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(L&Poe Journal #02 Dossier Angelika Janz)
Angelika Janz
… als sei ihre Unsichtbarkeit nichts weiter
Beachtenswertes…
Delta 1978
Getrennt voneinander stellte sie sich zur gleichen Zeit zwei Fragen: Was ging außerhalb des Hauses, im stumpfen Blickwinkel zweier Straßen, vor sich? (Sie vernahm draußen laute Stimmen in einer fremden Sprache.)
Was sollte geschehen, nachdem sie Vorbereitungen getroffen hatte für eine Arbeit, die sie nicht geplant hatte und der sie in keiner Weise geneigt sein konnte?
Sie stand unentschieden, mit den Stimmen, mit dem Straßenbild: Hier prallte eine abschüssige Straße frontal aufs Haus zu, spreizte sich aber dann rechts und links der Fenster geradewegs, das Haus in die Mitte nehmend.
Sie stand unentschieden in der Unauffälligkeit ihres Zimmers, ratlos verhalten zu den Dingen, die sich auffordernd und ohne Ausnahme aufeinander und somit auf sie bezogen, deren zwingende Gesetzlichkeit sich ihr fortlaufend entzog.
Nicht im Entferntesten verspürte sie den Willen, auf beide Fragen eine bewegliche Antwort zu finden, beide Fragen aufeinander einzuspielen.
Sie wünschte sich einmal, Geschichten schreiben zu können über Personen, die in Wirklichkeit gar nicht existieren konnten – , und doch müsste beim Lesen dieser Geschichten die Einsicht ins Lebendige inniger sein, als es je in Wirklichkeit möglich wäre.
Sie nimmt die Gegend, in der sie seit ein paar Monaten lebt, aufgrund von Erinnerungen wahr. Sie glaubt, dass hier alles Mögliche auf sich warten lässt. Auf das Eintreffen von Gegenwärtigem wartet sie nicht, sie sperrt sich den Vorkommnissen der Gegend – die vergehende Zeit setzt ihr kein sichtbares Zeichen.
Dafür setzt sie Zeichen des Aufbruchs im Entfernen von Gegenständen und Vorkommnissen: Sie leert regelmäßig den Briefkasten, reinigt turnusmäßig das Treppenhaus, sie organisiert täglich die Umwandlung von Brennstoff in Abfallstoff, sie lässt gegebenenfalls Dinge ohne größeren Entscheidungsaufwand verschwinden, sie wirkt einer gültigen Aufteilung der Wohnung entgegen – trotzdem gibt es immer weniger Dinge, die sie suchen muss.
Sie will sich beobachtet fühlen. Sie bewegt sich gerne im Schnittpunkt der drei Fenster ihres Raumes. Sie spielt, als wolle sie etwas verbergen. Sie möchte Gegenstand einer Empörung werden, die die Bewohner aller gegenüberliegenden Häuser erfasst.
Sie fragt erst gar nicht, warum sie nicht verzweifelt.
Da sie der Ansicht war, dass das, was gegenwärtig geschah, für sie wohl kaum Erinnerungswert haben dürfte, begann sie, Geschichten aufzuschreiben, deren Ende sie vorsätzlich nicht absehen wollte. In diesen Geschichten wurde weder irgendwie gehandelt noch gesprochen noch geschah irgendetwas durch äußere Einwirkungen. Sie schrieb diese Geschichten in der unsentimentalen Absicht, Erinnerungsinseln zu schaffen; kleine Flecke und Fleckreihen auf dem Papier –
Mit dem Blick aus dem Fenster eines von ihr kaum genutzten Raumes riskierte sie, jedes angefangene Denken stehen zu lassen.
Das ungewohnte Geschehen draußen, das sich nur durch einen schmalen, belanglosen Ausschnitt mitteilt, versetzt sie in jene leise Panik, die sie schon bei der Besichtigung der Wohnung befallen hatte. Der bedrohliche Gedanke, dass man sich an ALLES gewöhnen könne, hatte sie lange vor dem Fenster verweilen lassen und zu einem Überblick gezwungen.
Sie hatte überlegt, welche ihr noch fremden und verwilderten Momente ihrer Person wohl mit den Gegenständen da draußen in Verbindung treten werden, wenn sie erst hier lebte.
Nun ist es so, dass sie mit großer Anstrengung nicht mal einen Gegenstand dort unten zu erfassen vermag: Die Litfaßsäule z.B. entzieht sich, sobald die Bahn vorbeifährt, die den Blick wie scherzhaft hält und loslässt auf ein gerade geschlossenes Fenster, das sich mit Einsetzen eines Glockentons verweigert und auf jemanden verweist, der auf dem Gehweg stehen bleibt, um mit einem anderen, der stehen bleibt, ein Gespräch zu führen, usf.
