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Zeitschriftenschau
Michael Gratz
Die österreichische Literaturzeitschrift manuskripte erscheint im 57. Jahr. Heft 217 eröffnet mit einer seltenen Marginalie. Die Schriftstellerin Aslı Erdoğan, die im August 2016 in Istanbul verhaftet wurde, schrieb der Redaktion, sie sei stolz, daß zwei ihrer Artikel 2013 in manuskripte publiziert wurden; sie habe sie ihrer offiziellen Verteidigung vor Gericht beigefügt. Inzwischen wurde sie bekanntlich freigelassen und konnte nach längerer Ausreisesperre kürzlich ausreisen. Vor Gericht sagte sie: „Man sollte sich schämen, daß eine Schriftstellerin ihre Literatur in einem Gerichtssaal und flankiert von Gendarmen verteidigen muss“.
Das aktuelle Heft der Zeitschrift veröffentlicht u.a. Prosa von Sophie Reyer und Anja Utler sowie unter mehreren Beiträgen zum Literaturfestival im Rahmen des 50. Steirischen Herbstes Texte von Aslı Erdoğan, Jazra Khaleed und Serhij Zhadan. Von Olga Martynova gibt es Auszüge aus einem für 2018 geplanten Essayband mit dem Titel „Über die Dummheit der Stunde“ (Frühjahr 2018 bei S. Fischer). Abgedruckt ist ein Fragment aus „Probleme der Essayistik“. Die Ähnlichkeit des Titels mit einem Vortrag Gottfried Benns ist nicht zufällig. In Anlehnung an Benns „vier diagnostische Symptome“, anhand derer man erkennen könne, ob ein Text von 1950 „identisch mit der Zeit“ sei oder nicht (1. Andichten, 2. Wie-Vergleich, 3. Farbadjektive, 4. seraphischer Ton), lädt sie den Leser zu analogem Spiel mit der Gattung Essay ein. Lyrik und Essay hätten gemeinsam, daß der Leser zu aktivem Mittun eingeladen sei. „Sie belehren nicht, sie fordern auf, allein zu denken.“ Sie untersucht die (wie erst kürzlich wieder festzustellen war, auch bei manchen Lyrikern beliebte) Meinung, daß man ein „Gedicht“ durch einfaches Ausschneiden aus einem nicht lyrischen Text gewinnen könne. In einem spannenden Experiment entnimmt sie drei philosophischen bzw. publizistischen Texten (Wittgenstein, Benjamin, Marx) sowie erzählender Prosa von Goethe und Kafka kurze Auszüge, teilt sie auf „Verse“ auf und versieht sie mit eigener Überschrift. Das Wittgenstein-„Gedicht“ sieht so aus:
IM SELBEN KÄFIG MIT DEN URZEICHEN SITZEND
Die Bedeutungen von Urzeichen
können durch Erläuterungen
erklärt werden. Erläuterungen
sind Sätze,
welche die Urzeichen
enthalten.
Sie können also nur
verstanden werden, wenn
die Bedeutungen dieser Zeichen
bereits bekannt sind.
Im Ergebnis des Experiments stellt sie fest, daß die aus Erzählprosa gezogenen „Gedichte“ mehr Harmonie aufweisen als die aus der ersten Gruppe. Aus den Erzähltext-Gedichten erfahre man, „was uns der Autor sagen wollte“ (nicht zwar im Sinne einer von der Form unabhängigen Botschaft). In den Texten der ersten Gruppe aber, wenn man sie als Gedichte, also mindestens zweimal, lese, gehe es „ums Ganze“. Im Rhythmus wirkten sie unruhiger und eben „dichter“.
