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Veröffentlicht am 12. Dezember 2009 von lyrikzeitung
Fortsetzungsessay von Theo Breuer
habe jetzt einen flow von Gedichten
Friederike Mayröcker
Es regt sich nichts, lese ich in einem Gedicht von Adrian Kasnitz in Den Tag zu langen Drähten (sehr schön in dieser Sammlung von fünfunddreißig Gedichten das Seamus Heaney nachempfundene Gedicht Draht), werde aus der Lektüre herauskatapultiert und lande in den Illmenauer Bergen, wo die Stille unheimlich unheimlich ist:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh’
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde
Warte nur, balde
Ruhest Du auch.
Unheimlich. Mir gefriert das Blut, wenn ich diese Verse lese, und gleichzeitig beginnt es zu wallen. Dieses Gedicht gehört zu den Gedichten, die mich herauszerren aus dem soeben gelebten Moment: Ich schließe die Augen und steige, wie der chinesische Maler in sein Bild, zwischen den offenen Versen in das Gedicht hinein und werde, für Augenblicke, gleichmütig verharrend der Schubertschen Vertonung lauschend, zu diesem Gedicht. In Matthias Kehles Lyrik-Blog lese ich Jaime Gil de Biedmas Worte: Immer dachte ich, daß ich Dichter sein wollte, aber im Grunde wäre ich lieber Gedicht. Aber außergewöhnlich gelungen und besonders originell muß es sein. So wäre ich immer wieder gern Jakob van Hoddis’ 1911 entstandenes Gedicht
Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Das Glücken eines Gedichts wird von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr weniger selbstverständlich. Die ersten Gedichte vor rund dreitausend Jahren zu verfassen war zum einen ein gigantischer Schritt aus der lyrischen Sprachlosigkeit heraus, zum anderen trafen die Verfasser der ersten Verse der Menschheit nicht auf den sich gleichsam permanent potenzierenden Ballast der Tradition. Als Dichter kann ich nicht so tun, als schriebe ich das erste Gedicht aller Zeiten – obwohl ich fürs besondere Gelingen u.a. auch gerade diese Grundhaltung brauche.
Ich setze mich beim Schreiben unablässig auseinander mit der Geschichte der für mich erreichbaren universalen Lyrik aus aller Welt, mit dem mittelalterlichen, barocken, romantischen, klassischen, dem modernen, postmodernen und zeitgenössischen Gedicht, mit Hans Arp, Gottfried Benn, Rolf Dieter Brinkmann, Paul Celan, Annette von Droste-Hülshoff, Hans Magnus Enzensberger, Elke Erb, Peter Ettl, Walter Helmut Fritz, Friedrich Hölderlin, Ernst Jandl, Thomas Kling, Axel Kutsch, Else Lasker-Schüler, Christoph Meckel, Helga M. Novak, Oswald von Wolkenstein, Oskar Pastior, Rainer Maria Rilke, Jan Röhnert, Walle Sayer, Kurt Schwitters, Georg Trakl, Christian Uetz, Olaf Velte, Walther von der Vogelweide, Uljana Wolf, Annemarie Zornack (usw.), entscheide bei jedem Gedicht, ob ich auf das Gedicht verzichte, das, für sich betrachtet, keineswegs mißlungen sein muß, gemessen an bereits geschriebenen vergleichbaren Gedichten aber nicht unbedingt gut abschneidet, näher betrachtet also nicht notwendig ist und unveröffentlicht bleiben kann.
ihre dichtung hat eine meinen hals ausrenkende höhe erreicht, die so sehr weiter zu steigern ihre absicht ist, daß sie das alter von 150 zu erreichen proklamiert hat.
Ernst Jandl
Friederike Mayröcker (Wörter wie rasende Sternschnuppen niederprasselnd) überlegt sich vermutlich eher selten, ob sie auf ein Gedicht verzichtet – wie auch, arbeitet sie doch Tag für Tag immer bloß an dem einen Gedicht, das sie früh erfunden und lebenslänglich veredelt hat. Ruhig lächelnd sehe ich sie in diesem Augenblick konsequent und lässig ihr mit Komma abgetrenntes, unverwechselbares usw. auf das in die Schreibmaschine eingespannte Blatt tippen.
