Heftige Sehnsucht

Der japanische Dichter Fujiwara no Atsutada (906-943) gilt als einer der „36 unsterblichen Dichter“ Japans. Heute vor 1081 Jahren ist er gestorben. Eines seiner (zumindest in Deutschland) bekanntesten Gedichte ist in mehreren Anthologien japanischer Lyrik als einziges von ihm vertreten. Die Unterschiede sind so groß, dass man Mühe hat, sie für ein und dasselbe Gedicht zu halten. Ja, in der Sammlung „Japanischer Frühling“ von Hans Bethge (1911) sind zwei seiner Gedichte vertreten. Bei näherer Betrachtung komme ich zu dem Schluss, dass er zwei Versionen desselben Gedichts „nachgedichtet“ hat. Er übersetzte wahrscheinlich nicht aus dem Japanischen, sondern benutzte vorhandene deutsche Fassungen (er nennt Florenz, Enderling, Hauser, Kurth und Lange, die er „verwertet“ habe). Dabei hat er offenbar nicht bemerkt, dass es nur verschiedene Interpretationen desselben Textes sind.

Ich beginne mit einer neueren Ausgabe von 2009, die mit Originaltext und Kommentar ausgestattet ist. Danach die 2 Versionen von Bethge und eine von Manfred Hausmann (1951/1960).

Aimite no / nochi no kokoro ni / kurabureba / mukashi wa mono mo / omowazarikeri

Wenn ich mein Herz 
nachdem wir uns vereint
mit früher vergleiche
wie seicht waren doch alle
meine Liebesgedanken

Aus: Gäbe es keine Kirschblüten … Tanka aus 1300 Jahren. Japanisch/Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Yukitsuna Sasaki, Eduard Klopfenstein und Masami Ono-Feller. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2009, S. 61. (Mehr über die Anthologie im Lyrikwiki). Kommentar:

Entstehungszeit: 1. Hälfte des 10. Jahrhunderts. Gedichte mit ähnlicher Aussage gibt es viele, aber dieses ist wohl das berühmteste. Es wurde auch ins Hyakunin isshu aufgenommen.

Die Interpretationen weichen leicht voneinander ab. Die einen fassen den Hauptgedanken so: Verglichen mit früher ist mein Liebeskummer noch viel größer. Die andern so: Verglichen mit früher weiß ich erst jetzt, was wahre Liebe ist.

SEITDEM ICH DICH LIEBE

Seitdem ich dich liebe,
Vergleiche ich meine Gefühle
Und meine kühnen Gedanken
Mit jenen, die ich früher hegte.

Und ich erkenne,
Daß ich früher
Ganz gedankenlos
Und, ach, ganz fühllos war.

Hans Bethge: Japanischer Frühling. Nachdichtungen japanischer Lyrik. Leipzig: Insel, 1911, S. 63

GESTEIGERTE SEHNSUCHT

Sehr groß war meine Sehnsucht, eh ich zur
Geliebten kam. Doch jetzt, da ich bei ihr
Glückselige Zeit verbringen durfte, bin ich
Wohl ganz beschwichtigt und gestillt? O nein!
Viel mächtiger ist meine Sehnsucht nun,
Viel ungebändigter als je zuvor!

Ebd. S. 64

Was denkt meine Seele nun, 
da ich eine Nacht lang
bei der Geliebten war?
Noch nie hab ich mich so gesehnt,
denkt sie, wie jetzt. Noch nie.

Aus: Liebe, Tod und Vollmondnächte. Japanische Gedichte. Übertr. v. Manfred Hausmann. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1.-4. Tsd. 1951 – 46.-55. Tsd. 1960, S. 16

2 Comments on “Heftige Sehnsucht

  1. Die Klangfolge „mono-wo omohu“ (wörtlich: „Dinge denken“), wird oft angewendet. Schwerfällige Gedanken, grübeln; dabei klingt das Wort für „schwer“ (anderes Schriftzeichen, aber homophon) in jedem Fall mit.

    Elfmal der Klang „o“! Was so fröhlich anfing „ahi-mite“ „sich begenen und sich sehen“ endet in einem langen „o“.

    Das Ende schließt mit einer Negation ab „omowazarai-keri“ (omo-ha-zari-keri“= denken/fühlen ist es nicht + Suffix „-keri“, das die Gefühle ausklingen lässt. Die beiden Gedichthälften werden sehr schön getrennt durch „-ba“, „ DA ich jetzt vergleiche was ich fühle, mit dem was ich früher fühlte, dann muss ich sagen…“. Aber dann trennt „DA“ nicht, daher versuchsweise: „wäge ich es ab

    Unser Stelldichein / danach was ich so fühlte / wäge ich es ab

    Ach damals was ich fühlte / tiefes Fühlen war es nicht!

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  2. Eine Rezitation dieses Gedicht finden Sie hier: https://archive.org/details/43-titelnummer-43

    Am Neujahrstag wird in Japan das sogenannte uta-karuta gespielt („Gedicht-Karten“, „karuta“ = Leihwort aus dem Portugiesischen). Das genannte Gedicht ist Nummer 43. Ein Rezitator spricht laut den Oberstollen eines der 100 Tankas (7-5-7 Silben), wartet kurz, dann ruft er zweimal den Unterstollen (7-7 Silben). Der Spaß an dem Spiel ist, die Karte mit der Fortsetzung des Gedichts schnell zu finden, bevor der Rezitator das zweite Mal den Unterstollen ausruft.

    Geübte Spieler finden die passenden „Hälfte“, also den Unterstollen, unter den auf dem Boden ausgebreiteten Karten, noch bevor der Unterstollen ausgerufen wird! Ich habe es einmal mitspielen dürfen, und man hat mich dabei einmal den Unterstollen finden lassen, aus Höflichkeit!

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