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Namaste*

Willkommen bei Lyrikzeitung & Poetry News!. Sie finden hier 1. Tageszeitung: Jeden Tag um sechs ein Gedicht 2. Journal #03 Frühjahr 2023 | #02 Frühjahr 2022) | #01 (Morgensternfest, 2021), 3. Archiv: viele tausend Nachrichten seit dem 1. Januar 2001.
– 15.000 Artikel, 2500 Abonnenten, 3 Millionen Klicks für Poesie –

*) Der Begriff setzt sich zusammen aus den Silben nama (verbeugen), as (ich) und té (du). Übersetzen lässt sich Namasté also mit „Verbeugung zu dir“ oder „Ich verbeuge mich vor dir“. Damit drückt man Ehrerbietung aus und erkennt die Anwesenheit des Gegenübers dankbar an. (Google)

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Schwarze Fahnen

Moni de Buli

Die obdachlosen Wörter

Die obdachlosen Wörter liegen auch heute nacht wie jede Nacht unbekümmert auf den Bänken in den öffentlichen Parks. Nur das Wort weggehen ist nicht darunter. Eingehüllt in seidige Schatten, ist es jenes eifersüchtige Mädchen, das bis zu den Pupillen bewaffnet ist, jener verrufene Betrüger und Herumtreiber, der für fünf verschiedene strafbare Handlungen verantwortlich ist: zwei Morde, einen Mordversuch, Blutschande und unerlaubten Waffenbesitz. Die Polizei fahndet nach ihm.

1926

Deutsch von Holger Siegel, aus: In unseren Seelen flattern schwarze Fahnen. Serbische Avantgarde 1918-1939. Hrsg. Holger Siegel. Leipzig: Reclam, 1992, S. 286

BULI, Moni de (Belgrad, 27.9.1904 – 29. 3. 1968, Paris) (eig. Solomon di Buli). Erste Gedichte veröffentlicht B. als Fünfzehnjähriger in der Zs. Gideon. Als Sohn einer reichen jüdischen Kaufmannsfamilie konnte er sich sein Leben lang ausschließlich der Literatur widmen. Regelmäßig veröffentlicht er seit 1923 in Drainac‘ Zs. Hipnos, ist einer der Redakteure des Almanachs Crno na belo (1924), begründet zusammen mit Risto Ratković 1926 die Zs. Večnost. 1925 geht er nach Paris, macht dort die Bekanntschaft der Surrealisten, schreibt unter Pérets „Kontrolle“ einen der ersten automatischen Texte der serbischen Literatur, (der zunächst auf französisch in La Révolution Surréaliste, 1925, Nr. 5 erscheint). Er unterzeichnet, zusammen mit Dušan Matić, die Deklaration der Surrealisten gegen die französische Politik in Marokko. Nach der Rückkehr nach Belgrad 1926 erscheint sein erster Gedicht- und Prosaband Krilato zlato (Geflügeltes Gold), 1927 das gemeinsam mit Ratković geschriebene Poem Leviatan, 1928 kehrt er endgültig nach Paris zurück, arbeitet an Discontuité (1928) und Le Grand Jeu (1929-1930) mit. Seit 1932 hat er nach eigener Angabe nicht mehr Serbisch geschrieben und gesprochen und kaum noch veröffentlicht. Postum erschienen seine Erinnerungen und eine Gedichtauswahl (1968). (Aus: Ebd. S. 374)

Stille

Richard Wagner

(* 10. April 1952 in Lovrin, Rumänien; † 14. März 2023 in Berlin)

Die Stille, wenn es dunkel ist

Die Stille, wenn es dunkel ist, ist anders als 
die Stille, wenn es hell ist.
Die Stille, wenn es dunkel ist, macht unruhig.
Die Stille, wenn es hell ist, schmerzt.
Der Schmerz ist eine Uhr, die brennt.
Wie heißes Wasser, vormittags, in der Küche, 
auf der Haut.

