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L&Poe Journal #02 Essay
Essay von Bertram Reinecke (Erste Folge)
Über Haltung und Versgrammatik
Wer Verse aus unveränderten fremden Versen zusammensetzt, so wie ich das tue, erhält leicht Lob für die artifizielle Höhe seiner Werke. Dies ist jedoch oft ein Ja-aber-Lob und kommt mir eher wie ein vergiftetes Kompliment vor. Etwa wie bis vor wenigen Jahren nach jedem Open Mike die Texte der Preisträger für ihre Kunstfertigkeit gelobt wurden, um sie dann sofort im Ganzen zu verwerfen: Die Jugend habe nichts zu erzählen.
Was mir schon bei Prosa nicht recht einsichtig ist, die Unterstellung, es stünde ein ungestaltes Etwas, das Eigentliche der Kunst, einer schriftstellerischen Technik gegenüber, die wie ein Filter dieses Eigentliche verdünne, wird in Bezug auf ein Sprachkunstwerk, wie es das Gedicht ist, noch schiefer. Zwar beschwören feinsinnige Interpretationen auch immer wieder, dass Form und Inhalt, zumindest im fraglichen, jeweils hochstehenden Werk, eine Einheit bildeten, doch dieser Gedanke bestreitet eher das Selbstverständliche dieser Tatsache, indem er fraglos impliziert, in einem anderen, weniger gelungenen Werk, könnten sie ebensogut auseinandertreten. Natürlich kann man oft sofort sagen: Dieser Text benutzt inadäquate Mittel, ist zu feierlich, zu förmlich oder zu lax etc. Dies alles ist aber eine rein informelle Redeweise. Will man einen solchen Fall genauer beschreiben, kann man ebensogut sagen: Moniert ein Kritiker in dieser Weise etwas als schlecht gesagt, scheint ihm meist eigentlich eher der mitgeteilte Inhalt falsch, widersprüchlich oder dunkel. In der Regel ersetzt er insgeheim das, was gesagt ist, gegen etwas, was man hier so ähnlich hätte vielleicht sagen sollen, und rügt das Auseinandertreten von Form und Inhalt in Bezug auf diese neu erfundene Aussage.[1] Er deutet einen empfundenen Mangel des Inhalts zu einem Mangel der Form. Es gilt heute ja fast als etwas unanständig, Gedichte nach ihrem Aussagegehalt zu bewerten. Deswegen wählt man oft intuitiv diesen Umweg über den Zugriff auf die Form, die dann als eine nicht mehr zeitgemäße, banale, unverbindliche etc. gedacht wird,.
Wie jeder weiß bedeutet das nicht, dass man deshalb gern über Grammatik und Syntax redet. So wie eben angedeutet, bleibt dies meist nur das Scheinthema, Regeln der Sprache, Regeln der Dichtung (es gibt sie, aber sie sind implizit, sobald sie formuliert werden können, fangen sie an fraglich zu werden) sind ein Thema, vor dem man generell zurückschreckt. Allzu schnell setzt man sich unter Verdacht, selbst beschränkt oder unfrei zu sein. Um der Gefahr zu entgehen, dass der eigene Stil sich lediglich als ein Set mehr oder weniger arbiträrer Gewohnheiten erweist, das als Masche verdächtigbar wäre, übt man sich gern in Intransparenz und redet statt über Regularitäten lieber über esoterische Obertöne, die ein feines Ohr erfordern, als über den Stoff und die Fäden, aus denen die Poesie in Wirklichkeit hergestellt sind. Diese müssten hingegen Masche für Masche reproduzierbar, also sehr einfach sein.
Wenn sie jedoch einfach sind, wie wäre denn die oben unterstellte Umdeutung überhaupt möglich: Sähe man, wenn es so wäre, nicht z.B. die klare grammatische Form und wäre sich einig?
„Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ sagt einer, das gilt im Großen und Ganzen (des inneren Lexikons sozusagen) aber auch im Kleinen. Besonders interessant wird es da, wo allgemein gängige Worte auf ein Netz von zahlreichen syntaktischen und grammatischen Regeln treffen, die ineinander aber auch mit weiteren Formregeln zusammenarbeiten.