Dann wendet sie sich wieder in Analogie zu Benns „diagnostischen Symptomen“ den Wörtern zu. Im Fall des Essays geht es nicht um die Farbadjektive, sondern um Wörter, „die zusätzlich zu ihrer direkten Bedeutung eine emotionale Ladung haben, wie: Rot, braun, Geflüchtete, die Vorsilbe Post-, Europa oder Integration. Am Auftauchen dieser Wörter in Essays kann man bemerken, wie sich „reine Wortklischees“ in den Text einfügen. Es bestehe immer die Gefahr, daß Wörter die Gedanken „parasitisch ersetzen, statt sie zu transportieren“. „Dass bei einem Gedicht diese Gefahr besteht, wissen alle, die Gedichte schreiben, oder zumindest sollten sie es wissen. Aber auch wenn man, sagen wir, über die aktuelle Weltlage spricht, sollte man aufpassen.“ Von hier aus entwickelt Martynova eine spannende Analyse aktueller Kommunikationsschwierigkeiten im politischen Raum u.a. am Beispiel der Wörter postfaktisch, Elite, Volk oder Revolution. Sie zitiert einen Aufsatz von Pankaj Mishra, der einen überraschenden Vergleich zwischen Donald Trump und Jean-Jacques Rousseau aufstellte. Die Vergleichsebene ist hier der Angriff auf „Eliten“. Mishra löse das Problem nicht, daß die Welt so radikal anders geworden sei, daß eine Beschreibung noch fehle, aber seine große Leistung sei, daß er den Widerspruch offenlege und das ungelöste Problem wenigstens von einer überraschenden Seite zeige. Unbedingt lesenswert: der Auszug sofort, das Buch im nächsten Jahr.
Ich gehe noch einen kleinen Schritt zurück und zitiere aus dem Essay:
„Aber irgendwie sind es immer die ‚anderen‘, die die falschen Wörter verwenden. Es ist einfach, über die Wörter zu spotten, über die sich alle jeden Tag aufs Neue lustig machen (mit ‚alle‘ meine ich Menschen mit ähnlicher Gesinnung wie ich). Die ‚anderen‘ beim falschen Wort zu ertappen ist einfacher: ‚Gutmensch‘, ‚Lügenpresse‘, usw. Doch befällt lexikalische Verkalkung alle Lager. Das Wort ‚Lager‘ gefällt mir nicht. Doch leider stimmt das, Menschen verteilen sich gegenwärtig immer überzeugter auf verfeindete Lager. ‚Die Diskussion in Deutschland (…) ist gegenwärtig in einer Weise zwischen Befürwortern und Gegnern der ‚Willkommenskultur‘ festgefahren, die den wirklich anstehenden Entscheidungen nicht besonders gut tut. Unser Diskussionsklima ist vergiftet durch eine Kultur des Rechthabens und der moralischen Verurteilung der Kontrahenten, die tiefe Wurzeln in der deutschen Tradition hat‘, stellt Stephan Wackwitz (…) in einem Essay fest.‘ “ Wem fallen da nicht neben den politischen Schlachten der jüngsten Zeit auch aktuelle Lyrikdebatten ein? (Na, mir jedenfalls. Dazu vielleicht später!)
Ein Essay von Ilma Rakusa beschäftigt sich mit dem Thema „Die Geschwindigkeiten der Literatur“. Ihr Text liefert schöne Momentaufnahmen klassischer Erzähltexte etwa von Musil, Döblin oder Proust. Mit Zwischenstufen wie Yoko Tawada kommt sie dann zur Lyrik. An dieser Stelle verliert ihr Essay die, wie sage ich? Trennschärfe? Schlagkraft? Ich vermute, daß es an der Auswahl der Autoren liegt, die als Beispiele herangezogen werden. Nach den Klassikern und Meistern der Prosa (Beispiele von 12 Autoren werden genannt) kommen zwei europäische Autoren, Inger Christensen und Dane Zajc – hier überzeugt mich die Anknüpfung noch, wie bei dem angefügten Eduard Mörike – und dann drei lebende deutsche Lyriker, es sind (wer kann es erraten):
Durs Grünbein, Nico Bleutge und Jan Wagner – nein, Marion Poschmann hat auch einen kurzen Auftritt. Diese repräsentieren die Lyrik, flankiert von den Meistern der modernen Prosa und, im Schlußteil, Goethes Faust, Dostojewskis Großinquisitor sowie Samjatins und Orwells Dystopien. Die vier Lyriker, die zu den gefeiertsten und preis“gekrönten“ deutschen Lyrikern der Gegenwart zählen, werden durch den Rahmen quasi feierlich in die Weltliteratur aufgenommen. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden, nur so ein Gefühl, daß sie auf den Höhenkämmen der Weltliteratur vielleicht etwas einsam stehen. Weltliteratur und deutsche Gegenwartslyrik sind etwas ungleiche Partner (ob sie den Status von Christensens „Alphabet“ als eins der „großen Weltgedichte der Moderne“ – Detering – erlangen, bleibt abzuwarten).
