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Fortsetzungsessay von Theo Breuer
To find a form that accommodates the mess,
that is the task of the artist now‘
Samuel Beckett
(1)
bzw. seht nur diesen text! wie er einmal angestoßen wächst. und
wächst. hält augenblicklich folgendes bereit: zum geleit. alles be-
ginnt mit dem trimm. gezwitscher aus dem schwödebrei. prosa-
einschub die gerber. dann: die eigentliche prüfung. narbenplatzer.
art schadensbericht. der hat sich gehörig gebimst. subgattung lyri-
sches gespinst. zu guter letzt: ladung tragende aminogruppen wie
etwa: virulenter schleifbox-softy. vom liedhaften approxi süßer
sämischmann wurde aus gründen des anstands abstand genommen.
Ulf Stolterfoht, fachsprachen XXXI
para-schwarte »schaut auf diese haut«
Gedichte sind keine Sonnenuntergänge, denen Millionen Menschen Jahr für Jahr Tausende von Kilometern hinterherrasen, um sie an dreizehn aufeinanderfolgenden Tagen bei Ouzo oder Chianti zu bewundern. Was soll ein Vers, der keine Zumutung ist? Er ist eine Zumutung oder er ist ein Parfüm. Ein Steinschlag, oder Dünger fürs Feuilleton … Rücksichtslosigkeit ist die Chance des Gedichts. Sie ist die Aufklärung der poetischen Sprache (Christoph Meckel). Die – der Musik gegenüber ja kaum so ausgeprägte – verstandorientierte bzw. dualistische Einstellung vieler Lyrikleser weiterhin nicht kleinzukriegen: Wie ist doch meine Seele zwischen Auge und Ohr getheilt, stöhnt der Tempelherr in Nathan der Weise, und eine ähnlich fatale Trennung – diesmal zwischen Intellekt und Emotion – sehe ich bei Lesern, die erwarten, daß ihnen Gedichte wie reife Geistesfrüchte auf dem Silbertablett dargereicht werden, Gedichte, die ihnen ins gedankliche Konzept passen, sie auf angenehme Weise provozieren, Wohlbehagen bereiten, Sonnenuntergangstraurigkeit evozieren und dabei vielleicht noch einen sanften Impuls in sozialkritischer Hinsicht geben. Alles Ungewohnte, Unkonventionelle, Unübliche das energische Auseinandersetzung fordert, wird schnell als zu schwer verdaulich empfunden, und man wendet sich mit einem kopfschüttelnden Kannitverstan ab. Dabei ist die Sprache des Gedicht doch gerade da in ihrem eigentlichen Revier, wenn sie so unverwechselbar ausdrückt, was anders nicht formuliert werden kann, die Sprache des Gedichts ist das immerwährende Morgensternsche Lalula:
Kroklokwafzi? Semememi!
Seiokrontro – prafriplo:
Bifzi, bafzi; hulalemi:
quasti basti bo …
Lalu lalu lalu lalu la!
Hontraruru miromente
zasku zes rü rü?
Entepente, leiolente
klekwapufzi lü?
Lalu lalu lalu lala la!
Simarar kos malzipempu
silzuzankunkrei (;)!
Marjomar dos: Quempu Lempu
Siri Suri Sei []!
Lalu lalu lalu lalu la!
Gedichte lesen ist eine metabolistische Achterbahnfahrt, ein Auf und Ab, ein Quer und Kreuz durch die Großhirn-, Stammhirn- und Neokortex-Windungen, ich werde absolut, voll und ganz, total in Anspruch genommen, die Phantasie wird beflügelt, das Blut ist in permanenter Wallung, plötzlich runzle ich die Stirn, warum bin ich dermaßen wütend, und nichts als Fragen und Ratlosigkeit offenbaren sich: ganz wie im richtigen Leben. Gerade so wie mich zahllose Konfrontationen des Alltags in die vielfältigsten Stimmungen versetzen, versetzt mich die Gedichtlektüre je nach dem in ein Schwingen des Staunens, der Begeisterung, der Zuneigung, des Sich-Fragens, der Verehrung, des Zorns, der Empörung, des Selber-noch-nicht-Wissens! (Peter Handke, Versuch über die Müdigkeit). Und während der berauschendsten Leseaugenblicke erfahre ich, was ebenfalls Peter Handke so überzeugend im Versuch über die Jukebox beschreibt: Die Begegnung mit Lyrik wird mir zur „Levitation …, Auffahrt?, Entgrenzung?, Weltwerdung? Oder so: Das – dieses Lied, dieser Klang – bin jetzt ich; mit diesen Stimmen, diesen Harmonien bin ich, wie noch nie im Leben, der geworden, der ich bin; wie dieser Gesang ist, so bin ich, ganz!
