antworten suchen, und ich bin es nicht, die sie kennt.
Hier einige ihrer ukrainischen Gedichte auf Deutsch.
Pingback: L&Poe Journal #02 – Lyrikzeitung & Poetry News