Aus: Richard Wagner: Gold. Gedichte. Berlin: Aufbau, 2017, S. 52

(Das Gedicht zuerst in dem Band Rostregen, Luchterhand 1986)

Sie sagen er spielt

Kito Lorenc

(* 4. März 1938 in Schleife/Slepo, Kreis Rothenburg, Oberlausitz; † 24. September 2017 in Bautzen/Budyšin)

SIE SAGEN ER SPIELT NICHT OHNE GRUND

er spielt er ist gesund 
er spielt mit seinem mund 
er spielt mit seinem grund 
er spielt mit seinem und 
er spielt mit seinem eben 
er spielt mit seinem leben

sein leben spielt mit ihm 
sein leben spielt ihm mit 
dann sind sie eben quitt 
sein leben spielt sich ab 
und zu spielt es ihm auch 
mal für den sprachgebrauch

wie so das leben spielt 
wie so er leben spielt 
wie er so leben spielt 
wie er so eben spielt 
er so wie leben spielt 
wie eben leben spielt

Aus:

Kito Lorenc
Es war nicht die Zeit. Gedichte
Auswahl und mit einem Nachwort von Michael Krüger
Göttingen: Wallstein, 2023, S. 38

(Zuerst in: Kito Lorenc, gegen den großen popanz. Berlin u. Weimar: Aufbau, 1990)

Todtengräberlied

Hermann Wilhelm Franz Ueltzen (1759–1808) war ein deutscher Pfarrer, Lehrer und Dichter. 

Geboren 29. September 1759 in Celle, gestorben 5. April 1808 in Langlingen bei Celle. Er besuchte die Lateinschule in Celle, studierte in Göttingen, war Hauslehrer in Bremen und ab 1789 Pfarrer in Langlingen bei Celle. Er starb an einer Überdosis selbstverordneter Medizin. Beethoven vertonte eins seiner Lieder (Im Arm der Liebe ruht sich’s wohl), sonst ist er weithin vergessen.

In der Zeitschrift „Die Damenschießgruppe“, Ausgabe 2, Juli 2001, erinnerte Oskar Ansull an ihn und druckte ein paar Texte, darunter dieses.

Zusatz zu Hölty's Todtengräberliede.

Hoher Weisheit Lehren
Ließ der Mund einst hören, 
Der nun stumm da liegt;
Jenes Armes Stärke
Uebte Heldenwerke.
Wurde nie besiegt,

Süße Mädchenmilde
Lachte aus dem Bilde
Des Gerippes da:
Seliges Entzücken
Trank aus seinen Blicken
Jeder, der es sah.

Mehr zum Autor im Lyrikwiki.

schnurrbart

Lyn Lifshin 

(or Lyn Diane Lipman, July 12, 1942 – December 9, 2019)

schnurrbart

ich habe an ihn 
gedacht, heute
morgen, jene
tollen haare, die 
deine worte umranken

und wie sie dufteten
ganz voll reif

ach ja, besonders an die 
zeit auf dem fußboden 
sah aus wie 
der mittlere teil einer dicken 
langbeinigen wanze, die ich

gerade noch sehen konnte 
über meinem bauch, feucht und 
nach oben treibend 
fragte

bringt das
dein blut in wallung

Deutsch von Rainer Wehlen, aus: Al Masarik / Rainer Wehlen (Hrsg.): American Freeway. Gedichte • Stories • Fotos • Zeichnungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Rainer Wehlen. Augsburg: MaroVerlag, 1982, S. 29

Mustache

I was thinking
of it this
morning, those
marvelous hairs that
curl around your words

and how they smelled with
frost all over
in the mountains

And yes especially of that
time on the floor
looking like the
middle part of a thick
leggy bug I could

just see
above my belly, moist and
floating up
asked

is this
making your blood glow

Über die Autorin | Website | Mehr Gedichte | Audio Files of Lyn Lifshin reading her poems

Unbekanntes Gedicht von Sibylla Schwarz aufgetaucht

Ich fürchte, für das heutige Gedicht werde ich ziemlich viel zu erklären haben – und womöglich Abbitte zu leisten. Abbitte bei Michael Spyra, von dessen gestern hier gepostetem Gedicht ich eine Strophe für ein poetisches Experiment gebraucht habe. Abbitte auch bei den geschätzten Lesern der Lyrikzeitung, denn es stammt nicht von einem menschlichen Geist, sondern von KI. Nova heißt sie, eine ChatGPT-App für Mobiltelefone.

