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Namaste*

Willkommen bei Lyrikzeitung & Poetry News!. Sie finden hier 1. Tageszeitung: Jeden Tag um sechs ein Gedicht 2. Journal #03 Frühjahr 2023 | #02 Frühjahr 2022) | #01 (Morgensternfest, 2021), 3. Archiv: viele tausend Nachrichten seit dem 1. Januar 2001.
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*) Der Begriff setzt sich zusammen aus den Silben nama (verbeugen), as (ich) und té (du). Übersetzen lässt sich Namasté also mit „Verbeugung zu dir“ oder „Ich verbeuge mich vor dir“. Damit drückt man Ehrerbietung aus und erkennt die Anwesenheit des Gegenübers dankbar an. (Google)

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Fremd

Michel Friedman 

(* 25. Februar 1956 in Paris) 

Ich bin auf einem Friedhof geboren.

Schmerz,
der keinen Anfang kennt,
der kein Ende kennt.
Manchmal leise,
manchmal laut.
Manchmal versteckt er sich.
Launisch ist er,
hungrig ist er,
hinterhältig.
Meine Mutter,
mein Vater,
meine Großmutter:
Über-Lebende.
Trauernde.
Traurige.
Lebenstraurige.

Ich war ihr Lächeln.
Lächelnde Traurigkeit.
Wie bringe ich euch zum Lächeln?
Wie bringe ich euch zum Lachen?
Wie bringe ich euch Glück?
Zum Leben?
Gescheitert.
In der Regel:
gescheitert.
Ein Kind sollte das nicht sollen,
sollte das nicht müssen,
sollte das nicht wollen.
Sollte von seinen Eltern
zum Glück getragen werden.
Ging nicht,
Pech gehabt.
Wie so viele,
deren Elternwelt gerissen,
zerrissen,
gestört,
verstört,
zerstört ist.
Verfolgte,
Geflüchtete,
Arme,
Kranke,
die ihre Kinder vergessen,
die ihre Kinder zum Überleben brauchen,
die vergessen,
dass Kinder noch nicht wissen können,
dass die Traurigkeit eines Lebens
eine Ewigkeit andauern kann.

Aus: Michel Friedman, Fremd. Berlin, München: Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, 2022 (4. Aufl.), S. 9f

Dies ist das letzte Licht der Welt

Ferdinand Hardekopf 

(* 15. Dezember 1876 in Varel; † 26. März 1954 in Zürich)

SPÄT

Der Mittag ist so karg erhellt.
Ein schwarzer See sinkt in sein Grab.
Dies ist das letzte Licht der Welt,
Das bleichste Glimmen, das es gab.

Aus Sümpfen schwankt Gestrüpp und Baum.
Die Birken-Nerven ästeln weh.
Die Zeit erblasst, es krankt der Raum.
Tot steht das Schilf im toten See.

Die Luft strömt grau ins Mündungs-All.
Der Rabe schreit. Der Wald schläft ein.
Mich trennt ein rascher Tränenfall
Vom Ende und der Flammenpein.

Aus: Ferdinand Hardekopf, Privatgedichte. München: Kurt Wolff, 1921 (Bücherei „Der jüngste Tag“ 85), S. 32

Wir machen es neu

Kae Tempest

(Geboren 1985 in London)

Morgen

Ich presse mein Ohr gegens Telefon, zu hören, wie deine Lippen
sich teilen, wieder teilen. Deine Haut ist der kommende Tag,
deine Augen die Glut der letzten Nacht. Du magst es, wenn
ich deinen Mund gegen die Wand drücke. Morgens
strahlt schwindliges Sonnenlicht durch deine Locken.
Deine Wangen, rot vom Stöhnen, und die Dusche
prasselt runter, sagt, Leben ist handeln im Heute.
Es ist alles schon mal getan. Wir machen es neu