Vielleicht muß man ja (bestimmt muß man) sich auf wenige repräsentative Beispiele beschränken, wenn man Bestimmtes mitteilen will. Aber was „repräsentieren“ diese drei oder vier Lyriker? Die deutschsprachige Gegenwartslyrik? So gut wie jeder Kenner wird da Bauchschmerzen haben. Vielleicht nicht weil diese dabei sind, sondern weil so viele nicht dabei sind.
Essay als Kanon, Gesetzestafel, Straße der Besten? Wer ist das Publikum solcher Essays? Mit einigem Schrecken stelle ich mir vor, wie Lehrer und Dozenten diesen Aufsatz benutzen könnten, um im Leistungs- oder Grundkurs Erzähltempi bei Musil, Mann und Döblin zu vergleichen. Und was machen sie mit den Lyrikern? Erfahren sie da etwas über die Poetik der deutschen Lyrik der Gegenwart? Ich fürchte, sie lernen einfach Kanon. Die Lyrik ist rasend schwer, ich kann es nicht alles selbst ausforschen, ich merke mir zu den „wichtigsten“ Autoren einen Satz (die Verfasserin sagt tatsächlich „doch im Trend liegt“ das und das, just im Lyrikteil) und kann mitreden. (Wo bleibt da die bei Martynova der Lyrik zugeschriebene Eigenaktivität, Drang zum Mitdichten?)
Dabei gibt es allein in diesem Heft der manuskripte Gedichte von Nancy Hünger, Georg Leß, Maja-Maria Becker, Uta Gosmann und Wolfgang A. Golznig. Muß ich die alle lesen?
Was, wenn die Kanontexte (nenne ich sie mal so) vor allem zum Grundkurs taugen? (Ich meine gar nicht diese vier AutorInnen, sondern die Reduktion auf sie, wie sie der Lyrikbetrieb vorlebt und Rakusas Essay exekutiert.)
Wäre ein „Betrieb“ und wären Vermittler denkbar, der und die nicht Positionen bestätigen und Kanon zementieren, sondern zu Entdeckungen einladen? Vielfalt statt Ein- (nein, nicht was Sie jetzt denken) -dimensionalität? Neugier auf die Vielzahl der Stimmen, aha, das gibt es und das, manches geht an mir vorbei, was mag noch kommen, vielleicht daß was einschlägt und bei mir bleibt?
Je ein Gedicht von Nancy Hünger und Georg Leß mag das Potential der Eigenerkundung andeuten:
Nancy Hünger
KANN MICH BITTE
jemand vernunft sprechen lehren die sprache
des immer so weiter und ist doch die beste aller
was welt ist möglich es geht uns ja gibt uns ja
geht uns ja gut wenn nur der hunger woanders
nicht wär woanders bäckt man kein gutes deutsch
kann einer mir das maul damit stopfen mehl und
mohn und die knochen zerbacken diese vernunft
ist hungrig kann irgendwer teilen dies brot
für die beste oder die mögliche teile mich
den mäulern und zieh mir die grannen hier
aus dem leib damit ich endlich sprechen lerne
fresse ich unser gutes deutsch kann man mich
bitte lehren was möglich was welt ist woanders:
lehren lieber den tod
Georg Leß
GEGEN DIE ÖFFENTLICHKEIT
auf Marktplätzen wurden ihre Gedichte
bearbeitet mit glühenden Gedichten
mit geschmolzenen Gedichten
gehängt in massiven Gedichten
an hoch aufragende Gedichte, schreckte einige von etwas ab
sind echte Gedichte da drin? fragt blinzelnd
ein Kind sich am Markttag
Ein Wort noch zu Wolfgang A. Golznig. Herausgeber Alfred Kolleritsch teilt mit, daß der ihm 1975 als 18jähriger Gymnasiast unaufgefordert eigene Gedichte gezeigt habe und das bis 1978 (im Heft steht fälschlich 1968) beibehalten habe. Dann habe er aufgehört zu schreiben, Kolleritsch habe ihn noch bedrängt, aber er habe nur mit einem Lächeln geantwortet. Im Mai diesen Jahres sei er im 58. Lebensjahr tot aufgefunden worden. Die Zeitschrift druckt Gedichte und einen Prosatext „Aus dem Leben & Tod des Gustav Mahler“. Besonders ein Gedicht aus sieben Strophen, „seven poets crossing the Alps“ fesselte meine Aufmerksamkeit und verlangt fernere Erkundung.
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