Keine Gewähr
Bei welchen Gedichtbüchern des Jahrgangs 2009 ist es mir annähernd so ergangen? Überwog Langeweile oder Kurzweil in diesem Jahr? Wer überrascht, wer sorgt für Überdruß? Welche Gedichte brauche ich, auf welche kann ich gut und gern verzichten? Zum Glück für die Autoren gehen die Bewertungen der Leser von Gedichten immer wieder weit auseinander, und ich werde hier nicht den einen Band gegen den anderen ausspielen.
Ich beschreibe – exemplarisch – Lektüreeindrücke, und in ihrer Gesamtheit halte ich die hier zusammengetrommelte Schar von Autoren mit ihren neuen Büchern für ein typisches erfolgreiches Ensemble, das nicht nur mit Stars und Größen besetzt sein darf, um gut zu sein. So ist, naturgemäß, das eine Gedichtbuch überwältigend, das andere überzeugend, jenes ist ansprechend, dieses okay. Über das nächste hülle ich den Mantel des Schweigens, in einem weiteren finde ich ein originelles Gedicht. Mit dem einen Gedichtbuch bin ich wie der Blitz per du, bei dem anderen bleibt (zunächst?) eine, nicht immer leicht zu verstehende Distanz.
So stelle ich, beispielsweise, während der lustwustvollen Lektüre von Ulf Stolterfohts musikalischen Fachsprachen XXVIII–XXXVI fest, daß seine Lyrik und ich uns mit jedem Buch näherkommen: Diese neuen Gedichte, in denen tausend Stimmen aus dem Dies- und Jenseits anklingen, springen mich an, sind total mein Ding.
Ich fänd’s schad, wenn sich mir alle Lyrik immer einfach, leicht und ohne Hindernisse erschlösse: Der einfache Gang durch die Wiesen oder Straßen am einen, die schweißtreibende Kraxelei auf den Berg am anderen Tag – beides steckt voller Reize und ist in seinen spezifischen Eigenarten schwer bloß miteinander vergleichbar. Und eins ist eh klar: einmal oben angekommen, hast Du die herrlichste Aussicht, und alles, was vorher verzwickt war, kommt dir in diesem Moment ganz luftig, ätherisch, sylphenhaft vor.
So schlage ich das nächste Buch auf, und die Augen beginnen schon wieder zu fahnden: Wo sind die funkensprühenden, lichtgebornen Wörter, die klingen und riechen und Bild sind zugleich? Gewiß, Gedichte bestehen zumeist aus verschiedenartigen ernstzunehmenden, zueinander in Beziehung stehenden, polyvalenten allegorischen, formalen, graphischen, inhaltlichen, motivischen, psychischen, rhetorischen, sprachlichen, stofflichen, symbolischen Grundelementen: Das Gedicht ist immer zugleich sichtbares Gewebe, hörbares Gebilde und Aussage über die Welt. Norbert Hummelt während der lustvollen Lektüre von Wie Gedichte entstehen voll und ganz zustimmend, halte ich es beim Gedicht gern mit George Orwells Roman Animal Farm, in dem heißt: All elements are equal but some elements are more equal than others. Primär die Wörter suche ich, wie Wildschweine (deren Zahl in den Wäldern rings umher bedrohlich anschwillt) die Trüffel suchen.
Die Seele geht spazieren, natürlich in den Wörtern, lese ich bei Rolf Dieter Brinkmann, dessen mehrere Seiten langes, alles verneinendes Ein Gedicht eines durchgehend bejaht (obwohl der Autor auch ihnen maßlos mißtraut): die Wörter. Ce n’est pas avec des idées, que l’on fait des vers. C’est avec des mots. (Stéphane Mallarmé)
Ein Wort
Ein Wort, ein Satz —: aus Chiffren steigen
erkanntes Leben, jäher Sinn,
die Sonne steht, die Sphären schweigen
und alles ballt sich zu ihm hin.
Ein Wort —, ein Glanz, ein Flug, ein Feuer,
ein Flammenwurf, ein Sternenstrich —,
und wieder Dunkel, ungeheuer,
im leeren Raum um Welt und Ich.