Deutsch von Rike Scheffler, aus: Kae Tempest: Divisible by Itself and One. Teilbar durch sich selbst und eins. Gedichte. Berlin: Suhrkamp, 2023, S., 103

Morning

I press my ear against the phone to hear your lips
part and re-part. Your skin is the coming day,
your eyes last night's embers. You like it when
I stop your mouth against the wall. Morning
blasts of giddy sunlight through your curling hair.
Your cheeks flushed with moaning and the shower
slamming down, saying life's a chance to do.
It's all been done before. We make it new

Ebd. S. 102

Die zeit drängt

Heute vor 10 Jahren starb der polnische Dichter Tadeusz Różewicz.

(* 9. Oktober 1921 in Radomsko; † 24. April 2014 in Wrocław)

in memoriam Konstanty Puzyna

Zeit für mich
die zeit drängt

was soll ich mitnehmen
ans andere ufer
nichts

so ist das schon
alles
mutter

ja söhnchen
das ist alles

da kommt also nichts mehr

nein da kommt nichts mehr

das wär also das ganze leben gewesen

ja das ganze leben

1989

Deutsch von Henryk Bereska, aus: Poet’s Corner 16. Tadeusz Różewicz. Ausgewählt und übertragen von Henryk Bereska. Berlin: Unabhängige Verlagsbuchhandlung Ackerstraße, 1993, S. 17

Pamięci Konstantego Puzyny

Czas na mnie
czas nagli

co ze sobą zabrać
na tamten brzeg
nic

więc to już
wszystko
mamo

tak synku
to już wszystko

a więc to tylko tyle

tylko tyle

więc to jest całe życie

tak całe życie

1989

Ebd. S. 16

Jerome Rothenberg (1931-2024)

Das englische Wort happening hat die Form des Gerundiums, die es im Englischen und zum Beispiel im (vermeintlich primitiven) haitianischen Kreolisch gibt, aber nicht im Französischen oder Deutschen. Etwas geschieht eben während ich das Wort ausspreche. Ich singe gerade. Je suis en train de chanter. I sing – mwen chante. I’m singing – m ap chante. (Kreolisch chante wird wie französisch chanter ausgesprochen). – Happening ist auch eine moderne Kunstform, glauben wir Westler. Aber das Navajowort für Zeremoniell heißt wörtlich übersetzt soviel wie „etwas geschieht gerade“. Der amerikanische Dichter Jerome Rothenberg sammelte die Rituale und Events der Religionen und Völker. Die so entstandenen „Texte“ sind nur Verschriftlichungen von Ereignissen, die aufgeführt oder vielleicht besser ausgeführt werden. Der Ethnopoet Jerome Rothenberg ist vorgestern im Alter von 92 Jahren gestorben. Hier zwei Seiten aus dem Band „Rituale & Events“, der 2019 bei hochroth Berlin erschien (übersetzt von Norbert Lange).

BAUMGEIST-EVENTS

dann sollen jubeln alle Bäume des Waldes vor SEINEM Antlitz

Einer steigt zu dieser Seite hinauf.

Einer steigt auf jener Seite herab.

Einer fährt zwischen die beiden.

Zwei krönen sich mit einem Dritten.

Drei fahren in einen.

Einer bringt verschiedene Farben hervor.

Sechs von ihnen steigen auf der einen Seite hinauf & sechs auf der anderen.

Sechs fahren in zwölf.

Zwölf setzen sich in Bewegung um zweiundzwanzig zu ergeben.

Sechs sind enthalten in zehn.

Zehn sind gebunden in einem.

