72. Lyrikstationen 2009: Einleitung

Fortsetzungsessay von Theo Breuer

Im Wortgestrüpp · Landen · usw.

Reich bin ich durch ich weiß nicht was,
man liest ein Buch und liegt im Gras.
Robert Walser

Das Haus, das Verrückte macht –
Die in den Wellblechpalästen tanzen

Leichtfüßig, peppig, spritzig kommen die satirisch grundierten, hier ironischen, dort sarkasti­schen, gelegentlich zynischen, mit Allusion, Echo und Versatzstück aus Dichtung und Volksmund durchwirkten, zwischen Sinn und Unsinn mäandernden, dem auf den Kopf gestellten Schein des Seins in rasant vorgetragenen Sequenzen auf die Schli­che kommenden, bizarr wortschöpfenden, Alliteration, Annagramm und Reimprise ein­streuenden, faszinierend verrückt assoziierenden, wortspielenden, zeilenspringenden Ge­dichte von Tom Schulz in Kanon vor dem Verschwinden da­her. Hier dirigiert die surreale Lyrik­schlag­kraft, Oxymoron und Paradoxon tanzen den Pas de deux.

Ich / schrieb das schnell auf, bevor / der Moment in der verfluchten / Abgestorben­heit Kölns / wieder erlosch, heißt es in Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht Einen jener klas­sischen. Ich tue es Brinkmann gern nach. Und wenn ich an diesen blätterfallsüchti­gen, dunklen, küh­len, nebligen, regnerischen, stürmischen letzten Tagen des Jah­res wie Erich Kästner gefragt werde: Und wo bleibt das Positive, Herr Breuer?, kann ich wie der von Asterix nach dem Passier­schein A 38 gefragte römische Amtsvorste­her des Hauses, das Verrückte macht ganz lässig ant­worten: Hier ist es doch: ⇐⇑⇒⇓

wie verrückt: Regen /
bella umbrella. seit Tagen
übernächtigt. Wolken
aus Granit.

Thien Tran

Lyrik Leser Listen –
Schaun mer mal, dann sehn mehr scho

Wiedermal so ein Jahr den Styx hinunter
Peter Rühmkorf

Bereinigt um Bücher, deren nur scheinbar poetische Wortansammlungen ich auf kei­ner Seite le­senswert fand, versammle ich in der die Lyrikstationen 2009 abschlie­ßenden zwölften Station alle mir in diesem Jahr in die Hände ge­fallenen und gelese­nen Ly­rikeditionen mit der Zahl 2009 im Impres­sum, die ich in diesem Essay – ex­emplarisch – vor­stelle und zum Abschluß einer jeder Station ins Zentrum der Auf­merk­samkeit rücke, wie, beispielsweise, Kevin Perrymans Der nicht verjährte Traum – sein neunter Ge­dichtband und der erste, den ich von ihm lese (am 9. No­vem­ber 2009 – so wird dieser Tag auch in der heute stark vernebelten Abge­schie­denheit der Eifel zum Festtag):

Bring einen Stein.
Trage zu unserem Singen bei.
Bring deinen Stein.
Du wirst ihn in den Bergen
aufgehoben haben,
ihn mit dir mitgetragen.
Leg ihn zu den anderen.

Dies ist, bei lyrischem Lichte betrachtet, eine schmerzhaft künstliche Auswahl für ei­nen im Kern als persönliche Le­sereise angelegten Text, vernachlässigt die Liste doch die mögli­cherweise eindrucksvolleren Bücher und Zeitschriften früherer Jahr­gänge, die ich mir in diesem Jahr zu Gemüte führte – beispielsweise am 11. Novem­ber André Schinkels resche Lyrik in Löwenpanneau (Mitteldeutscher Verlag, Halle 2007): Das große Gedicht An der Saale versetzt mich schlagartig zurück in den Au­genblick, als ich mit UNI/vers(;)-Herausgeber Guillermo Deisler und uräus-Hand­presse-Verle­ger Hans-Ulrich Prautzsch an jenem Fluß stand und wir am gege­nüber­liegenden Ufer mehrere Biber bei der Arbeit beobachteten; am 17. November Kim Jong-Dils konfuzia­nisch angehauchte Gedichte in Nachtkerze (Edition Peperkorn, Thu­num/Ostfriesland 2003); am 29. November Günter Herburgers forschen Gang Im Gebirge (Luchter­hand, München 1998) – und ohnehin den gesam­ten Bereich der Prosa, den ich in Bücher, Menschen und Fiktionen 2009 (www.poetenladen.de/theo-breuer-buch­preis-2009.htm), gleich­sam Zwillings­text von Lyrikstatio­nen 2009, vor­stelle.