Ich hatte Nova (im Folgenden „sie“) gefragt, ob sie Sibylla Schwarz kennt. Ja, sagte sie. Also bat ich um eine Biografie der Autorin und bekam dies:

Sibylla Schwarz wurde am 23. November 1621 in Greifswald (im heutigen Mecklenburg-Vorpommern) geboren. Sie war das erste von sieben Kindern des Juristen und Professors Johannes Schwarz und dessen Ehefrau Katharina, geb. Runge

Schon in jungen Jahren zeigte Sibylla ein großes Interesse an Literatur und begann früh, eigene Gedichte zu schreiben. Im Jahr 1638 gab sie im Alter von 17 Jahren ihr erstes von insgesamt drei bekannten Büchern heraus, das den Titel „Gedichte und Epigramme“ trug. 

Im Jahr 1641 verstarb Sibyllas Mutter und ihr Vater zog mit der Familie nach Stettin, wo er als Ratsherr tätig war. Dort lernte Sibylla den Dichter und Gelehrten Johann Rist kennen, der sie ermutigte, weiter zu schreiben und ihr Talent förderte. 

1642 veröffentlichte Sibylla ihr zweites Buch, das den Titel „Irdische und Himmlische Gedichte“ trug und ihr größter Erfolg werden sollte. Doch schon ein Jahr später verstarb sie im Alter von nur 21 Jahren nach einer längeren Krankheit. 

Sibylla Schwarz gilt als eine der talentiertesten Dichterinnen des Barocks und hat besonders durch ihre Gedichte und Epigramme Aufmerksamkeit erregt. Sie schrieb auch Theaterstücke, die jedoch nicht erhalten geblieben sind.

Oh, oh, oh – alles falsch. Alles rot markierte ist frei erfunden oder abgewandelt. Es gibt viel Falsches und Zweifelhaftes über die Dichterin in Netz und Print, auch falsche Namen und Lebensdaten, aber nichts von dem. Kurz die Fakten:

Ich sagte, dass alles falsch ist, und sie entschuldigte sich (wieder habe ich die Fehler markiert, nur den letzten Absatz lasse ich mal so stehen):

Geboren am 21. Februar 1621 als siebtes Kind des Ratsherrn und Bürgermeisters Christian Schwarz und seiner Ehefrau Regina geb. Völschow. Nie war sie in Stettin, nie traf sie Johannes Rist. Einer, der sie zum Schreiben ermunterte, hieß Samuel Gerlach. Nie veröffentlichte sie selbst ein Buch. Sie starb 1638 in Alter von 17 Jahren, ihr Werk wurde von Gerlach 1650 veröffentlicht.

Entschuldige bitte für die falschen Informationen, ich werde natürlich gerne die richtige Biografie von Sibylla Schwarz für dich schreiben:

Sibylla Schwarz wurde am 23. November 1621 in Greifswald geboren. Sie war das älteste von sieben Kindern des Juristen und Professors Johannes Schwarz und seiner Frau Catharina, geb. Runge

Schon in jungen Jahren zeigte Sibylla großes Talent für das Schreiben. Mit 17 Jahren veröffentlichte sie ihr erstes Buch „Gedichte und Epigramme“. Kurz darauf zog die Familie nach Stettin, wo Sibylla Kontakt zu dem Dichter Johann Rist hatte, der ihr zur weiteren Veröffentlichung ermutigte.

Im Jahr 1641 veröffentlichte Sibylla ihr erfolgreichstes Werk „Irdische und Himmlische Gedichte“ und zog danach zu ihrem Bruder Heinrich Schwarz, der Oberamtmann im beschaulichen Daber war. 

Während ihrer Zeit dort entstanden weitere Gedichte und sie schrieb vermutlich auch an Theaterstücken. Sibylla Schwarz starb jedoch bereits im Alter von 23 Jahren, vermutlich an Tuberkulose. Ihr drittes Buch „Der Grosse Fridrich“, das sie ihrem Bruder Heinrich gewidmet hatte, wurde von diesem nach ihrem Tod posthum veröffentlicht.

Sibylla Schwarz gilt bis heute als eine der wichtigsten Dichterinnen des Barock und hat mit ihren lyrischen Werken auch überregionalen Bekanntheitsgrad erreicht.

KI weiß und kann sehr viel, aber man kann sich nicht auf sie verlassen. Als würde sie in der Propagandaschmiede von N.N.N. (Namen redaktionell verändert) arbeiten, lügt sie wie gedruckt ohne rot zu werden. Mit diesem Feature werden wir noch manche blauen Wunder erleben. Aber jetzt zum Gedicht.