Seit mehr als sechzig Jahren schreibt sie an diesem work in progress, ohne daß ich je Ermüdungserscheinungen in ihren freimetrischen, langzeiligen, zwischen Synästhesie und Katachrese schwingenden Gedichtmontagen entdeckt hätte. 2009 erweitert sie mit Scardanelli und dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif ihr in jeder Beziehung großes Werk um zwei weitere Bücher, deren virtuose Verwandlung der mit jedem Tag als immer zersplitterter erlebten Welt in Mayröckers Sprache mich wie jedes Mal bezaubern.
Ist Dichtung eine Form der Berührung von möglichen und wirklichen Welten? Ähnlich äußerte sich Friederike Mayröcker (die Titel locken aber die ungeheuren Bücher ungelesen, auf dem Fußboden neben dem Bett), die in ihren neuen Gedichten so frisch und luftig und befreiend wirkt wie eh und je. Was aber sind mögliche Welten, was wirkliche Welten? Sie wird es nicht wissen, ich weiß es nicht. Es ist auch nicht weiter wesentlich. Es gibt, glücklicherweise, diese dritte Welt, in der sich die beiden Welten berühren, zu einer neuen verschmelzen. Und was für einer.
Was Friederike Mayröcker mir an lyrischen Berührungen und poetischen Verschmelzungen schenkt, kann ich mit Wörtern schwer bloß beschreiben. Bei Richard Dove heißt es in einem Gedicht des großartigen Gedichtbuchs Syrische Skyline: FM c’est moi. Total und ursprünglich wirken diese in schwungvoller Sprache und kapriziöser Form entworfenen, stets unvermittelt einsetz|endenden Gedichte, deren Sound sich entfaltet aus durch Alliteration, Anapher, Antithese, Assonanz, gelegentlich aufblitzendem Binnenreim, Paronomasie, Variation, Worthäufung, (verfremdetes, übermaltes) Zitat usw. verknüpften Assoziationen, in denen buchstäblich ALLES zwischen Himmel und Erde – Alltag, Begegnung, Ekstase (T. S. Eliots grimmigem Gedichtauftakt April is the cruellest month begegnet sie trunken frohlockend: mich betäubt dieser April dieser süsze Monat so grün und zart), Emotion, Erinnerung, Farbe, Freundschaft, Liebe, Literatur, Korrespondenz, Kunst, Melancholie (ich weine viel), Musik, Natur (Baum, Vogel, Pflanze), Reise, Sehnsucht (ich möchte leben Hand in Hand mit Scardanelli), Sprache, Traum, Umwelt, Wind und Wolken, Zufall, »usw.« – zu einem großen Ganzen zusammenfließt und die mich so teilhaben lassen an der Erschaffung dieser dritten Welt mit Namen Freiheit: Ich lasse mich von meiner Sprache tragen, als sei ich ausgestattet mit Fittichen und es trüge mich in die Lüfte, aber ich sehe es nicht und es musz von alleine kommen ..
