L&Poe-Rückblende Mai 2001

8 gegen 58. Der Georg-Büchner-Preis für Männer

So überschreibt Iris Radisch einen Kommentar zum Büchnerpreis für eine Frau. Die Zahlen bezeichnen das Verhältnis weiblicher zu männlicher Preisträger. Wenn Frau Radisch schreibt: „Nachdem Grass, Walser, Enzensberger, Müller, Strauß und Handke schon dran waren, kamen sogar Autoren wie Wolf Biermann und Arnold Stadler zu Ehren.“, kann sie breiter (vielleicht nicht in jedem Fall liebsamer) Zustimmung sicher sein. Weniger vielleicht mit ihrer Meinung zu der diesjährigen Preisträgerin Friederike Mayröcker (die nicht zufällig so lange vergessen worden sei) und zum „Machismus“, der in dieser Preispolitik steckt. Dennoch oder deshalb ist dies der wichtigere Teil ihres Kommentars (in der Zeit vom 10.5.). Ein schöner Satz: „Nicht selten tun die Frauen, wovon die Männer nur reden: die Welt auf den Kopf stellen.“

Beim Lesen dieses Kommentars fällt mir ein Name ein, der ebenfalls lange „vergessen“ wurde und, täusche ich mich nicht, geringe Chancen auf Berücksichtigung im Büchnerclub hat. Es ist der Name eines – Mannes, der in einigen Tagen seinen 70. Geburtstag begeht:  Manfred Peter Hein, der in Ostpreußen geborene, in Finnland lebende Dichter. Was Frau Radisch schreibt, paßt auch hier: „Das Große wird klein, das Kleine groß, Poesie wird Politik, Politik Poesie. Ein Dummkopf ist, wer denkt, dass das einem Georg Büchner nicht gefällt.“

Herrenzimmer-Krampf

In der „Welt“ schreibt Eckhard Fuhr an Marcel Reich-Ranicki über sein Brecht-Duett so: „Seine herrlichen erotischen Gedichte, fügten Sie hinzu, hätte Brecht nicht schreiben können, wenn seine große Liebe zu den Frauen nicht gewesen wäre.

Geahnt hatte ich diesen Zusammenhang schon. Große Liebe, große Lyrik. Das funktioniert nicht bei jedem. Deshalb können wir den Dichter Brecht nicht genug bewundern. Trotzdem hat mich das, was sie sagten, irgendwie frustriert. Warum habe ich mir eigentlich all die Mühe mit Brecht gemacht? Wenn ich gewusst hätte, dass der Kern des Brechtschen Werkes der Versuch ist, das lyrisch festzuhalten, was er sonst nicht halten konnte – wie Sie das Wort Samenerguss aussprechen, das ist unvergleichlich – hätte ich mir das erspart. Gleichwie: Sie haben mich gut unterhalten. Nur eine Bitte am Schluss: Sprechen Sie nicht mehr von Damen, wenn Sie von Frauen reden. Das ist Herrenzimmer-Krampf.“ / Die Welt 30.5.01

Genie und Wahnsinn: Emily Dickinson

The connection between Dickinson’s moods and her poems has long been a subject of interest but has never before been quantified. In the new research, John F. McDermott, professor emeritus of psychiatry at the University of Hawaii School of Medicine in Honolulu, examined whether there was a seasonal pattern to when Dickinson (1830-1886) wrote her poems.
The analysis suggest that Dickinson’s „creative genius was ignited“ in 1862, in the middle of an eight-year period when she wrote most of her work, McDermott said. Generally, during this period, Dickinson was much more prolific during the spring and summer and much less productive in the winter, he found.
„One can speculate she had winter blues or depression, but at the same time, in the spring and summer, she had a flash of creative energy,“ McDermott said in a telephone interview. „There was an overriding of that winter lapse. She wrote all day long — she wrote a poem a day. If she saw the chestnut tree in bloom, she would say the sky was in bloom. She had more intensity and enthusiasm about life. She had a change in mood, a cognitive change.“ / Washington Post 14.5.01

Lyrikwart

Ein wenig anmaßend erscheint es zwar schon, wenn der selbst ernannte Lyrikwart Gernhardt in seiner privaten Versbau-Werkstatt ausgerechnet an einem Werk des vollendeten Stilisten Durs Grünbein herumbastelt, doch mit viel gutem Willen konnte man dabei noch einen selbstironischen Unterton heraushören. / Dies & andres meint Christoph Schröder in der FR über den Frankfurter Poetikdozenten Robert Gernhardt (31.5.01)