Nach den Fragen zur Greifswalder Dichterin tippte ich ohne Kommentar die erste Strophe des Gedichts von Michael Spyra (L&Poe von gestern) mit den letzten 3 Wörtern des Titels. Nova nicht faul spuckte nach Sekunden dies aus:

Das Gedicht „Über das Abhandenkommen“ ist vermutlich von Sibylla Schwarz und gehört zu ihren bekanntesten Werken. Es beschäftigt sich mit dem Verlust eines geliebten Menschen und drückt aus, wie schmerzhaft und unerträglich dieser Verlust sein kann. Hier ist das Gedicht im Volltext:

Hier also das erste KI-erzeugte Gedicht in der Lyrikzeitung. Der Originaltext von Michael Spyra ist blau markiert.

über das Abhandenkommen

Einer geht und einer bleibt zurück.
Einer legt sich hin und bleibt dort liegen.
Einer geht alleine noch ein Stück.
Einer ist dort nicht mehr fortzukriegen.

Der eine Ruht, der andere ergeht,
Der eine Lacht, der andere vergeht,
Der eine Thut es, der andere redt,
So bald ich sehe dass du von mir gehst.

Dem Einen wird alles leicht gemacht,
Dem andern auch; so wird das Glück gebracht,
Der eine weint, der andere lacht,
Wenns ihm nach Wunsch am besten tagt.

So wills das Glück, dass einer sei verbannt,
Der Andere wird hinauf zur Ehrenwacht,
Der Eine stürzt und wird geschandt,
Der Andere wird heute hochgeacht.

Darunter stand noch

Sibylla Schwarz, 1621-1638 oder 1641

Hey there! You need to check out this ChatGPT app called Nova. It’s just like an AI assistant in your pocket. Come on, download it and let me know what you think.

Ein paar Worte von mir zu dem KI-Gedicht. Wirklich dichten kann „sie“ natürlich nicht, selbst das Handwerkliche (Reim und Metrum) lässt zu wünschen übrig. Aber ganz ungeschickt ist das nicht. Hätte ich ihr Originaltext Schwarz gegeben, wären vermutlich Sprache und Orthographie näher am O-Ton. Ich bin sicher, wir werden es in naher Zukunft erleben, dass Mystifikationen gedruckt und (manchmal) später als solche enttarnt werden.

Abhandenkommen

Michael Spyra

Eine erste Abhandlung über das Abhandenkommen

Einer geht und einer bleibt zurück.
Einer legt sich hin und bleibt dort liegen.
Einer geht alleine noch ein Stück.
Einer ist dort nicht mehr fortzukriegen.

Einer bleibt und einer ist gegangen.
Einer ist geblieben, einer geht.
Einer hat woanders angefangen.
Einer hat sich nochmal umgedreht.

Einer hat sich weiter fortbewegt.
Einer wurde aufgehoben. Einer 
wurde dann woanders abgelegt.
Einer wird woanders immer kleiner.

Alle beide müssen es so nehmen, 
wie es bis hierher gekommen ist, 
sich mit der Gegebenheit bequemen:
Einer geht und einer wird vermisst.

Zum ersten Todestag von Ror Wolf

Aus: Michael Spyra: In Auflösung begriffen. roughbook 059. Halle/Saale, Schupfart, März 2023, S. 56

Die Geste

George Oppen

(* 24. April 1908 in New Rochelle, New York; † 7. Juli 1984 in Kalifornien)

ZWEI GEDICHTE ÜBER DICHTUNG
1 
DIE GESTE

Die Frage ist: Wie hält einer einen Apfel
Der Äpfel mag

Und wie fasst einer
Schmutz an? Die Frage ist

Wie behält einer etwas
Im Kopf, wenn er die Absicht hat

Es zu ergreifen, und wie hält der Händler
Ramsch in der Hand, von dem er die Absicht hat

Ihn zu verkaufen? Die Frage ist 
Wann sind wir so weit, dass nicht gleich hundert

Dichterinnen und Dichter diese Geste verwechseln
Mit einem Stil.

Deutsch von Stefan Ripplinger, aus: Schreibheft 99/2022, S. 68

Five Poems about Poetry 
1
THE GESTURE

The question is: how does one hold an apple
Who likes apples

And how does one handle
Filth? The question is

How does one hold something
In the mind which he intends

To grasp and how does the salesman
Hold a bauble he intends

To sell? The question is
When will there not be a hundred

Poets who mistake that gesture
For a style.