(Hebräisch)

DIE RUNDE MACHEN

  1. Ein langer Pfahl wird in der Mitte eines Hauses aufgestellt, dessen oberes Ende aus dem Rauchloch ragt. An ihm hängen zwei Doppelquasten & ein Schwimmfloß aus dem Fell eines Seehunds, an dessen Flossen ein Fuchspelz & ein Eisenkessel festgemacht worden sind. Ein viereckiger Rahmen aus Paddeln, geschmückt mit ein paar Holzbildern von bemannten Booten & Walen, hängt auf halber Höhe des Pfahls, so dass der Pfahl zusammen mit dem Rahmen gedreht werden kann. Ein paar Walrossschädel bilden den Mittelpunkt der Handlung.
  2. Das Rad wird gedreht, so schnell wie möglich & dem Lauf der Sonne folgend, von Menschen beiderlei Geschlechts, während einige die Trommel schlagen. Jeder singt eine Melodie, die er sich ausgesucht hat. Zuletzt hören diejenigen, die das Rad gedreht haben, damit auf & die Männer, die noch immer in dieselbe Richtung laufen, schnappen sich die Frauen überall im Haus. Jeder Mann darf in dieser Nacht mit der Frau schlafen, die er gefangen hat.

(Eskimo, Asien)

Aus: Jerome Rothenberg: Rituale & Events. Übertragen von Norbert Lange. hochroth Berlin 2019, S. 14f

300. Geburtstag

Ganz kleiner Beitrag zum 300. Geburtstag des großen Philosophen. Dieses kleine Gedicht des großen Geistes gehörte mal zum Hausschatz deutscher Anthologisten. Es ist aus den Anthologien weitgehend verschwunden.

Immanuel Kant 

(* 22. April 1724 in Königsberg (Preußen); † 12. Februar 1804 ebenda)

Glaube und Tat

Was auf das Leben folgt, deckt tiefe Finsternis;
Was uns zu tun gebührt, des nur sind wir gewiß.
Dem kann kein Mißgeschick, kein Tod die Hoffnung rauben,
Der glaubt, um recht zu tun, recht tut, um froh zu glauben.

Aus: Der ewige Brunnen. Ein Volksbuch deutscher Dichtung. Gesammelt und herausgegeben von Ludwig Reiners. München: C.H. Beck, 1955, S. 879

Ich habe meine KI-Assistentin gebeten, die Essenz dieses Gedichts zu illustrieren. Sie hat das Gedicht ins Englische übersetzt, daraus eine Zusammenfassung gezogen und diese illustriert.

Faith and Deed

What comes after life is veiled in deep darkness;
What we are duty-bound to do, that alone we know.
No misfortune, no death can steal away the hope,
Of one who believes in doing right, does right to believe joyfully.

(Based on the summary: Philosophical and contemplative illustration
reflecting the theme of faith, deed, and hope.)

Frau

Josep Palau i Fabre

(* 21. April 1917 in Barcelona; † 23. Februar 2008 ebenda)

Frau

Ich kann dieses Feuer –
diese Rose in meinen Händen – nicht löschen.
Ich selbst hab sie gesucht,
und nun gebricht's mir an Wasser.

(ca. 1942)

Nachdichtung von Uwe Grüning, aus: Ein Spiel von Spiegeln. Katalanische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Mit 7 Farbzeichnungen und 3 Collagen von Antoni Tápies. Katalanisch und Deutsch. Hrsg. von Tilbert Stegmann. Leipzig: Reclam, 1987, S. 127

Dona

No puc apagar aquest foc
– aquesta rosa entre les mans.
Jo mateix l'he cercat,
i ara no tinc prou aigua.

Ebd. S. 126

Lange Briefe

Judith Herzberg

(* 4. November 1934 in Amsterdam)

Briefe

Wir wussten nicht, als wir noch lange Briefe schrieben
auf Papier, dass wir die Letzten wären
die einander noch auf diese Weise liebten
mit sorgsam überlegten Worten
die wir meinten.

Aus: Judith Herzberg, Gedichte 1999-2024. Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby. Berlin: Rugerup, 2024, S. 47

Brieven

Wij wisten niet, toen wij nog lange brieven schreven
op papier, dat wij de laatsten waren
die nog op die manier van elkaar hielden
met langzaam overdachte woorden
die we meenden.