Deswegen kommt es mir nicht nur schief vor, Inhalt und Form zu trennen, sondern ebenso schief, grammatische Regeln getrennt von metrischen, syntaktischen oder topologischen zu diskutieren. Und man verzeihe mir auch, dass ich, bevor ich zu aktuelleren Beispielen aus der eigenen Werkstatt komme, hier zunächst manchem vielleicht etwas bieder erscheinende Klassikerphilologie betreibe. Wenn ich dabei Texte auch teils weitgehend interpretiere wie ein Deutschlehrer, dann natürlich nicht, weil es mir um die Botschaften der Texte besonders zu tun wäre, sondern weil ich zeigen möchte, wie die Bewertung einzelner Formmittel kein Glasperlenspiel ist, sondern unmittelbar durchschlägt auf den Horizont dessen, was wir „verstehen“.
„Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen / und einen Herbst zu reifem Gesange mir / daß williger mein Herz vom süßen …“ beginnt Hölderlins An die Parzen. Der deutsche Satzbau, das metrische Schema und ein Set von Inversionsregeln schaffen hier eine Unbestimmtheitsstelle, die sich nicht „nah am Text“ auflösen lässt. Grammatisch ist jedenfalls nicht klar, ob sich der Sprecher des Gedichtes einen Sommer und zusätzlich einen Herbst zum Singen wünscht, oder ob Sommer wie Herbst zwei Dinge sind, die in derselben Hinsicht zu reifem Gesange nötig sind.[2] (sensu composito vs. sensu diviso). Dass hier ein wesentlicher Unterschied liegen kann, macht ein pragmatischeres Beispiel vielleicht klarer: Jemand kann sich ein Haus im Süden und ein schnelles Auto wünschen. Einerseits kann intendiert sein, dass die Wünsche zusammengehören, dass er das Auto beispielsweise zu nutzen wünscht, um sein Haus zu erreichen. Es kann aber auch sein, dass es ihm einerseits um ein Haus dort und andererseits um ein Auto für gelegentliche Spritztouren geht. Jene getrennte Lesart wirkt etwas arbiträr und wird von Lesern des „großen“ Hölderlins gern übergangen, aber es ist eine Frage der Interpretation: Immerhin sind der Sommer und der Herbst durch einen zusätzlichen Einschub („ihr Gewaltigen“) und einen Zeilenbruch getrennt. Selbstverständlich können Hölderlinleser auf Parallelstellen verweisen, so ein Abstand sei eben ein Ergebnis der Verschiebungsprozeduren, mit denen man so eine Odenform einrichtete. Andererseits ließe sich fragen, ob es nicht vielleicht dem Dichter auch zur Ehre gereiche, ihn so zu lesen, dass er stärker von der banalen Not des Einzelnen mitspricht, wie es in diesem zweiten Lesevorschlag stärker angelegt ist. Man kann das vielleicht in der Stroemfeldausgabe nachschlagen, ich tue das nicht, weil es mir hier nicht um Hölderlinphilologie geht, sondern darum, zu zeigen, wie verschiedene jeweils einfache Bildungsregeln sich schichten und die inhaltliche Ausdeutung des Textes stark davon abhängt, in welcher Priorität diese einfachen Bildungsregeln geschichtet sind. Mich rührt der Gedanke, Hölderlin habe sich einfach auch mal eine wunderschöne Zeit in seinem an Zumutung reichen Leben gewünscht.