Vom Eiskeller, der sich nur noch durch die altertümliche Aufschrift EISKELLER über einem mit Abfall verstopften Kellerschacht in Erinnerung bringt, führt die Straße parallel zu den Straßenbahngleisen in Kurven abwärts und fällt jäh ins Grüne ein: Eine breite, gut ausgebaute, selten befahrene Allee teilt das verwilderte Zechengelände.
Zu den Seiten brechen Bunkerstücke aus dem Gestrüpp, zusammengenagelte Buden, mit Warnschildern versehen, zwischen Schotteraufwürfen und unkenntlichen Gerätschaften aufs Gelände verteilt überall, und ferner, auf einmal vorläufigen Anhöhen, erstrecken sich verfallene Fabrikgebäude, manchmal doppelt durch Stachel zäune gesichert. In Schlammulden sammelt sich Gerümpel, das jegliche Verbindlichkeit zu der Gegend ausschließt. Unvermutet führen ausgetretene Wege hinauf zu den Gärten der Wohnsiedlung.
An den Abenden treten häufiger Schmerzen auf, deren Ort unauffindbar bleibt. Es sind Schmerzen, die keine Zutat bilden, sondern ein Fehlen signalisieren. Dieses Fehlen fühlt sich besetzt von Stichworten, die nicht mehr fallen.
Stattdessen drängt sich auf, was sich gleichbleibt: das Bild der aufs Haus zustrebenden Straße, die ins Wahllose deutende Anhöhe, die Zeichenlosigkeit hinter erleuchteten Fenstern, das Zurechtgeschnittene lautlosen Schauens.
Stünden hier Bäume, ließe sich in der Dämmerung dahinter etwas vermuten, das in kurzer Zeit erreichbar wäre, auch ohne das Haus zu verlassen. Oder man würde das Haus verlassen bis zu einer gewünschten Entfernung.
Viel trinkt und raucht sie am liebsten alleine, weil sie sich dann vor sich sicher weiß. Sie kann ihren immer düsterer werdenden Neigungen nachgehen, indem sie sie in dem Bewusstsein, ausgesetzt jeder Willkür, beseitigt. Unter Beseitigen versteht sie, was das Wort mein: was für sie seitlich ist, ist das, was sie grenzt und damit vorläufig sichert.
Sie trifft Vorbereitungen zum Vollzug ihrer Gewohnheiten, aber während sie schon unwillig dabei ist, entdeckt sie die Unregelmäßigkeiten in der Geschichte ihrer Gewöhnungen. Sie will sofort enden, sie ist wie gelähmt: einzige Bewegungen, die daraus erlösen können, scheinen gerade jene zur Ausführung der Gewohnheit; die Verachtung gegenüber diesen wächst, je mehr sie sich sinnlos daran zu gewöhnen glaubt. Sie mag das Spiel nicht weiterspielen, weil kein Druck sie fremd bestimmt. Sie begründet das Fortfahren in den Gewohnheiten mit den darüber hinaus fordernden Unterlassungen.
Ekel beschleicht sie vor jeder Tätigkeit, die sie sich vornimmt, und bei jeder Tätigkeit, die sie ausführt. Dabei weiß sie, dass sie sich nach der Ausführung nicht mehr daran erinnern wird.
Sie möchte die Wohnung mit Sand ausstreuen. Sie möchte schon beim Gehen durch die Wohnung den aufsteigenden Ekel zu seinem vergessbaren Höhepunkt treiben.
Während sie die Wohnung mit feuchtem Sand ausstreut, denkt sie an das Zusammenfegen des verkoteten Sandes in Raubtierkäfigen. Dieses Bild beruhigt sie, sie spürt, dass es ihr an Nichts fehlen wird, solange sie mit diesem Bild das Vorhaben ausführt.
Als sie die Arbeit beendet hat, beginnt sie zu frieren. Jedes Ansinnen, sich nun zu bewegen, lähmt sie.
Sie zwingt sich, sich in den Sand zu legen, damit der Sand durch ihre Körperwärme trocknet.
Sie wundert sich später nicht mehr, dass sie sich durch den Sand, der nun Allem anhaftet, gar nicht behindert fühlt.