Ebd. S. 46

200. Todestag

Schon wieder ein klassischer Todestag, und ein runder dazu. Heute vor 200 Jahren starb George Byron. Ich weiß nicht, ob es eine aktuelle deutsche Werkausgabe des englischen Dichters gibt. Ich besitze nur verschiedene Ausgaben aus dem 19. Jahrhundert. In einer fand ich diese launige und zugleich bissige Literaturkritik in Versen: 7 Werke der zeitgenössischen Literatur um 1816, „besprochen“ in 12 Wörtern.

Versicles

I read the “Christabel;”
Very well:
I read the “Missionary;”
Pretty – very;
I tried at “Ilderim;”
Ahem!
I read a sheet of Marg’ret of Anjou;”
Can you?;
I turned a page of Webster’s “Waterloo;”
Pooh! Pooh!
I looked at Wordsworth’s milk-white “Rylstone Doe;”
Hillo!
I read “Glenarvon,” too, by Caro Lamb;
God damn!

Das Gedicht entstand am 25. März 1817. Erstmals gedruckt wurde es 1830. Die „besprochenen“ Werke sind:

  1.  Christabel, etc., by S. T. Coleridge, 1816.
  2.  The Missionary of the Andes, a Poem, by W. L. Bowles, 1815.
  3.  H. Gally Knight’s Ilderim
  4.  Margaret Holford’s Margaret
  5.  Waterloo and other Poems, by J. Wedderburn Webster, 1816.
  6.  The White Doe of Rylstone, or the Fate of the Nortons, a Poem, by W. Wordsworth, 1815.
  7.  Glenarvon, a Novel [by Lady Caroline Lamb], 1816.

Zwei von den sieben Werken werden gelobt, der Rest ist schlecht, langweilig oder schrecklich. Der Knackpunkt des Gedichts ist das siebte Werk, der Roman Glenarvon von Lady Caro (Caroline) Lamb. Auf Lamb reimt Goddam. Caro Lamb schrieb das Buch nach dem Ende ihrer Affäre mit Byron – Glenarvon soll ein Porträt Byrons sein. Offensichtlich fand er es nicht gut getroffen. Hier die deutsche Version von 1856.

Lektüre bei einem Fieber. 

Ich las den "Christabel" –
Amüsabel!
Ich las auch alsdann den "Missionär,"
Nicht ganz vulgär!
Ich versuchte zu lesen den "Iilderim,"
Sehr schlimm!
Dann las ich in "Margarete von Anjou,"
Kannst Du?
Ich blickt' in "Scott's Briefe von Waterloo,"
So, so!
Ich las auch in Wordsworths Reimerei,"
Ei, Ei!

Aus dem Englischen von Franz Kottenkamp, aus: Lord Byron’s sämmtliche Werke. Ins Deutsche übersetzt von Mehreren. In 12 Theilen mit 11 Stahlstichen. Dritte, gänzlich umgearbeitete, verbesserte und vervollständigte Auflage. Vierter Teil. Stuttgart: Rieger, 1856 , S. 270

Wie man sieht, übersetzt Kottenkamp eine zensierte Fassung (die sich auch im Original im WWW findet), sie endet dort nach „Hillo“ in der drittletzten Zeile mit „&c. &c. &c.“ Die doppelte Affäre mit Lady Lamb und ihrem Buch wurde offenbar aus „Rücksichten“ auf lebende Personen (oder einfach auf Klatsch) weggelassen.