Noch verzwickter wird es, wenn man die dritte Zeile hinzunimmt. Was macht das Herz williger: Der Herbst allein? Der Sommer und der Herbst gemeinsam? In derselben Hinsicht? Es könnte ja ein nicht mitgesagtes Drittes geben, was erst diesen Zusammenhang herstellt, so kann sich jemand ja das Auto für Spritztouren und das Haus im Süden wünschen, aber doch gemeinsam insofern, dass etwa beide Status repräsentieren? Und dann gibt es noch eine weitere Lesart, die im Gesamtzusammenhang zunächst die schwächste scheint: Das willige Herz könnte auch nur als Folge des Sommers gedacht werden, Herbst und Gesang kämen sozusagen nur on top, weil der topologische Ort bereits betreten ist. So mutet der Text etwas simpel aus der Schulrhetorik gefolgert an, wer mit metrischen Zeilen im Kopf umgeht, kann sich eine solche Entstehungsweise aber gut vorstellen. Da geistert einem vielleicht der Stoßseufzer durch den Kopf „Nur einen Sommer, gönnt ihr Gewaltigen“ und dann findet sich der wirklich schlagende Abgang: „daß williger mein Herz vom süßen“ ( Kann, wer nicht regelmäßig mit dem hochgestimmten Versmaterial vergangener Epochen umgeht, den Fall ins Lakonischere hier noch mitvollziehen?) Grundstimmung und Ton eines Bittgebetes sind sprachlich schon erschlossen, dieser Topos wird nun weiter ausgeführt. Jedenfalls gruppieren sich Zeile eins und drei zueinander, indem das Metrum dieser beiden Zeilen aufgeraut ist. Oder ist es gerade umgekehrt, dass die Sauberkeit[3] der zweiten Zeile ihre Ursprünglichkeit markiert, während sich das andere nachträglich anfügte? Noch einmal: Man kann das vielleicht in der Stroemfeldausgabe nachschlagen, ich tue das nicht, weil es mir hier nicht um Hölderlinphilologie geht, sondern darum, zu zeigen, wie verschiedene jeweils einfache Bildungsregeln sich schichten und die inhaltliche Ausdeutung des Textes stark davon abhängt, in welcher Priorität diese einfachen Bildungsregeln geschichtet sind. Ein feinsinniges ästhetisches Ohr tut hier nichts, es sei denn, man meint damit seine Intuitionen über die Vorfahrtsregeln (im Sinne der optimality theory) im Bereich von Syntax, Grammatik und Metrik.
Wer nicht über deutliche Intuitionen zu Bildungsregeln und deren Schichtung verfügt, sieht besonders metrisch gebundene Texte, so könnte man sagen, nur in Schwarz /Weiß, nach den Umrissen der Wortsemantik und den Grautönen der Standardgrammatik. Diese s/w Sicht haben etwa SchülerInnen, die, zu Recht gelangweilt, im barocken Sonett wieder und wieder die Vergänglichkeitstopik herausarbeiten. Diese Topik ist nicht Inhalt, der gesagt wird, sondern eher Form, in der etwas ausgedrückt wird. Dieses Etwas kann nur der heraus spüren, der die Gewichte der jeweiligen Regeln ahnt: Erfahrungen mit (oder Hypothesen über) Schwierigkeiten ihrer Einhaltung hat. Wo musste etwa ein Alexandriner sorgsam in seinen Gegensatzgewichten gebaut werden, wo war der Tatbestand klein genug oder bekannt genug, dass er zur Anspielung verkleinert werden konnte? Wo nötigt eine Aussagestruktur dem Dichter ab, die Lastwechsel des Alexandriners zu verschleifen? Welche Akkumulation füllt nur einen Zeilenrest aus? Welche rafft vorher eingeführte Motive zu einem Höhepunkt? Erst von hier her lässt sich ganz erschließen, worauf hin der Vers gespannt ist. Ist etwa ein Vergänglichkeitstopos defensiv gedacht? (Vergeblichkeit) oder soll er Mut zusprechen (Auch Deine Widerstände sind ein zeitlich Ding.)? Aussageabsicht wird hier zu einem Etwas, dass nicht biografisch psychologisch gefasst ist, sondern, insofern es anhand der Versgrammatik erschlossen wird, jenseits der Empirie der Zeitläufe (nicht aber ihrer Lesegeschichte) liegt.
[1] Dass etwas des Feierns würdig ist, ist ja ein Inhalt, ein durch Pathos unfreiwillig komischer Text mag dies nicht ausdrücken, jenseits der Autorenintention stellt er aber dennoch ja weiterhin genau diese Aussage in Frage.
[2] Was im Gesamtkontext des Gedichtes als Marginalie erscheinen mag, ist, wie ich selbst erlebt habe, eine Frage, an der sich Germanisten auch heute noch die Köpfe heißreden können.
[3] Wenn man auf „reifem“ den Hauptakzent legt, passt sogar eine kleine Zäsur dazwischen.
Wird fortgesetzt.
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