Beim Verlassen der Wohnung legt sie Wert darauf, dass sie bei der Rückkunft die Räume in einem Zustand vorfindet, die der möglichen Stimmung bei ihrer Ankunft angemessen ist. Dabei stellt sie sich während ihrer Abwesenheit aus der Wohnung schon vor, wie sich alles in der Wohnung vorbereitend auf ihre Ankunft zubewegt.
Sie schreibt mit Kreide unvollendete Geschichten auf die Gehwege der Stadt. Es sind Geschichten, die noch keiner erlebt hat, weil sie unbedeutend sind, es sind Geschichten, bei denen man nicht weiß, an welcher Stelle etwas geschieht.
Als ihr kalt wird, schreibt sie immer schneller. Dabei wird ihr deutlich, wie unbetretbar diese geschriebenen Blöcke werden, -spätestens, wenn so viele darüber gelaufen sind, dass nichts mehr sichtbar ist (an ihren Sohlen befinden sich noch unbedenkliche Spuren).
Sie weigerte sich, Fragen zu beantworten, um somit anzuerkennen, wo sie sich befindet. Durch die Kreide verbündet sie sich mit der Straße. Bricht ihr die Kreide beim Schreiben, wirft sie sie den Umstehenden vor die Füße – das gibt ihrer Tätigkeit eine leichtgewichtige und einsehbare Funktion. Während sie schreibt, hält sie sich das Bild von Kommenden entgegen. Dabei verlässt sie ihre gebückte Haltung beim Schreiben: Sie hält aufrecht hockend ein.
Hatte sie sich im Anfangen getäuscht?
Hätte sie in der Mitte der Straße begonnen, hätte sie das Kommende rückwärtig anschreiben können. Sie hätte sich in der Zusicherung bewegt, schreibend das Ende der Straße zu erreichen. Der rückwärts getriebene Anfang hätte von der Mitte her sein Ziel begründet – nun bewegt sie sich schrittweise vorwärts, und schreibend nähert sie sich dem Anfangsort –, aber je weiter ihr bloßes Vorwärtsgehen den Anfang meidet, desto spürbarer entfernt sich ihr Schreiben von einem vorläufigen Ende.
Unterwegs trifft man viel Fremdes – nichtswürdig dagegen die Neugier, – sie lässt wahllos zurück, hält sich ans Offensichtliche.
Rolltreppen führen in den Untergrund. Noch tiefer gehn und treffen Bahnen ohne Unterbrechung. Die Automaten lassen sich bedienen. Die Blicke lassen sich ein- und ausschalten. Schritte sehen sich gern gelenkt, solange Hinweistafeln hinausführen. Warnschilder kennzeichnen die Notwendigkeit der ‚Wegunterschiede, und ab wann alles gleichgültig bleiben soll.
Die Wartegänge sind blau gekachelt. Je später es wird, desto lautloser vollstreckt sich das Kommen und Gehen. Wer sich hier aufhält, ist spürlos da.
Als sie sich auf das Band der Rolltreppe stellt, um in den U-Bereich hinab zufahren, fällt sie der Gedanke an, sie habe nun niemand mehr außer sich selbst. Sie steht in ihrem Alleinsein so, als wäre sie gar nicht da, und sie könne jetzt tun, was sie wolle, niemand würde es auch nur registrieren, sie könne sich zum Beispiel eine zweite und dritte Zeitung kaufen, sie könne nach V. fahren, mit dem sie nichts verbindet, und alle, die damit zu tun hätten, würden über die Ausführung ihrer Funktion hinaus sie nicht auf den Fehler ansprechen.
Sie sieht mit dem unter Stahlplatten verschwindenden Rollband vor ihr auch die lockere Verschwörung mit sich selbst gegen solches Versagen schwinden, und als die Metallstufe, auf der sie steht, zum Ende hin in den Boden sinkt, stellt sie es sich mühelos vor, mit zu verschwinden, um oben wieder anzukommen.
Abwärts zur Rechten plötzlich ein weitläufiger Ziegelgepflasterter Platz, an dessen Peripherie die gedrungene Bruchsteinkapelle, deren Bild den befreiten Blick sofort wieder verschließt. Das Fehlen von Kultgegenständen und Symbolen im Umfeld der Stätte versöhnt nicht ganz fremd bezieht sie sich auf das Übrige: Den mächtigen, funktionslosen Gasometer in der Nachbarschaft beide verweigern das Aktuelle ihrer Behältnishaftigkeit, – und bei beiden denkt man gern an Gehen und Wohnen: Stahl und Stein zwingen durch ihre Gestaltung die Steigerung ins Lebendige –, dahinter grenzt auf großzügiger Spielfläche die Kläranlage, von Kanälen die Grasflächen durchzogen, und geräuschlos drehn sich in Becken die Wasserspinnen. Zahllose Möwen kreisen und stürzen, kein Mensch ist zusehen. Irgendwo am Rand, schon zwischen Liguster und Ginster, frisst eine haushohe Fackel die Faulgase.