Aus der Ausgabe von 1856

Heftige Sehnsucht

Der japanische Dichter Fujiwara no Atsutada (906-943) gilt als einer der „36 unsterblichen Dichter“ Japans. Heute vor 1081 Jahren ist er gestorben. Eines seiner (zumindest in Deutschland) bekanntesten Gedichte ist in mehreren Anthologien japanischer Lyrik als einziges von ihm vertreten. Die Unterschiede sind so groß, dass man Mühe hat, sie für ein und dasselbe Gedicht zu halten. Ja, in der Sammlung „Japanischer Frühling“ von Hans Bethge (1911) sind zwei seiner Gedichte vertreten. Bei näherer Betrachtung komme ich zu dem Schluss, dass er zwei Versionen desselben Gedichts „nachgedichtet“ hat. Er übersetzte wahrscheinlich nicht aus dem Japanischen, sondern benutzte vorhandene deutsche Fassungen (er nennt Florenz, Enderling, Hauser, Kurth und Lange, die er „verwertet“ habe). Dabei hat er offenbar nicht bemerkt, dass es nur verschiedene Interpretationen desselben Textes sind.

Ich beginne mit einer neueren Ausgabe von 2009, die mit Originaltext und Kommentar ausgestattet ist. Danach die 2 Versionen von Bethge und eine von Manfred Hausmann (1951/1960).

Aimite no / nochi no kokoro ni / kurabureba / mukashi wa mono mo / omowazarikeri

Wenn ich mein Herz 
nachdem wir uns vereint
mit früher vergleiche
wie seicht waren doch alle
meine Liebesgedanken

Aus: Gäbe es keine Kirschblüten … Tanka aus 1300 Jahren. Japanisch/Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Yukitsuna Sasaki, Eduard Klopfenstein und Masami Ono-Feller. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2009, S. 61. (Mehr über die Anthologie im Lyrikwiki). Kommentar:

Entstehungszeit: 1. Hälfte des 10. Jahrhunderts. Gedichte mit ähnlicher Aussage gibt es viele, aber dieses ist wohl das berühmteste. Es wurde auch ins Hyakunin isshu aufgenommen.

Die Interpretationen weichen leicht voneinander ab. Die einen fassen den Hauptgedanken so: Verglichen mit früher ist mein Liebeskummer noch viel größer. Die andern so: Verglichen mit früher weiß ich erst jetzt, was wahre Liebe ist.

SEITDEM ICH DICH LIEBE

Seitdem ich dich liebe,
Vergleiche ich meine Gefühle
Und meine kühnen Gedanken
Mit jenen, die ich früher hegte.

Und ich erkenne,
Daß ich früher
Ganz gedankenlos
Und, ach, ganz fühllos war.

Hans Bethge: Japanischer Frühling. Nachdichtungen japanischer Lyrik. Leipzig: Insel, 1911, S. 63

GESTEIGERTE SEHNSUCHT

Sehr groß war meine Sehnsucht, eh ich zur
Geliebten kam. Doch jetzt, da ich bei ihr
Glückselige Zeit verbringen durfte, bin ich
Wohl ganz beschwichtigt und gestillt? O nein!
Viel mächtiger ist meine Sehnsucht nun,
Viel ungebändigter als je zuvor!

Ebd. S. 64

Was denkt meine Seele nun, 
da ich eine Nacht lang
bei der Geliebten war?
Noch nie hab ich mich so gesehnt,
denkt sie, wie jetzt. Noch nie.

Aus: Liebe, Tod und Vollmondnächte. Japanische Gedichte. Übertr. v. Manfred Hausmann. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1.-4. Tsd. 1951 – 46.-55. Tsd. 1960, S. 16

ich will gut werden in dieser Arbeit

Danae Sioziou

(Geboren 1987, lebt in Athen)