Robert Gernhardt spricht mit der „Weltwoche“ über die Lage der Lyrik. Statt alte oder neue Ordnungssysteme zu nutzen, produziere der „Mainstream“ ein „aufgeladenes Rauschen“. Für Anführer solchen Mainstreams erklärt er Thomas Kling sowie die diesjährige Büchnerpreisträgerin:

„Für einen komischen Autor ist es nahe liegend, die bewährten Techniken zu benutzen. Zudem: Keiner von ihnen käme mit diesem aufgeladenen Rauschen durch. Er will verstanden werden, und darauf kommt es beim Mainstream heutiger Lyrik überhaupt nicht an. Ich habe von der diesjährigen Büchnerpreisträgerin Friederike Mayröcker noch nie eine Zeile gelesen, die mich berührt, belehrt oder belustigt hätte. Aber ich kenne viele kluge Geister, die sich in   diese Texte rein- und sogar wieder rauslesen können.“ / „Weltwoche“ Nr. 21/01, 23.5.2001

Thomas Kling macht sich stark für die poetische Avantgarde

Er verabscheut die sichere Distanz nicht weniger als das gesponserte Experiment. Modische Posen für den risikolosen Erfolg sind ihm ebenso verhasst wie verklemmte Volksbildner. Wenn Thomas Kling vom allseits beliebten „Abqualifizieren der ästhetischen Avantgarden“ spricht, erfasst ihn, der von sich behauptet, gar kein „Avantgarde-Fetischist“ zu sein, heiliger Zorn. Denn die einst von der Gruppe 47 gesetzten literarischen Maßstäbe geisterten, so Kling in seinem Essayband „Botenstoffe“, immer noch durch Kritikerköpfe und seien dafür verantwortlich, dass die deutschsprachige Lyrik mindestens 15 Jahre auf der Stelle getreten sei.

Um dem von ihm konstatierten „Avantgarde-Bashing“ entgegenzutreten, entwickelt Kling auf mehr als 200 Seiten ein polyphones, sprach- und poesiegeschichtliches Netzwerk. Provokant und selbstbewusst schlägt er den Bogen vom Barock-Gedicht des 17. Jahrhunderts bis zur spoken poetry dieser Tage. Dabei spart er nicht mit Lob und Tadel. In teils kritisch-essayistischen, teils assoziativ-polemischen Betrachtungen und Notaten legt er seine poetischen Wurzeln frei, offenbart Affinitäten und Parallelen zu Vorbildern und Kollegen und demontiert Autoren bis zur Kenntlichkeit. / Thomas Kraft, Potsdamer Neueste Nachrichten 19.5.01

Wadî Saâdah

verzichtet radikal auf orientalische Emphase, entscheidet sich für teilweise surrealistisch anmutende Bilder, die er aber unzweideutig verbindlich einsetzt. Seine Qual breitet er nicht wortreich aus; der Schmerz sitzt in den Wurzeln des Textes. / Dieter M. Gräf, Die Welt 12.5.01

Zum 70. Geburtstag des Dichters Manfred Peter Hein

ein Artikel von Wulf Segebrecht. Über das Gedicht „Himmelsbleiche“ (aus dem Band „Hier ist gegangen wer“, soeben bei Ammann erschienen) heißt es da: Ein illusions-, aber doch nicht trostloses Resümee zu Beginn des neuen Jahrtausends. Manfred Peter Hein bezieht sich dabei („der Eisheiligen Kind / Mai einunddreißig“) auf seinen eigenen Geburtstag: Heute vor siebzig Jahren wurde er geboren. Höchste Zeit, ihm zu sagen: Wir zählen auf ihn. / FAZ 25.5.01