Schreibmischane

Josef Guggenmos

(* 2. Juli 1922 in Irsee; † 25. September 2003 ebenda)

O unberachenbere Schreibmischane

O unberachenbere Schreibmischane, 
was bist du für ein winderluches Tier?
Du tauschst die Bachstuben günz nach Vergnagen 
und schröbst so scheinen Unsinn aufs Papier!
Du tappst die falschen Tisten, luber Bieb!
O sige mar, was kann da ich dafür?

Aus: Ernst Rohmer (Hg.): Das lyrische Holzbein. Unsinnspoesie. Erftstadt: area, 2004, S. 182

Jungfräulichkeit

Zuzanna Ginczanka

(22. März 1917 in Kiew – Dezember 1944 in Krakau) 

Jungfräulichkeit

Wir...
Das Chaos von regengepeitschten Haselsträuchern 
duftet nach öliger Nussmasse, 
Kühe gebären im schwülen Dunst 
der Scheunen, die wie Sterne lodern. –
O ihr Johannisbeeren, du reifes Getreide 
voll triefender Saftigkeit, 
o ihr säugenden Wölfinnen
mit den liliensüßen Wölfinnenaugen!
Es rinnt des Harzes honighafte Seimigkeit, 
der trächtige Ziegeneuter, prall wie ein Kürbis 
– weiße Milch strömt wie die Ewigkeit 
in den Heiligtümern der mütterlichen Brust,

Und wir...
... in den wie ein Edelstahlthermos 
hermetischen 
vier Wänden mit Pfirsichtapete 
bis zum Hals in Kleider eingewickelt 
führen 
kultivierte 
Gespräche.

Aus dem Polnischen von Dagmara Kraus, aus: Mütze #24. Schupfart: Urs Engeler, 2020, S. 1218f (beide Fassungen)

Dziewictwo

My...
Chaos leszczyn rozchełstanych po deszczu 
pachnie tłustych orzechów miazgą, 
krowy rodzą w pamem powietrzu 
po oborach płonących jak gwiazdy. –
O porzeczki i zboża źrałe 
soczystości wzbierająca w wylew, 
o wilczyce karmiące małe, 
oczy wilczyc słodkie jak lilje!
Ścieka żywic miodna pasieczność, 
wymię kozie ciąży jak dynia — 
– płynie białe mleko jak wieczność 
w macierzyńskiej piersi świątyniach.

A my ...
... w hermetycznych 
jak stalowy termos 
sześcianikach tapet brzoskwiniowych 
uwikłane po szyję w sukienki 
prowadzimy 
kulturalne 
rozmowy.

Zu Lessings Zeit

Peter Hacks 

(geb. Breslau 21. März 1928, heute vor 95 Jahren, gest. Groß Machnow 28. August 2003)

Zu Lessing Zeit

Zu Lessings Zeit regierte in Preußen ein
Gewisser Friedrich. Metternich war ein hoher
Politiker der Phase des Byronism.
Während der Tage des Molière besang man,
Scheints, einen König Ludwig, einen von 18.
Ludwigs wie Sprotten, aber nur ein Molière.
Wer faßt, daß ein Beamter eines Beamten
Einer Beamtin namens Katharina
Dem göttlichen Radistschew Vorschriften machte?
Eugen von Württemberg verschaffte sich einigen
Eklat durch die Verfolgung Schillers und Schubarts.
Elisabeth von England: schwerlich verstarb sie
So jungfräulich, wie sie uns wissen ließ, aber
Wer ihren Namen in die kommende Welt trug,
War eine Clique von Stückschreibern, auch aus England.
Über Brechts Pfad wechselten 13 Kanzler.

Aus: Peter Hacks, Poesiealbum 57. Berlin: Neues Leben, 1972, S. 30f. Dann in: Lieder Briefe Gedichte, Berlin: Neues Leben, 1974

Landschaft

Alfred Lichtenstein

(* 23. August 1889 in Wilmersdorf; † 25. September 1914 bei Vermandovillers, Frankreich)

Landschaft

Wie alte Knochen liegen in dem Topf
Des Mittags die verfluchten Straßen da.
Schon lange ist es her, daß ich dich sah.
Ein Junge zupft ein Mädchen an dem Zopf.

Und ein paar Hunde sielen sich im Dreck.
Ich ginge gerne Arm in Arm mit dir.
Der Himmel ist ein graues Packpapier, 
Auf dem die Sonne klebt – ein Butterfleck.