EINBRUCH

während ich meine Haustür aufschließe
denke ich, dass Dichtung ein Privileg ist
wie die viel zu teuren Spielsachen der Kindheit
oder deinen Lieblingssong zu hören, zum hundertsten Mal
unter optimalen akustischen Bedingungen
wie ein Kuss von der Liebe deines Lebens
wie Millionen glitzernder Ponys
wie Leben auf anderen Planeten
wie Scharen von Blitzen in der Ferne
wie der Honig, der sich gänzlich im Tee auflöst
und ich schreibe gerne Gedichte
wie ich gerne im Gras liege
Pudding mit Aprikosen esse, Hunde streichle
und auch wenn die Menschen nicht gerne Gedichte hören
ich mag diesen Klang
die Art, Wörter aneinander zu reihen
die Art, eine Tür aufzuschließen mit Schlüsseln
für ein einbruchsicheres Haus
ich schreibe gerne Gedichte
wie Katzen sich gerne in der Sonne lecken
und ich will gut werden in dieser Arbeit
will gut werden in dieser Arbeit

Aus: Danae Sioziou: Mögliche Landschaften. Gedichte. Aus dem Griechischen von Elena Pallantza und Peter Holland. Köln: parasitenpresse, 2024 (die nummernlosen Bücher), S. 55

Blind

Zum Welttag der Stimme (World Voice Day) ein Gedicht von Norbert Lange, gelesen mit der Stimme von Valeri Scherstjanoi.

>> BLIND<<

für ihre schönheit blind, muss blind gewesen sein;
vor leidenschaft fast blind, ich müsste denn blind sein!
der blind dem trieb zu bösen taten folgt, dass ich taub und blind,
bin ich denn blind? da wart und guck ich blind mich!
plutos, alt und blind. so ist er denn wirklich blind?
dann blind in der irre, zeus selber ist blind.

blind soll er wieder werden, der auf einem auge blind war.
dass du blind wärest, für seine eigenen angelegenheiten blind.
wenn schon, dann nur blind.
schwachsinnig ist der maulwurf von natur und blind.
blind entfährt die waffe der hand, blind in ihrer liebe zu iason;
dein unglück macht dich blind.

der stab ist blind, wo ich doch schwach nur sehen kann,
der ich blind mich bewege am stock, wart ihr blind.
jawohl, der soll blind sein! tritt auf, blind, wenn auch blind
blind gegenüber allen erfordernissen. nicht ich mache den jungen dir blind,
wenn auch blind, blind gewesen war. dass du blind bist:
da du so blind bist? blind, so blind, sie müssten denn selbst alle blind sein?

nicht eben blind; nicht viel besser als blind.
du bist blind an deinem seelenauge, ich hingegen sehe sehr gut.
wie ich höre, auch blind und taub? bin ich dir so blind als du mich siehst?
und zu allem dem noch lahm und beinahe blind.
du sollst blind gewesen sein, sagt man.
du bist, wenn ich nicht sehr blind bin, aus einem weißen stein

Aus: Norbert Lange: Das Schiefe, das Harte und das Gemalene. Kunstkammer. Wiesbaden: luxbooks, 2012, S. 68

ich sehe aus wie Thomas Bernhard

Clemens Schittko

ich sehe aus wie Thomas Bernhard 
aber ich bin nicht Thomas Bernhard
ich sehe lediglich so aus wie er
doch wie gesagt: ich bin es nicht
obwohl ich so aussehe ...
und deshalb auch Thomas Bernhard sein könnte
doch wie gesagt: ich bin es nicht
warum sollte ich auch Thomas Bernhard sein?
das ergibt doch überhaupt keinen Sinn
Thomas Bernhard ist schließlich tot
während ich noch am Leben bin
dieser Text ist der Beweis
und deshalb kann ich auch nur immer wieder sagen,
dass ich zwar wie Thomas Bernhard aussehe,
aber letztlich nicht Thomas Bernhard bin
ja, so ist das
ich bin nicht Thomas Bernhard
obwohl ich so aussehe wie er
doch wie gesagt: ich bin es nicht
ich sehe lediglich so aus
das ist aber auch schon alles
ansonsten gibt es nämlich keine Gemeinsamkeiten
THOMAS BERNHARD UND ICH. 
Thomas Bernhard ist Thomas Bernhard
und ich bin ich
so war es immer gewesen
und so wird es auch immer sein
deshalb sollte man jetzt gar nicht erst versuchen,
irgendwelche Zusammenhänge herzustellen
denn ich sehe zwar aus wie Thomas Bernhard
doch wie gesagt: ich bin es nicht
das ist doch eigentlich ganz einfach
ich vers[t]ehe daher nicht,
wie es Leute geben kann,
die das nicht verstehen
doch wie dem auch sei
die Hauptsache ist
dass ich zumindest weiß,
dass ich nicht Thomas Bernhard bin
obwohl ich so aussehe ...
ja, ich sehe so aus wie Thomas Bernhard
doch wie gesagt: ich bin es nicht
mehr ist zu dem Thema nicht zu sagen

