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Ein wichtiger Essay von Paul-Henri Campbell auf Fixpoetry, hier ein paar Auszüge:
(…) Enttäuscht von halbherzigen offiziösen Unternehmungen durch verwaltete Kultur interkulturellen Austausch herzustellen, begründet der syrische Lyriker [Fouad El-Auwad] 2005 in München den ›Deutsch-Arabischen Lyrik-Salon‹.
An den ersten Veranstaltungen im Literaturhaus München nahmen namhafte Schriftsteller und Intellektuelle teil – wie Adonis, Fuad Rifka, Raoul Schrott sowie die Joachim-Ringelnatz-Preisträgerin Ulrike Draesner und der Lyriker Ludwig Steinherr.
Das Konzept ist denkbar einfach: Das Medium der Begegnung ist die Sprache. Als syrischer Christ weiß Fouad El-Auwad, wie stark die europäische Perspektive auf seine Muttersprache geprägt wird von der Annahme, alles Arabische sei synonym mit dem Islam.
Er übersetzt die deutschen LyrikerInnen ins Arabische und die arabischen LyrikerInnen ins Deutsche. Auf diese Weise entstanden bisher fünf umfangreiche Anthologien, die als Dokumente dieser Begegnungen bestehen bleiben – jüngst die Sammlung »die Kerze brennt noch« (2014).
So ist Fouad El-Auwad bemüht den ›deutsch-arabischen Lyrik-Salon‹ im Geiste eines offenen Forums zu gestalten, worin zum Beispiel arabisch schreibende Juden neben deutschschreibenden Muslimen oder auf dieser oder jener Sprache schreibende Christen treffen, um sich über die künstlerischen, politischen und kulturellen Möglichkeiten und Bedingungen ihrer Poesien auszutauschen.
Beschaut man die Gästeliste, die sich über die Jahre hin stetig verlängerte, findet man zahlreiche Namen von bedeutenden Lyrikern sowohl aus dem arabischsprachigen Raum als auch aus dem deutschsprachigen Raum.
Neben Adonis besuchten beispielsweise die Dichterin und Filmemacherin Nujoom Ghanem aus Dubai den Salon oder die Marokkanerin Aisha Bassry, über die die Zeitschrift ›World Literatur Today‹ einmal gesagt hat, sie sei die hoffnungsvollste Stimme aus Nordafrika. Oder der Dichter und international bekannte Professor für arabische Literatur der Universität Rabat Mohamed Bennis. Die Liste der arabischen Autoren ist lang und umfasst auch Größen wie Fatima Mohamad, Maram Massri und viele andere mehr.
Aus Deutschland nahmen etwa Teil Reiner Kunze, der zahlreiche Auszeichnungen für sein Werk erhalten hatte, darunter nicht nur der Friedrich-Hölderlin-Preis, sondern auch das Bundesverdienstkreuz; oder der Münchner Autor von 16 Gedichtbänden und Mitglied der Bayerischen Akademie der schönen Künste Ludwig Steinherr; sowie Ulrike Draesner, deren neuer Roman ›Sieben Sprünge vom Rand der Welt‹ kürzlich für den Frankfurter Buchpreis nominiert worden war und gleichfalls mit Fragen von Identität und Herkünftigkeit ringt.
Der Lyrik-Salon hatte aber auch immer ein Ohr für die Zwischentöne, für alle Autoren, die zwischen den Kulturen schreiben, wie etwa den Lyriker Richard Dove, der Enzensberger, Michael Krüger und viele andere deutsche Autoren ins Englische übersetzt hatte. Oder die in Aachen lebende tschechische Autorin Klára Hůrková, die in Frankfurt lebende Türkin Safiye Can, die Rumänin Francisca Ricinski und viele andere international wirkende Autoren. (…)
Der deutsch-arabische Lyrik-Salon ist daher ein Phänomen, das für die Literaturgeschichte der Gegenwart in Europa kennzeichnend ist. Er ist eben das, was die Signatur unserer Zeit wird. Es ist notwendig zu begreifen, dass Deutschland (und viele Teile Europas) gegenwärtig eine Phase in seiner Entwicklung vollzieht, die die Vereinigten Staaten von Amerika, England oder andere Kolonialmächte sehr viel früher erlebten.
Deutschland ist ein Schmelztiegel der Kulturen (geworden). Verspätet. Lange ohne die tatsächliche tiefgreifende Veränderung der Gesellschaft anzuerkennen, ohne diese unumkehrbare und bereichernde Veränderung zu sublimieren und sie stattdessen als bloße »Einwanderung« abzutun und zu »diskutieren«, sie als etwas, das der Justierung an eine vermeintliche Leitkultur »noch« ermangelt, kleinzureden. (…) / Paul-Henri Campbell, Fixpoetry
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