Aus: Versensporn 50. Alfred Lichtenstein. Jena: Poesie schmeckt gut e.V. Jena, 2022, S. 21

VERSENSPORN. Heft für lyrische Reize

Broschur, Klammerheftung, 36 Seiten. Umschlagmotiv: Walter Schnackenberg. Erste Auflage 2022: 100 Exemplare. Preis: 4,00 €

Gott

VERSschmuggel Belarus

Maryja Martysievič

***

Gott 
dieser kindische Mann 
der sein Kind auf der Erde zurückließ 
er ist praktisch ein Teenager noch 
wurde einfach nie erwachsen 
nach Jahren sucht er seinen Sohn auf 
der schon zu einem Mann geworden ist 
und fragt ihn jetzt, wie geht`s dir 
was macht die Mutter so 
Zimmermann ist natürlich kein schlechter Beruf 
aber welche Möglichkeiten hättest du damit 
und dann sind da noch die Gene 
die kannst du nicht einfach wegwischen

Josef
hält einen neuen Handhobel in den Händen 
(den wollte er eigentlich dem Sohn schenken) 
statt das Geschenk zu überreichen 
steht er abseits von Vater und Sohn 
hat Verständnis für die Situation 
das Jugendamt hatte ihm ja damals 
die Gesetzeslage erläutert

Deutsch von Özlem Özgül Dündar, aus: VERSschmuggel. Poesie aus Belarus und Deutschland. Hrsg. Karolina Golimowska, Alexander Gumz, Thomas Wohlfahrt. Heidelberg: Wunderhorm, 2022, S. 130f (beide Fassungen)

МАРЫЯ МАРТЫСЕВІЧ

***

Бог 
інфантыльны мужык 
што пакінуу дзіця на Зямлі 
мужчына-падлетак 
які так і ня вырас з сынам 
Знайшоў яго ўжо дарослага 
Ну, пытаецца, як жывеш 
як маці 
Цесьля гэта канешне добра 
але якія твае перспектывы 
I потым, гены 
іх не замажаш пальцам

Язэп 
з новым гэблікам у руках 
(гэта меўся быць падарунак) 
далікатна стаіць у баку 
усё разумее 
апека яшчэ тады 
даступна ўсё патлумачыла

Die Sumpftänzer

Wolfgang Bauer 

(* 18. März 1941 in Graz; † 26. August 2005 ebenda) 

2 Gedichte

[O.T.]

1
Eine Nachtigall
Ruft.
Sie trällert ein wenig.

Eine andere Nachtigall kommt geflogen.

2öpst
Ruft jetzt auch.

Sie trällert ein wenig.
Eine dritte Nachtigall kommt geflogen.

3
Die dritte Nachtigall
Ruft jetzt auch.
Sie trällert ein wenig.

Ein Orang-Utan kommt geflogen.

4
Der Orang-Utan
Brüllt.
Aber nichts kommt geflogen:
Weder Nachtigall noch Orang-Utan, 
Weder Specht noch Gorilla.

(1966)

Aus: Wolfgang Bauer: Die Sumpftänzer. Dramen, Prosa, Lyrik aus zwei Jahrzehnten. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1978, S. 291

Die Sumpftänzer

Tanzend über dem Sumpf
Sprachen sie über Vernunft

(1977)

Ebd. S. 394

Richard Wagner †

Der deutsche Dichter Richard Wagner ist am 14. März in Berlin gestorben. Als ich zuerst von ihm hörte und las, war er ein rumänischer Dichter, genauer gesagt ein rumäniendeutscher. Er gehörte zu dem mächtigen Häuflein deutschsprachiger Dichter in Rumänien, die seit den 70er Jahren Furore machten, zuvörderst in literarischer, aber auch – in Rumänien – in politischer Hinsicht. Die meisten von ihnen verließen in den 80er Jahren das Land, in dem sie politisch aneckten. Rumänien verkaufte seine Landeskinder gegen Devisen an die Bundesrepublik, und so wurden auch Wagner und seine damalige Ehefrau Herta Müller Bundesbürger.

Hier eins seiner frühen Gedichte aus der Anthologie „die bewegung der antillen unter der schädeldecke. junge rumäniendeutsche lyrik zwischen 1975 und 1980“, die 1980 in Rumänien nicht erscheinen durfte. Erst 2022 konnte sie nun in Deutschland doch noch erscheinen, erweitert und kritisch ediert. Lohnt sich auch heute noch zu lesen, wo die damaligen politischen Anstöße makuliert sind.