Aus perspektive #118, 1/2024, S. 82

Kaum habe ich die Lampe ausgelöscht

Christine Lavant 

(* 4. Juli 1915 in Großedling bei St. Stefan im Lavanttal; † 7. Juni 1973 in Wolfsberg)

Kaum habe ich die Lampe ausgelöscht 
gehn meine beiden dummen Augen über
und eine Maus nagt unter meinem Bett.
Doch greift dann niemand, wie bei meinen Schwestern,
durchs Dunkel her und fragt: Bist du denn traurig? –
Und niemand stellt mir Mäusefallen auf.
Da wundern sich die Leute, daß mein Fenster
oft bis zum Morgenrot erleuchtet ist.

Aus: Christine Lavant, Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte (Werke in vier Bänden, Band 1). Göttingen: Wallstein, 2014, S. 527

Förderung / Fosterage

Seamus Heaney 

(* 13. April 1939, heute vor 85 Jahren, in Tamniaran bei Castledawson nordöstlich von Magherafelt, County Londonderry, Nordirland; † 30. August 2013 in Dublin)

Das Gedicht, das ich zum Anlass ausgesucht habe, berichtet, wie der ältere Dichter den Jungspund fördert. „Geh deinen eigenen Weg und denke an das, was ich dir erzählt habe.“

Schule des Gesangs 5. Förderung

Für Michael McLaverty

»Beschreibung ist Enthüllung!« Royal
Avenue, Belfast 1962,
Ein Samstagnachmittag; erfreut,
Mich, den Grünling der Sprache, zu treffen, packte er
Meinen Ellbogen. »Hör zu, geh deinen eigenen Weg.
Mach deine eigene Arbeit. Denk an
Katherine Mansfields Ich will erzählen
Wie der Wäschekorb knarrte ... jenen Ton des Exils.«
Aber zum Teufel mit Übertreibungen:
»Laß deinem Kugelschreiber nicht die Adern schwellen.«
Und dann, »Armer Hopkins!« Ich habe die Tagebücher,
Die er mir gab, mit Unterstreichungen, sein verbognes Selbst
Gehorcht ihrem Schmerz. Er bemerkte
Überall die Umrisse der Geduld,
Förderte mich und entließ mich mit Worten,
Die sich auf meine Zunge legten wie Oblaten.

Deutsch von Richard Pietraß, aus: Seamus Heaney: Die Amsel von Glanmore. Gedichte 1965-2006. Herausgegeben von Michael Krüger. Zweisprachig. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2011, S. 111

Singing School 5. Fosterage

For Michael McLaverty

›Description is revelation!‹ Royal
Avenue, Belfast, 1962,
A Saturday afternoon, glad to meet
Me, newly cubbed in language, he gripped
My elbow. ›Listen. Go your own way.
Do your own work. Remember
Katherine Mansfield – I will tell
How the laundry basket squeaked ...
that note of exile.‹
But to hell with overstating it:
›Don't have the veins bulging in your biro.‹
And then, ›Poor Hopkins!‹ I have the Journals
He gave me, underlined, his buckled self
Obeisant to their pain. He discerned
The lineaments of patience everywhere
And fostered me and sent me out, with words
Imposing on my tongue like obols.

Ebd. S. 110