88. Lesehilfe

Ohne eine Zeile, die überraschend den Verstand durchzuckt und etwas aufblitzen lässt, das man so bisher nie zu sehen wagte, braucht man mit dem Lesen von Gedichten gar nicht erst anzufangen. Das gilt für Hölderlin wie für Gottfried Benn, aber auch für einen jungen Berliner Lyriker wie Steffen Popp. „Tannen im Grenzland, sie brüllten /wie eine Herde, im Sperrdraht“ schreibt er etwa über eine Nachtlandschaft, und schon betritt man „freies Feld, urweltlich ragte / unter dem Mond eine Garage / ein Zwergwürfel, unversöhnt“. Das Leseerlebnis beginnt mit einer Faszination – und es kehrt nach allen Etappen dessen, was man Verstehen nennt, im besten Fall wieder zu ihr zurück: Was Gedichte sagen, sagen sie nur, indem sie Gedichte sind.

Auf dem Weg dazwischen aber sind Erklärungen hilfreich. Zwei Dutzend poetologische Selbstauskünfte zu zeitgenössischen Gedichten hat Thomas Geiger in seiner Anthologie „Laute Verse“ versammelt. Ihr jeweiliger Ehrgeiz, von der autobiografischen Rahmung über die Materialanalyse bis zur Prosaparaphrase, ist so unterschiedlich wie der lyrische Ton, dem die beteiligten Autoren verpflichtet sind, wie ausführliche Werksproben beweisen.

Thomas Kling, Jahrgang 1957, den ältesten – und früh verstorbenen – Dichter, verbindet fast nichts mit der Jüngsten, der 1982 geborenen Nora Bossong. Vielleicht könnten sie sich dennoch auf einen Satz von Max Bense einigen, den Ulf Stolterfoht für „unangreifbar“ hält: „Literatur ist Sprache in einem unwahrscheinlichen Zustand.“ Was daraus folgt, nimmt in Stolterfohts ganz dem Eigensinn von Wörtern und Wortpartikeln gehorchender Sprache ganz andere Formen an als bei der mit erzählenden Elementen spielenden Bossong. Die Schönheit des perfekten Gedichts, erläutert er, vereine maximale Ordnung und Unordnung. Sie zeigt sich für ihn in einem Text, „in dem jedes seiner Glieder mit jedem anderen auf jede erdenkliche Weise verbunden wäre; ein so dichtes Geflecht, dass der ursprüngliche Text hinter einem schwarzen Gitter aus sich kreuzenden Bezügen verschwände – Struktur pur.“ So leuchten einem auch Stolterfohts sonst erst einmal gar nicht einleuchtende Gedichte ein. „Laute Verse“ bietet wertvolle Lesehilfe: Für die junge Lyrik hat es das so bisher nicht gegeben.**

/ Gregor Dotzauer, Tagesspiegel 13.12.2

**) Wirklich nicht? Wie schade! – Ich verweise auf die Anthologie „An Deutschland gedacht“, in der zahlreiche jüngere und auch ältere Autoren mit Text und Selbstkommentar vertreten sind, von den jüngeren nach Thomas Geigers Maßstab (außer Thomas Kling und Kathrin Schmidt, 1957 und 1958, sind alle bei ihm vertretenen Autoren in den 60er und 70er Jahren geboren, nur Nora Bossong jünger, 1982: also jung U 50): Melanie Arzenheimer, Peter Brings, Stephan Brings, Jürgen Brôcan, Uwe Claus, Crauss, Volker Demuth, Alex Dreppec, Ansgar Eyl, Tobias Falberg, Karin Fellner, Anke Glasmacher, Dieter M. Gräf, Stefan Heuer, Marc Hieronimus, Norbert Hummelt. Adrian Kasnitz, Christian Kreis, Stan Lafleur, Anton G. Leitner, Swantje Lichtenstein, Vesna Lubina, Hartwig Mauritz, Frank Milautzcki, Andreas Noga, Lothar Quinkenstein, Heinz Ratz, Arne Rautenberg, Bertram Reinecke, Jan Röhnert, Marcus Roloff, Sabine Römmer, Angela Sanmann, Walle Sayer, Frank Schablewski, Amir Shaheen, Rainer Stolz, Olaf Velte, Achim Wagner, Christoph Wenzel, Ron Winkler, Gerrit Wustmann.

Alle zu vernachlässigen? Wohl kaum. Von einigen werden wir sicher noch hören! Wer weiß schon genau, von welchen? Also empfehle ich neugierigen Lesern und Kritikern,  beide Anthologien supplementär zu benutzen. Lesestoff und Lesehilfe!

Und in Norbert Hummelts Anthologie „Quellenkunde“ findet man poetologische Statements unter dem Quellenaspekt von durchweg jüngeren Autoren aus beiden „Listen“ vereint. Voilà: ein Grenzüberschreiter! Denn, Zufall oder nicht, tatsächlich gibt es keine einzige Überschneidung zwischen den Anthologien von Geiger und Kutsch. Any idea?

Thomas Geiger (Hg.): Laute Verse.
Gedichte aus der Gegenwart. dtv, München 2009.
360 Seiten, 14,90 €.

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