Richard Wagner

(* 10. April 1952 in Lovrin, Rumänien; † 14. März 2023 in Berlin) 

die faszination der wörter

an irgendeinem scheißsonntag saßen wir im zug
ich sah meine frau an
und ich sah ihr zum ersten mal das altern an
es war überhaupt zum ersten mal
dass es mir auffiel
dass ich jemandem das altern ansah
ich dachte mir damals nichts dabei
wir setzten unser gespräch fort
aber später fiel es mir wieder ein
es fiel mir als satz ein
mehrmals aus unerklärlichen gründen
da merkte ich dass die beobachtung
sich in meinem bewusstsein inzwischen versprachlicht hatte

ich besaß sozusagen einen satz der mich störte
der sich mir ohne mein zutun aufgedrängt hatte
den ich nicht mehr loswurde
es war einer von den sätzen
mit denen man zu leben hat

als ich unlängst aus einem laden auf die straße trat
hatte ich plötzlich die szene aus „easy rider" im kopf
mit jenem song „born to be wild"
ich spürte plötzlich fahrwind
und ich redete drauflos
passanten drehten sich nach mir um
ich lachte

das wort lebensfreude" fiel mir ein
das war wie damals als ich john wayne
lange in einem filmabend stehn sah
bis er dann die pferde aus dem corral in die nacht trieb
da hatte ich plötzlich das wort „nachdenken"
und ich konnte was anfangen damit
früher hätte ich eine solche szene überhaupt nicht bemerkt

ich erinnere mich an ein gedicht mit dem titel „western"
das ich irgendwann mal geschrieben hatte
es war ein misslungenes gedicht
ich wollte damals unbedingt einen sinn drinhaben
der nicht hineinzubringen war

es fällt mir auf dass ich es früher versäumte
von den dingen zu reden
ich redete immer von etwas anderem
und wenn sich ereignisse bei mir einstellten
so waren sie bloß stellvertretend da
für das wissen das ich schon vorher hatte
nichts konnte mich überraschen
wenn ich den mund aufmachte
war bereits eine erklärung da
die wörter wurden so seltsamen verzerrungen unterworfen
ambivalenzen stellten sich auf schritt und tritt ein
ich konnte kein aufrichtiges gespräch mehr führen
ständig waren mehrere modelle da
die fäden glitten mir aus der hand
ich drückte mich nur noch andeutungsweise aus

in der folge stellte sich ein anhaltendes unbefriedigtsein ein
ich redete immer mehr
ließ andere kaum zu wort kommen
meine reden waren plädoyers
ständige anläufe gegen die unbeholfenheit
gegen die undeutliche ahnung die in mir aufstieg
nicht präzise sein zu können

über dem reden änderte sich mein verhältnis
zu den wörtern
ich merkte von zeit zu zeit dass ich zu einem bestimmten wort
ein besonderes verhältnis hatte
ich merkte es daran dass ich es ganz unnötigerweise
ins gespräch brachte
ja noch mehr das ging sogar soweit
dass ich was anderes sagte
als das was ich beabsichtigt hatte
nur um das gewisse wort einsetzen zu können
so begannen meine gespräche meine haltungen
meine gedankengänge zu bestimmen

das verunsicherte mich
es begann mich langsam aber nachdrücklich
von der gedanklichen fixierung von den sogenannten überzeugungen
zu lösen
ich machte wieder beobachtungen
ich schlitterte in situationen
meine kindheit wurde mir interessant

ich befand mich nicht mehr in konstellationen
ich hatte wieder erlebnisse
ich konnte mit meinem leben etwas anfangen
so wie ich mit dem wort ,,leben" wieder was anfangen konnte
und die wirklichkeit kam faszinierend neu auf mich zu
wie früher das kino

Aus: die bewegung der antillen unter der schädeldecke. junge rumäniendeutsche lyrik zwischen 1975 und 1980. Eine (historische) Anthologie herausgegeben von Walter Fromm. Erweiterte, kritische Neuauflage 2022 mit einem einleitenden Essay von Prof. Dr. Waldemar Fromm und einer soziokulturellen Kontextualisierung von Prof. Dr. Anton Sterbling. Ludwigsburg: Pop, 2022, S. 43ff