Friederike Mayröcker, die sich zu ihr Werk beeinflussenden Menschen wie H. C. Artmann, Roland Barthes, Hélène Cixous, Jean Cocteau, Jacques Derrida, Gerhard Rühm, Friedrich Hölderlin, Ernst Jandl, Marguerite Duras, Jean Paul Sartre, Arno Schmidt und Gertrude Stein bekennt, gehört zu den von mir ganz besonders bevorzugten Lieblingen unter den Lyrik schreibenden Menschen. So lautet mein radikal subjektives Verdikt naturgemäß: Von der Mayröcker muß ich unbedingt jedes neue Buch lesen. In dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif treffe ich auf Seite 73 das Gedicht
»ich bin in Trauer tiefer als du denkst« (Dusan Kovacivics)
flackernder Schädel, meiner. Ein schräger Schein der Morgen-
sonne im Fenster Viereck graues Gewölk . . die zarte
Figur des Freundes der Freundin, danke mein
Kind : die Stimme am Telefon, der alten Putzfrau der ich versprach
1 wenig Geld, danke mein Kind – es erinnerte mich an
T.S.Eliots Waste Land (danke mein Kind) oh ich sitze im kl.Garten
Am Mittelmeer, heute noch auf dem Wege zu dir aber
Nach Ischl. Die Meridian Rede des Paul Celan, hingeworfene
Vögel. Trage die alten Kittelchen : seien wärmer als frisches
Gewand usw., (be)schreibe die Wirklichkeitsform, sah aus dem blutenden
Fenster mit entzündetem Vergnügen und es heult der Wind (»will
Immer studieren«) zieh mich rasch an / religiöses Wolkenmeer, denke
so viel an dich möchte dich wiedersehen, so verzaubert die
Schreibkammer dasz ich weinen musz . . dies getippteste
Begräbnis : eine Art Waldes Maschine, wie die Wolken rasen
über den Himmel, als ich im kalten Zimmer (in Nässjö)
unter die Decke (raubte) verlesen während
die Schwalben funkelten und ich im Kalender schaute der wievielte
August, Klaus Schöning sagte in unserem Alter ist alles symbolisch
6.08.05
Thomas Kling unterstreicht: Die Mayröcker gehört zu den Unikatkünstlern, und nicht zuletzt dieses Verdienst des unermüdlichen Fortsetzens von Versuchsanordnungen ist es, das ihr seit langem den Respekt von Autoren sichert, die gerade halb so alt sind wie sie oder noch jünger. Sie hat viele beeinflußt, das stellt sich immer deutlicher heraus. Zu diesen zählen u.a. Marcel Beyer, Ulrike Draesner, Michael Donhauser, Thomas Kling, Michael Lentz (Die deutschsprachige Poesie ist derzeit die international bedeutsamste. Allein schon Friederike Mayröcker zu nennen genügt) und Peter Waterhouse. Mit John Ashbery und Les Murray bildet Friederike Mayröcker mein universales Lyrikkleeblatt lebender Dichter. Ich sehe Friederike Mayröcker in ihrer von Büchern, Briefen, Heften, Zetteln übersäten vertrauten Wiener Wohnung vor der Schreibmaschine sitzen, im Hintergrund läuft Musik von Johann Sebastian Bach und ihre Seele spannte / weit ihre Flügel aus, / flog durch die stillen Lande, / als flöge sie nach Haus, usw. –
Kategorie: Australien, Österreich, Deutsch, Deutschland, Englisch, Frankreich, Französisch, GroßbritannienSchlagworte: 2009, Adrian Kasnitz, Annemarie Zornack, Annette von Droste-Hülshoff, Arno Schmidt, Axel Kutsch, Christian Uetz, Christoph Meckel, Elke Erb, Else Lasker-Schüler, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Friedrich Hölderlin, Georg Trakl, Gerhard Rühm, Gertrude Stein, Gottfried Benn, H.C. Artmann, Hans Arp, Hans Magnus Enzensberger, Hélène Cixous, Helga M. Novak, Jacques Derrida, Jaime Gil de Biedma, Jakob van Hoddis, Jan Volker Röhnert, Jean Cocteau, Jean Paul Sartre, Johann Wolfgang Goethe, John Ashbery, Kurt Schwitters, Les Murray, Marcel Beyer, Marguerite Duras, Matthias Kehle, Michael Donhauser, Michael Lentz, Olaf Velte, Oswald von Wolkenstein, Oskar Pastior, Paul Celan, Peter Ettl, Peter Waterhouse, Rainer Maria Rilke, Richard Dove, Roland Barthes, Rolf Dieter Brinkmann, Seamus Heaney, T.S. Eliot, Theo Breuer, Thomas Kling, Uljana Wolf, Ulrike Draesner, Walle Sayer, Walter Helmut Fritz, Walther von der Vogelweide
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Hier gibt es einen interessanten Thread über die Qualität moderner und zeitgenössischer Lyrik, in dem natürlcih auch die Mayröcker erwähnt wird:
http://www.mypoems.de/lyrikers-cafe-bar-f115/moderne-lyrik-t7540.html#p37187
Außerdem findet man hier die erwähnten Gedichtbände:
http://www.mypoems.de/lyrik-f174/friederike-mayroecker-gedichte-t9542.html
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