Gottfried Benn
Direkte Vergleiche bringen mich nicht weiter. Wer 1919 (Hans Bender), 1929 (Hans Magnus Enzensberger) oder 1945 (Axel Kutsch) geboren wurde, bringt in aller Regel andere Voraussetzungen für das Verfassen von Lyrik mit ins Spiel als jemand, der 1974 (Adrian Kasnitz), 1980 (Sandra Trojan) oder 1982 (Katrin Marie Merten, Gerrit Wustmann) das Licht der Welt erblickte. (Was wohl würde die 1924 geborene Friederike Mayröcker zu dieser Anmerkung sagen?) Zu ungleich sind die Bücher auf dem Weg vom 31seitigen Sonettenkranz bis zu den gesammelten Gedichten auf 1155 Seiten. Vierzeiler, Sonett, freimetrischer Flattervers, Gedichte, die den Aufenthalt in der Zuchthauszelle in Verse bannen, und solche, die uns in ferne Länder entführen, Trottoirlyrik, Steingartenpoesie, Bestands-, Blitzlicht- oder Momentaufnahme, absurd, grotesk, paradox, skurril sprudelnde Phantasmagorie, liebevoller Abgesang, eingefrorenes Standbild, Wadenbeißergedicht, Gedichtgedicht.
du lieber himmel, ein gedicht!
du lieber himmel!
ein herrenloses gedicht
streunt über die seite
vielleicht beisst es!
ein wadenbeissergedicht!
nehmen sie sich in acht
gedichte haben scharfe zähne
dringen tief ein ins fleisch
sehen harmlos aus
wenn sie so über die seiten weiden
so friedlich
beinahe könnte man sie lieben
und dann
schnappen sie zu
Jolanda Fäh
Wie etwa soll ich Uwe Tellkamps furioses phantastisches Langgedicht Reise zur blauen Stadt, Matthias Kehles lakonische, verhaltene, aus wenigen Wörtern bloß gemachte Gedichte in Fundus und die satirischen Gedichte in Hans Magnus Enzensbergers Rebus unter einen Hut bringen? Wieso sollte ich das auch wollen: So wie jedes Gedicht zunächst für sich steht, so auch jeder Gedichtband. Zu verschiedenartig sind die Schreibansätze – von akzentuiert oder ausschweifend bis berauscht, charmant, drangvoll dicht, eckig, forciert, frech oder fröhlich, grobschlächtig, hingehaucht, irrational, japanisch, knisternd, katachresisch, kurz und knapp, lang, lakonisch oder lebendig, mäandernd, metalyrisch, mokant, nachdenklich, obskur, pointiert, quecksilbrig, reimend, sinnlich, schnoddrig, spröde, sperrig, transtextuell, trotzig, universal, verwegen, waghalsig, xenisch, ybermütig bis zickig — »usw.«. Der eine knausert derart mit Wörtern, daß die Blätter dem Schneefeld mit Krähen gleichen, während sich bei der anderen die im Wirbelwind tosende Wörterflut temperamentvoll in die Seiten ergießt.
Wo nehme ich nur die Zeit her,
so viel nicht zu lesen?
Karl Kraus
Es gibt nur den einen direkten Weg, herauszufinden, wie ein Gedichtbuch beschaffen ist: Ich muß es lesen. (Oh my – not again.) Nicht querlesen, nicht darüber lesen, sondern direkt lesen. Täte ich das nicht und hätte immer wieder auf Kommentare gar nicht so weniger anderer Menschen gehört, die mit Brinkmann nichts anfangen können, die Kling geringschätzen, die von Fritz und Hölderlin kaum etwas und von Oswald von Wolkenstein nichts gelesen haben, wo stünde ich heute? Daran mag ich nicht denken und komme nicht umhin, das (überschaubare) Risiko in Kauf zu nehmen, die eine oder andere Lektüre im nachhinein als Raub von Lebenszeit zu betrachten. Dafür übernehme ich keine Gewähr, außer daß ich sage: Für jeden der hier aufgeführten Titel gibt es Leser, die gerade auf dieses Buch gewartet haben.
Diese gleichsam für jede Woche des Jahres 2009 ausgewählten 52 Einzeltitel lebender Schreibgenossen von Klaus Anders bis Gerald Zschorsch habe ich interessiert, (sehr) gern bzw. mit (großer) Begeisterung und Gewinn gelesen, mich bei einigen prächtig amüsiert. Einzelne haben mich überwältigt, manche warten mit feinen Überraschungen auf, und jedes dieser Bücher hat nun als mehr oder weniger starkes, mehr oder minder strahlendes Stück/chen im Mosaik meiner Büchersammlung seinen Platz gefunden:
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