Der Kläranlage gegenüber steht ein kastenförmiges Wohnhaus, das erste auf dem Weg durch das Tal. Der Spaziergänger überprüft bei seinem Anblick zunächst für sich selbst den Grad der Geruchsbelästigung. Er sucht nach einer offensichtlichen Entschädigung für die Anwohner. Er bemerkt hinter den sauber drapierten Gardinen wohleingerichtete Zimmer und auf den Fensterbänken Pflanzen sowie Anzeichen von Nahrungszubereitung. Beim Klappern von Geschirr zuckt er zusammen.
Er heftet den Blick auf die ansteigenden Kleingärten hinter dem Haus, die hauptsächlich aus Rasenflächen bestehen. Die Anlage der Gärten gleicht der Anlage des Klärwerkes.
Seine Überlegungen verdichten sich zu dem Schluss, dass es sich hierbei um Werkswohnungen handeln muss die Entschädigung für die Geruchsbelästigung, die nun nicht mehr als solche zu empfinden wäre, läge in der Erleichterung des Kurzen Weges von Wohnstätte zu Arbeitsplatz.
Sie träumte sich an der Straßenbahnhaltestelle, in der Nähe des Kioskes, in abwartender Haltung unter der Überdachung stehen. Sie bemerkte mit Gleichmut die Personen, die sich auf den Kiosk zu und von ihm fort bewegten; es handelte sich bei jenen um Strichzeichnungen, die sie mit dürftigen, wenn nicht unkundigen Zügen vollführte, ohne sich selbst dabei zu bewegen. Sie war ein wenig unsicher: sie wusste ja und das ließ sie staunend immer kühner zeichnen –, dass es ihr an technischer Fähigkeit mangelte.
Die gesamte Unterkellerung des Bahnhofsgebäudes übernehmen die Zugänge zu den U-Bahnen. Dort finden sich dann auch alle zwanzig Meter blaue Hinweisschilder mit weißer Aufschrift. Diese bezeichnen nicht nur die Ein und Ausgänge des Bahnhofs nach Himmelsrichtungen, sondern auch städtische Einrichtungen in der Nähe des Bahnhofs. Dem ortskundigen Benutzer dieser Gänge sind die richtungsweisenden Benennungen einsichtig, er stutzt ein wenig, als das mit Pfeilen versehene Wort FREIHEIT ihn wiederholt an der damit verbundenen Vorstellung eines zentralen Platzes hindert.
Die Sicherheitszone. die die Kläranlage umgibt, wird als solche durch signalgelbe Beschilderung an den Zäunen ausgewiesen. Der Unbefugte wagt sich nicht einmal an die Umzäunung heran, ohne sich um die wirklichen Gründe zu kümmern.
Kein Geräusch deutet auf Gefahr. Keine Bewegung der an den Kanälen montierten Maschinen unterstützt die Notwendigkeit von Warnmaßnahmen.
Die Möwen kreisen wie gelenkt immer um dasselbe Becken. Der im Wärterhaus endlich hinter einer Zeitung verborgene Pförtner rechnet nicht damit, dass man ihn durch die Sichtscheibe hin anspricht.
An die Stelle einer Menschlichen Vertrauensperson setzt sie in Gedanken einen Gedanken, dem sie erlaubt, sich so zu bewegen, dass er sie notfalls zu verletzen befugt ist. Sie fühlt sich im Anschein gekränkt, dass er sich zu Beginn des Spiels nicht einmal einschmeichelt, d.h. er will ihr von Anfang an nicht fremd gegenüberstehen, um sich zunächst mit dem Sinnlich-Spürbaren zu begnügen und darin auszuruhen, damit sie Zeit genug hat, seinem Bild nachzukommen.
Später ist sie bestürzt, wie lange er sie AUS DEM GEDACHTNIS beobachtet und von dort seine Begrenztheit wie einen Köder auswirft. Sie hat ihm Schranken vor seine Grenzen gesetzt – und diese Schranken waren neue, gedungene Gedanken, die sich ausspielen ließen.
Zwischen den parallel laufenden Neongängen befinden sich Schaufensterblöcke. Die Schaufenster sind wie Aquarien. Es passt nicht mehr dahinter als ein einziges, bunt überdecktes Doppelbett, welches wohl nicht einmal seiner Originalgröße entspricht. Die drei dichtgrenzenden Wände sind mit Vorhangstoffen bespannt.