Auch die Neue Zürcher gratuliert: „Einmal hat dieser Dichter, der dem unseligen «Ostlandtraum» eine so produktive Wendung gegeben hat, indem er sich den poetischen Osten und Norden angeeignet und den deutschsprachigen Lesern zum Geschenk gemacht hat, einmal hat Manfred Peter Hein Ostpreussen besucht. Das Gedicht «Memorial» erzählt davon. «Liebe totgebettet lang schon vor Abend / Heimat kein Land mehr ringsverstreute Glieder / Disiectae Membra Patriae Heimwehland», heisst es darin. Von den Orten der Kindheit sind nur Fetzen geblieben, See, Strom, Bruch, Haff, Meer; ihre Beschwörung im Wort ruft keine Erinnerung hervor, nur die unabweisbare Erkenntnis: Das alles ist verloren, die Vergangenheit mit der Gegenwart. Ein anderes Gedicht, ein «Psalm», wird von zwei Imperativen unterbrochen. Der erste lautet «Sprich», der zweite «Schweig». Die Kunst Manfred Peter Heins liegt darin, beiden Anordnungen Folge zu leisten: Seine Texte sprechen schweigend, und sie schweigen in seiner Sprache.“

Manfred Peter Hein: Hier ist gegangen wer. Gedichte 1993-2000. Mit einem Nachwort von Andreas F. Kelletat. Ammann-Verlag, Zürich 2001. 112 S., Fr. 32.-. 25. Mai 2001 /Martin Ebel, NZZ 25.5.01

Eine „Renaissance der Deutschschweizer Lyrik“

beobachtet Reto Sorg in der NZZ vom 26.5. in der Gestalt von Christian Uetz, Raphael Urweider und Armin Senser:

1963 im thurgauischen Egnach geboren, ist Christian Uetz Dichter mit Leib und Seele. Wie die alten Rhapsoden kennt der studierte Altphilologe seine Texte par cœur . Wenn er vorträgt, hört und sieht man ihn, doch kein Papier. Die Emphase, die Uetz ins Werk setzt, kommt von Hölderlin und Celan her. Der sprachspielerische Furor erinnert an die Österreicher, an Jandl , an Artmann: «Hölder; schönsterrre Schwahn des Abelnlahn; / Könixkran Cselahn».

Uetz‘ sprachbesessene Aufstände, Urweiders luzide Erzählbilder und Sensers schillernde Lyrik- Ideen markieren avancierte Positionen zeitgenössischer Lyrik. Sie zeigen, was zurzeit im Gedicht möglich ist – und das ist nicht wenig. So bildet ihre Lektüre auch die besten Voraussetzungen zu erkunden, was im Gedicht noch möglich wäre. Die Zukunft gehört den Belesenen.

Das Gedicht hat heute wieder eine Chance. Vielleicht, weil man von ihm lange Zeit nichts mehr gefordert hatte. Jörg Drews spricht gar von der «neuen Unersetzlichkeit der Lyrik ». Tatsächlich leistet weder die erzählende noch die diskursive Prosa, was das Gedicht vermag: Zu affizieren, den Moment zu treffen und einzufangen und zu lösen, was untrennbar scheint: von den Wörtern die Bedeutungen.

Worte tanzen nackt: Pfingstwunder beim Bremer Lyrikfestival

Es sei gut zu wissen, so später der Bremer Autor Michael Augustin in einem pointensicheren Gedicht, „daß alle zwölf Sekunden / irgendwo auf der Welt / ein Gedicht geschrieben / aber nur alle einhundertdreißig Minuten / eines gelesen wird“. (…)
… der Koreaner Ko Un: „Zuletzt, verstummend, stirbt der Dichter, / um wiedergeboren zu werden als Gedicht. / Ist er für immer am Nachthimmel ein verläßlicher Stern.“ Ko Un, vom früheren südkoreanischen Regime gefangengenommen und gefoltert, heute Vorsitzender des südkoreanischen Schriftstellerverbandes, bot schon durch die furiose Art seines Vortragens einen Höhepunkt des Festivals. (…)

Der neunundsechzigjährige Autor Adrian Mitchell berät poetologisch Paul McCartney, tönte und bewegte sich stellenweise wie ein Blues-Sänger und sprach: „Lauter nackte Wörter und Leute tanzen zusammen. / Das gibt bestimmt Ärger. / Da kommt schon die Poesie-Polizei! / Einfach weitertanzen.“ Daß er schon 1965 in der Royal Albert Hall siebentausend Zuhörer begeisterte, konnte der Hörer sich auch im Bremer Schauspielhaus ausmalen.

