Heilmittel gegen die Liebe

Publius Ovidius Naso (Ovid)

(* 20. März 43 v. u. Z. in Sulmo; † wohl 17 u. Z. in Tomis) 

Quisquis amas, loca sola nocent, loca sola caveto!
   Quo fugis? in populo tutior esse potes.
Non tibi secretis — augent secreta furores —
   Est opus, auxilio turba futura tibi est. 
Tristis eris, si solus eris, dominaeque relictae
   Ante oculos facies stabit, ut ipsa, tuos. 
Tristior idcirco nox est quam tempora Phoebi;
   Quae relevet luctus, turba sodalis abest.
Nec fuge conloquium, nec sit tibi ianua clausa,
   Nec tenebris vultus flebilis abde tuos.
Semper habe Pyladen aliquem, qui curet Oresten:
   Hic quoque amicitiae non levis usus erit. 
Quid nisi secretae laeserunt Phyllida silvae?
   Certa necis causa est: incomitata fuit. 
Ibat, ut Edonio referens trieterica Baccho
   Ire solet fusis barbara turba comis, 
Et modo, qua poterat, longum spectabat in aequor,
   Nunc in harenosa lassa iacebat humo.
„Perfide Demophoon!" surdas clamabat ad undas,
   Ruptaque singultu verba loquentis erant. 
Limes erat tenuis longa subnubilus umbra,
   Qua tulit illa suos ad mare saepe pedes. 
Nona terebatur miserae via: „Viderit!" inquit
   Et spectat zonam pallida facta suam.
Adspicit et ramos, dubitat refugitque quod audet
   Et timet et digitos ad sua colla refert. 
Sithoni, tum certe vellem non sola fuisses:
   Non flesset positis Phyllida silva comis. 
Phyllidis exemplo nimium secreta timete,
   Laese vir a domina, laesa puella viro.

579 Wer du auch sein magst, der du liebst, wisse es: einsame Plätze schaden, vor einsamen Plätzen sollst du dich hüten. Wohin fliehst du? In der Menge kannst du sicherer sein. 581 Nicht abgeschiedener Gegenden — abgeschiedene Gegenden steigern die Leidenschaft – bedarfst du, Hilfe wird dir die Volksmenge bringen. 583 Traurig wirst du sein, wenn du allein bist, und der zurückgelassenen Geliebten Bild wird dir vor Augen stehen, als wäre es sie selbst. 585 Trauriger ist deswegen die Nacht als die Zeit, da Phoibos am Himmel steht; die Schar der Freunde, die deinen Kummer erleichtern kann, ist fern. 587 Meide Unterhaltungen mit anderen nicht, lasse deine Tür nicht verschlossen sein und verstecke dich nicht im Dunkeln, um dein tränenüberströmtes Gesicht nicht zu zeigen. 589 Habe immer einen Pylades zur Verfügung, der sich Orests annehmen kann; auch hierin wird diese Betätigung der Freundschaft dir Nutzen bringen, der nicht leicht wiegt. 591 Was war es anderes als die abgeschiedenen Wälder, die Phyllis Leid brachten? Unzweifelhaft ist der Grund ihres gewaltsamen Todes: sie war unbegleitet. 593 Sie stürmte einher mit fliegenden Haaren wie eine aus der Schar der thrakischen Frauen, wenn sie dem edonischen Bacchus jedes dritte Jahr dient, 595 und blickte bald, wo sie es konnte, auf die weite Meeresfläche, bald lag sie matt auf dem sandigen Boden. 597 „Treuloser Demophoon!“ schrie sie den Wogen zu, die sie nicht hörten, und unterbrochen wurden ihre Worte durch Schluchzen. 599 Dort war eine schmale Schneise, verhangen von weithin schattenden Wolken, ihr folgend lenkte sie ihre Schritte oft zum Meere. 601 Zum neunten Male schleppte sich die Unselige diesen Weg entlang. „Seine Schuld ist es“, sagte sie und blickt erbleichend auf ihren Gürtel. 603 Sie blickt auch hinauf zu den Ästen, sie schwankt und bebt zurück vor dem Wagnis, sie empfindet Furcht und betastet ihren Hals. 605 Sithonisches Mädchen, ich wünschte, du wärest damals nicht allein gegangen, nicht hätte der Wald, sein Laub verlierend, um Phyllis zu klagen brauchen. 607 Nach der Phyllis warnendem Beispiel sollt ihr die zu abgelegenen Plätze fürchten, du Mann, der du von der Geliebten Leid erfahren, und du Mädchen, dem der Mann ein Leides getan.

Aus: Ovid, Heilmittel gegen die Liebe. Lateinisch und Deutsch von Friedrich W. Lenz. Berlin: Akademie-Verlag, 1969, S. 56f

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