Weder ein Preisschild noch ein Firmenname weisen auf den Aufbau hin.
Sie bemerkt zum ersten Mal den Abdruck einer Tür in der Tapete. Indem sie sich auf dieses Bild einlässt, wird die Tür für sie bestimmend, die Tür besetzt den Raum. Lange macht sie sich davor zu schaffen, sie rät Klinken und Schloss Höhe.
Sie verträgt keine Gegenstände mehr davor -später auch nicht im Grenzbereich der Tür: sie räumt den Raum aus, und je mehr Gegenstände sie entfernt, desto stärker beherrscht sie die Tür.
Einmal träumt sie, die Tapete habe sich gelöst, und die Tür stünde jetzt nackt zwischen Wänden –, da ist sie aufgesprungen und hat sich mit der Körperfront und erhobenen Armen gegen die verklebte Tür gepresst. Sie hat gespürt, wie viel wärmer jener Teil der Tür war als das Übrige, und dann hat sie mit einem Rasiermesser kleine Quadrate in die Tapete geschnitten.
Über das Tal breitet sich der unentrinnbare Geruch verbrannten Kunststoffes. Die Information über Haldenahbau, die sich offensichtlich, d. h. an der Verwilderung gemessen, auf die Zeit vor dem Krieg bezieht, lässt weitere, noch so abwegige Schlüsse, nicht zu. Darüber, hinter Ginsterbüschen auf einem Plateau gut sichtbar und glänzend angepasst, warten drei Personenbusse mit angelassenem Motor auf ihre Abfahrtszeit.
Von den fernen Gärten der Wasserwerkswohnungen erleichtert dich das Gelächter der Kinder, die du kurz vorher hast schaukeln sehen. Du setzt dich auf die zersessene, klebrig-bemooste Bank vor dem Platz um die Kapelle so lange, bis eine willkürlich angesetzte Anzahl von Autos an dir vorübergefahren ist.
Während sie ihre Aufzeichnungen durchlas, fragte Sie sich, wie sie sich jetzt mitteilen könne, würde man sie dazu auffordern.
Sie geriet in Panik, öffnete alle Fenster und stellte das Radio an. Sie stellte den Sender auf Sprache und begann, gegen den Sprecher laut ihre Aufzeichnungen anzusprechen. Sie legte die Betonung auf die unbedeutendsten, auf die Artikel und Bindewörter.
Je überzeugter sie sich der Vorgabe fügte, desto häufiger kam es vor, dass der Sprecher und sie mit gleichen Wörtern aufeinandertrafen.
Sie bildeten eine Art Kanon und endeten mit ihren Mitteilungen gleichzeitig.
Als wäre die Doppelte Abgeschlossenheit unerträglich, bieten sich die Öffentlichen Fernsprecher in einem muschelförmig geöffneten Behältnis in Schritthohe an. Die scheinbare Abtrennung vom Übrigen offeriert formale Diskretion: Wer hier sich persönlich zu äußern gezwungen ist, denunziert jeden Vorübergehenden, der zuzuhören gezwungen ist. (Das augenscheinlich Amerikanische an diesem Umstand verleitet zur Nutzung dieser Einrichtung.)
Das Unangenehme quält sie sich aus der Bewegung des Schreibens, die fast nachlässig die inhaltlose Schwere der Worte überschreibt. Die Bewegung nach einem System, von der Methode getrieben und nach der Regel verschränkt: Mit diesem unnachahmlichen Tanz heftet sie sich leichtfüßig an den Stoff, der sich jeder Gestaltung verweigert.
Vor den Absperrungen befindet sich ein überlebensgroßer Automat, der die Fahrkarte zum gewünschten Zielort liefert. Hinter einer Klarsichtscheibe schlüsselt ein nach Zahlgrenzen nummerierter Streckenfahrplan den Stadtplan auf. Mit den Zahlgrenzen sind sich steigernde Preisstufen in Verbindung zu bringen, wobei die Benennung von Haltestellen unmaßgeblich bleibt.
Ein Druckknopfsystem rechnet die Möglichkeit des Versagens aller Wahlmöglichkeiten mit ein.
Mit der Signalfarbe des überlebensgroßen Automaten ist ein einfüßiger, kopfgroßer, in durchschnittlicher Nabelhöhe vor der Absperrung angebrachter Apparat zu identifizieren. Es fordert die pflichtgemäße Annullierung der vorausgegangenen Aktivitäten. Es ist mit der Aufschrift Selbstentwerter versehen.