Es handelte sich in Bremen um einen kairos des deutschen Literaturbetriebes. Und schließlich fällt auch der Rezensent erschöpft aus seinen prosaischen Schuhen und resümiert: Und mächtiger strömet die Weser / umgarnen sie Dichter und Leser. /MARTIN THOEMMES, Frankfurter Allgemeine Zeitung , 23.05.2001

„What is poetry?“

fragte auch der britische Lyriker Adrian Mitchell in einem Gedicht. Seine dionysische Antwort: „Naked words, dancing together“, nackte Wörter, die miteinander tanzen. /Thorsten Jantschek, Die Welt 21.5.01

Ein ganz anderer «Hans Heimatlos»

aus der Generation der lyrischen Nachgeborenen wird in der Literaturzeitschrift «die horen» (Nr. 201) vorgestellt: Es geht um Uwe Kolbe, der einst von Franz Fühmann zur grössten Hoffnung der jungen wilden DDR-Lyrik ausgerufen wurde. In einem ungeheuer materialreichen Gespräch – neben Kolbe werden in den «horen» noch fünf weitere Autoren mit DDR-Sozialisation vorgestellt – skizziert Uwe Kolbe die Urszenen seiner literarischen Biografie. Der naiv-enthusiastische Dichter, für den zehn Jahre lang der Prenzlauer Berg das Zentrum seines Lebens und seiner Poesie bildete, schien in der DDR trotz poetischer Aufsässigkeit und auch politischer Oppositionslust auf einem Königsweg zu wandeln. Es genügte aber eine kurze S-Bahnfahrt im April 1982 nach Westberlin, um das Weltbild des Dichters auf den Kopf zu stellen. Für die sozialistische Utopie war Uwe Kolbe fortan verloren. Seit er 1986 mit einem Dauervisum in die Welt des Westens aufbrach und schliesslich in Tübingen landete, haben sich seine Gedichte verändert. Das Aufgeregte und expressiv-Stürmische seiner frühen Gedichte ist einer lyrischen Gelassenheit gewichen, die nach weicheren Melodien und ruhigeren Rhythmen sucht. «Vielleicht», so Kolbe, «ist das Gedicht ein Moment der Aufmerksamkeit… Aufmerksamkeit ist das Gebet der Seele…» / Michael Braun, Basler Zeitung 19.5.01

Johannes Poethen gestorben

Der Lyriker und Essayist Johannes Poethen erlag gestern im Alter von 72 Jahren einer schweren Krankheit, teilte das Stuttgarter Schriftstellerhaus unter Berufung auf Familienangehörige mit. Poethen veröffentlichte mehr als 25 Gedicht- und Essaybände, die auch ins Englische, Polnische, Griechische und Arabische übersetzt wurden. Sein Werk ist vor allem von der griechischen Mythologie und moderner französischer Lyrik beeinflusst. /dpa 10.5.01

Aus: Meteorit

Meteorit bedroht die erde
ach diese außenseiter
wir machen das besser selbst.
* * *
Was wir hier sind
wir schießen ihn einfach weg
hei wie lachen da die sternlein.
* * *
So schnell kannst du gar nicht hinsehn
erst die saurier
dann die bäume
jetzt der homo sapiens sapiens.
* * *
So weit darf es nicht kommen
wachset und mehret euch
damit wir uns vorher
aufgefressen haben.
* * *
Vielleicht züchten sie doch noch
ganz große menschen
die tun dann großes
ganz großes.
* * *
Großer gott
rom wird auch nicht
an einem tag zerstört.
* * *
Auch dieser meteorit
flog an uns vorüber
da können wir wieder
richtig zuschlagen.

Zum Tode von Johannes Poethen: FAZ 10.5. (Harald Hartung)

Außerdem gestorben im Mai 2001

  • 4. Mai Rudi Strahl, DDR-Dramatiker, Erzähler und Lyriker (69)
  • 7. Mai Boris Ryshij (Борис Рыжий), russischer Dichter (26)
  • 10. Mai Lucifero Martini, italienischer Schriftsteller, Dichter, Journalist (* 1916)
  • 13. Mai Viktor Gontscharow (Виктор Гончаров), russischer Dichter, Künstler (80)
  • 19. Mai Hans Mayer, deutscher Literaturwissenschaftler, Jurist, Sozialforscher, Kritiker, Schriftsteller und Musikwissenschaftler (94)

 

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