Sie hatte es seit Jahren vermieden, sich länger als eine Minute im Spiegel zu betrachten, über die Einzelheiten des Gesichts hinaus etwas Zusammenhängendes oder gar Unverwechselbares in Augenschein zu nehmen. Sie hatte es nicht mehr versucht, seit sie sich beobachtet fühlte.
Daher hatte sie diese Intimität zwischen sich ausgeschaltet, später einfach vergessen, welche Möglichkeiten sie veranlassen könnten, sich wahrzunehmen. Sie hatte eigentlich stets so gehandelt, als sei sie unsichtbar, oder so, als sei ihre Unsichtbarkeit nichts weiter Beachtenswertes.
Sie hatte wohl registriert, dass Andere jede Gelegenheit wahrnehmen, sich zu spiegeln, bei manchen steigerte sich sogar das Interesse am Spiegelbild, wenn sie sich beobachtet wussten.
Durch Zufall fiel ihr einmal auf, dass sie den Spiegel in ihrem Raum viel zu niedrig montiert hatte -sie hatte sich stets geduckt, um sich in aller Kürze zu erfassen.
Schließlich nahm sie sich vor, sich zu spiegeln. Zuerst glaubte sie, jeden zu imitieren, der sich jemals gespiegelt hatte. Dann verwendete sie einen Rückspiegel, drehte sich mit ihm im Blickkreis des Wandspiegels, durchmaß, was die erinnerte Flächigkeit ihr suggeriert hatte, fand sich zum ersten Mal umgreifbar, empfand auch dann noch Sympathie, nachdem sie sich längst anderen Tätigkeiten gewidmet hatte.
Die Beförderung beginnt nach Durchschreiten der gebotenen Absperrung. Die Stationen sind nur mit gültigem Fahrausweis betretbar, Die Beförderung erfolgt aufgrund der jeweils gültigen Beförderungsbedingungen. Letzte Instanz für die Glaubwürdigkeit solcher Gebote sind die mitfahrenden Personen sehr ähnlichen Mitfahrenden, die ohne Vorzeigen eines gültigen Fahrausweises die Fahrausweise anderer Fahrgäste überprüfen. Die Berechtigung zu ihrer Prüfungsbefugnis geht aus den jeweils gültigen Beförderungsbedingungen hervor.
Gern führt sie Gegenstände mit sich, die sich in jedem Fall einer Nutzung entziehen werden. Dabei geht es ihr weder um die Erinnerung an Zusammenhänge, in denen diese Dinge stehen, noch um die unvorhergesehene Lichtung dieser Dinge – da sie sie bei sich trägt, kann sie sie ruhig vergessen.
Kurz vor der Linkskurve, die zur Hauptstraße hinaufführt und, würde man sie geradewegs überqueren, an die Ruhrwiesen gelangte, bietet sich ein Blick, hinter mannshohem Maschendraht – ein Städtisches‘ Schilderdepot, auch ein Depot für Kanalisationsrohre, Kanaldeckel, Fahrradständer und Spielgerüste.
Nach Gattung geordnet stehen diese Gegenstände dicht beieinander und ineinander verhakt. man könnte meinen, hier fände sich alles ein, was sich gegen eine gebrauchswürdige Nutzung sperrt – unzählige leergetrunkene Flachmänner liegen auf der mit einer Rostschicht bedeckten Erde verteilt, trockenes Buschwerk dazwischen nimmt die Haltung der Depotteile an.
Aussteigende belieben, die bis zum Verlassen der Zielstation gültigen Fahrausweise in die dafür vorgesehenen Abfallbehälter zu legen. Die Eindringlichkeit ihrer Bewegung dabei verrät, dass sie nicht ausschließen, auch nach Beendigung ihrer Fahrt zur Rechenschaft über mögliches Fehlverhalten gezogen werden zu können.
Für ein ängstliches Beschleunigen der Schritte reicht die Länge der Unterführung kurz vor dem Ende des Tals nicht aus. Die sich aufdrängende Vermutung, es könne sich bei der Unterführung um ein PORTAL zu einem das Betreten hindernden Privatgrundstück handeln, zerstreuen sich schnell, als mit jedem Schritt näher sich das zunächst ausschnitthaft prunkvolle Jugendstilgebäude als baufälliges, gerade noch nutzbares Lagerhaus für Farben & Lacke entpuppt.
Sie hatte nicht glauben wollen, dass die Umstände, unter denen man lebt, und die Arbeit, die man dabei verrichtet, derartig voneinander getrennt sein könnten, dass die Auswirkungen aufeinander kaum beobachtet oder registrierbar werden. Jeder Versuch einer Annäherung machte die Entfernung deutlicher. Dabei wusste sie doch, dass sie nie zuvor ein derartig zersetzendes Bedingungsverhältnis eingegangen war.
Die Reihenfolge einfahrender Bahnen gliedert sich in einem neonbeleuchteten Kasten nach zwei Richtungen unter die Ziffern eins bis drei. So vermag jeder Fahrgast sich auf das Eintreffen seiner Bahn vorzubereiten.
Meistens genügt es, wenn der erste Beobachter dieser Ziffern in Bewegung gerät, was das Vortreten der übrigen Fahrgäste veranlasst, noch bevor der Zug einläuft. Einsteigende zeichnen sich durch eine unbelehrbare Ungeduld aus: Man könnte glauben, sie wünschten die fortzusetzende Anwesenheit derer, die aussteigen wollen.
Ausreichend belegt ist die Bahn, wenn 67 Sitzplätze und 122 Stehplätze eingenommen worden sind.
Welchen Platz man in der Bahn einnimmt, hängt von den übrigen Fahrgästen ab, die ihre Plätze bereits eingenommen haben. Vorteile liegen bei der Wahl eines einzelnen Fensterplatzes, da dieser nicht nur die Anstrengung im Hinblick auf das Aussteigen erleichtert. Hinreichenden Grund zu Misstrauen bietet die Wahl einer Doppelbank, auf der bereits jemand sitzt, vorausgesetzt, es gibt weitere freie Einzelplätze.
Unabsichtliche Berührungen folgern Verteidigungs- oder aber zumindest Ausweichbewegungen:
Man hat ja genug damit zu tun, die von Mitfahrenden ausströmenden Gerüche mit dem Empfinden sich steigernden Ekels in einen Wahrnehmungsbereich zu verdrängen, der das Selbstverständliche zugunsten seiner baldigen Aufhebung aufrechnet. Sie fragt sich, ob sie sich durch den Mangel an Erlebnissen einer zweifellos einfältigen Sichtweise aussetzt.
Sie ignoriert die Details außerhalb, die sich ihr zu Hause umso bösartiger aufdrängen, die sie aufschreiben muss, weil sie sie nicht auszusprechen wagt. Ihr liegt wenig an der Lebendigkeit des Anscheins – aber beim Schreiben zwingt sie Worte in das, was sie wohlweislich und längst nicht mehr zu bezeichnen vermögen.
Vermochte sie sich je wieder mitzuteilen?
Sprach man sie an, antwortete sie der Form halber »irgendetwas«, sie litt nicht unter der Beziehungslosigkeit der Wortfolgen, die sich ihr mühelos in den Mund legten, gleichsam sprachliches Instinktverhalten – als habe sie auswendig gelernt, was zu antworten gerade dürftig genug war, um sich keiner Auffälligkeit zu beschuldigen –,
–, sie bewegte, sah, sie dachte sich mittig.
Sie genoss die provisorische Leichtigkeit, zu gehen über die hölzernen Überbrückungen, die zu den nummerierten Gebäuden hinführten. Sofern und solange sie sie auf diese Weise erreichen konnte, hatte sie das Gefühl, es sei erlaubt, dorthin und dort fort zu gehen, wann immer sie wollte … und über die Begrenzung der ihr entgegen sich aufzwingenden Gesichter hinaussehen im Hören auf den Rhythmus der ihnen zugehörigen Schritte -und das alles nicht für möglich halten müssen …
Die offensichtliche Trennung beider Gebäude konnte sie unterlaufen, ohne ans Tageslicht zu treten. Sie mochte sich das nur so vorstellen, dass unter der sorgfältig ausgeharkten, weitläufigen, selten betretenen Kiesfläche zwischen den Gebäuden ein Gang verlief. Vom Gang aus aber konnte sie ins Freie sehen, aber von der Kiesfläche aus, die sie bedenkenlos Dach nannte, war auch bei starker Neigung keine Einsicht möglich.
Sie vernimmt zeitweilig scheinbare Unterbrechungen bei Tätigkeiten, die entweder vorgezeichnet oder eingespielt sind.
Diese Unterbrechungen sind wahrnehmbarer Art, doch weder sichtbar, hörbar oder tastbar.
Es sind kurze, bildähnliche Erinnerungen, die gänzlich unbestimmt bleiben, die verbunden sind mit einem Gefühl, das sie erinnert, aber nicht weiß – das in seiner Unbestimmtheit nicht deutlicher sein kann und somit haltlos ist -dieses Gefühl scheint an ihr, nicht in ihr zu existieren keinen Augenblick lang -ist sofort vergessen; sie weiß nur noch, dass sie irgendetwas Uneinnehmbares überfallen und besetzt hatte, das weder zufällig noch bedeutsam hätte genannt werden können, das sich nun von ihr unterschied, wie nichts anderes sonst außerhalb von ihr.
Um das Schließen des Aufzugs zu verhindern, zwängte sie sich zwischen die beiden sich schließenden Türhälften, gegen die widersinnige Furcht, sie müsse steckenbleiben.
Erst im Innern des Gehäuses fiel ihr die Lichtschranke wieder ein, nur fand sie keinen Bezug zu dem eben Geschehenen.
Sie berührte mit dem Zeigefinger ein nummeriertes Silberplättchen, es leuchtete auf, der Aufzug setzte sich in Bewegung, wechselnd aufleuchtende Zahlen vermittelten ihr keine Bedeutung – sie beruhigte sich in der vagen Erleichterung, die vermuteten Zahlenfolgen fortlaufend bestätigt zu wissen.
Die Gänge der einzelnen Abteilungen sind nach den Anfangsbuchstaben der Himmelsrichtungen benannt.
Sie ging die südliche Richtung, berührte Wände und Türen, als seien sie aus Pappe. Zum Ende des Ganges verspürte sie wenig Erleichterung, dort leuchtete das kleine Tageslichtfenster, durch die Tür rechts davon konnte sie vorläufig ausweichen, sie hatte das geplant. Davor drängten sich eine Anzahl Personen, die einem unverkennbaren Sinn nach eine fortlaufende, sich vermindernde Reihe bildeten.
Man lehnte zu viert an dem erkalteten Heizkörper mit dem Rücken zum Tageslichtfenster. Kaum lesbar das Namensschild an der Tür, der kleiner darunter gedruckte Titel, – die auch dort angehefteten Stundenblätter wurden durch die Atemzüge der Nächststehenden bewegt. Man horchte auf die Stimmen hinter der Tür, und da man sie nicht unterscheiden konnte, hätte man schließen können, dahinter würde ein Selbstgespräch geführt.
Sie trug sich seit einigen Wochen mit einem unguten Körpergefühl, weniger ausgelöst durch Schmerzempfinden, sondern durch eine dumpfe, betont. schmerzfreie, wie durch Schmerzmittel hervorgerufene dauernde Gedämpftheit des Hirns und im Bereich von Herz und Bauch.
Manchmal erschrickt sie beim Sprechen mit anderen über sich selbst – die Melodie ihrer Sätze ist ihr fremd, ja, sie kann sich nicht erinnern, je eine Melodie beim Sprechen gezüchtet zu haben, auch kann sie das Tönen beim Sprechen nicht ablösen nicht abbrechen, sie spricht weiter, obwohl sie es nicht muss, sie hört sich gern reden, sie spricht einen Dialekt, dessen geographische Zugehörigkeit sie nicht zu orten weiß.
Der Raum besaß auf ungewohnte Weise Fenster im rechten Winkel zueinander, die den Ausblick auf ein ähnlich angelegtes Fensterstück freigaben. Ein gläserner Aschenbecher stand auf dem Schreibtisch, dem einzigen Möbelstück im Raum. Dieser Aschenbecher, ausgeleert, aber ungereinigt, enthielt ein rotes Gummiband. Als sie fragte, ob sie rauchen dürfte, entfernte die hinter dem Schreibtisch stehende Person das rote Gummiband, indem sie es in der Rocktasche verschwinden ließ, wobei sie gleichzeitig den Aschenbecher der noch nicht ganz Eingetretenen entgegenschob.
Sie entdeckte, dass das, was sie schrieb, in fremde Hände geriet. Eigenartig war nur, dass man sie nicht daraufhin ansprach, sondern ihre Aufzeichnungen in sachfremde Unterhaltungen verwob. Solche Unterhaltungen waren ihrer Struktur nach auf die Stimmungen der Redenden so eingespielt, dass sie die Aufzeichnungen kaum wiedererkannt hätte, wenn nicht die gleiche sichere Unverbindlichkeit der Wortfolgen sie stutzig gemacht hätte. –
Erstdruck in: Tee und Butterkekse. Prosa von Frauen. Hrsg. Ingeborg und Rodja Weigand. Schwiftinger Galerie Verlag 1982.
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