Wenn ich überhaupt einen interessanten Aspekt am Zusammenhang von Literatur und Jahrgang sehe, dann den, womit ich mich innerhalb eines Jahres literarisch kon­kret befaßt habe. Was aber tun wir nicht alles, um der grassierenden Unüber­sichtlich­keit zu trotzen und auf diese Weise das eine oder andere Buch sichtbar zu ma­chen. Wir müssen auch 2009 von mehreren tausend neu gedruckten Gedichtbü­chern ausge­hen, unter de­nen sich möglicherweise ein Buch versteckt, das ich groß­artig fände, wenn ich es denn je läse. Angesichts dieser ungeheuren Zahl ziehe ich mich gern auf den einen wie auch immer gefundenen, hoffentlich einzigartigen Ge­dicht­band zurück, der mich zunächst eine Stunde, einen Tag und sodann – mehr oder weniger – lebens­lang be­gleitet. Am 4. Dezember (im Lyrikkalender lese ich das Gedicht Übersprung von Christian Röse) ist es Heinrich Deterings Wrist, von dem ich mich an diesem kalten Tag sehr gern in Birken- und Brachvogelwälder und blü­hende Dschungel im / Schotter zwischen den Gleisen verschleppen lasse.

So wird mir Ly­rik von Tag zu Tag mehr zu einer Faktoren wie Auflage, Avant­garde, Au­tor, Besten­liste, Buch, Chimäre, Dramatik, Epoche, Favorit, Genie, Hörbuch, Idee, Jungvogel, Kory­phäe, Leichtgewicht, Mode, Newco­mer, Original, Preis, Programm, Quengler, Richtung, Star, Talent, Titel, Urgestein, Verlag, Wasserträ­ger, Zeitgeist »usw.« usw. verschlingenden und amalga­mierenden uni­versalen Gestalt aus Klang, Rhythmus und Wort, deren in einem fort schwingender Sound jeden noch so hartnä­ckigen Tinnitus locker verdrängt, als ziehe [es] mir das rau­schen / des weltalls ins ohr. (Dieter P. Meier-Lenz, Im Wortge­strüpp)

Die Dich­tung wird von allen gemacht (Lau­tréa­mont)

BAUMBEIN
Blaurosa Wolken,
der Wind aus den Seen,
die ausgeleuchteten Wälder
aus zweibeinigen Bäumen,
doppelt schlagen sie aus.
Flecken im Schatten und in Tränen
die Sonne trägt der Berg,
hängt durch in den Mitten.

Swantje Lichtenstein

Das 120 Titel umfassende Füllhorn der Anthologien, Einzeltitel, Magazine, Portale und Schachtelediti­onen, deren Zu­standekommen ich den unterschied­lichsten (glückli­chen) Zufällen ver­danke, vermittelt hoffentlich einen einigermaßen exem­pla­risch-repräsen­tati­ven Querschnitt des vielköpfigen, kakophonen Chors, der 2009 im dichtbevölkerten lyrisch-deutschsprachigen Amei­senstaat mit mehr als vier­hundert Editionen, Re­dakti­o­nen, Ver­lagen und Handpressen (von denen sechsund­fünfzig hier auftau­chen) den Sound bestimmt:

Gedichtbü­cher von jüngeren und älte­ren, be­kannten und weniger be­kannten Autorin­nen und Autoren, Bücher aus großen und kleinen Verlagen, die Anthologien, Einzel­titel, Es­saybände, Ge­samtausgaben, Magazine und Übersetzungen als Hard­cover­band mit Schutzumschlag, Broschüre bzw. Taschenbuch, bibliophiles Kleinod oder Kunst­schachtel in winzigen, kleinen, mittle­ren und größeren Auflagen in der Hoffnung ver­öf­fent­lichen, Leserinnen und Le­ser zu finden, die diese Bü­cher ihren Sammlun­gen einverleiben wollen.

Books on Demand werden nur auf Bestellung erstellt, sie sind nie vergriffen, aber auch in keiner Buchhandlung präsent. Wie wohl wirkt sich das auf die Auflage aus? Ich jedenfalls lasse mich immer wieder gern vom vielgestaltigen Programm der Ly­rikedition 2000 anlo­cken und lese auch im Verlauf dieses Jahres wieder eine Reihe mich stark anregender Gedichtbücher aus dieser seit einiger Zeit von Heike Hauf betreuten Edition – so Ulrich Kochs Lang ist ein kurzes Wort (Der Mond war ein Leckstein auf der Pferdeweide), Swantje Lichtensteins Landen, Ludwig Steinherrs Kometenjagd sowie Nikola Richters do-re-mi-maschine, die vom ersten Gedicht an schwungvoll rotiert:

er kann jetzt nicht mit dir tanzen, sagt einer, und ich sage,
das ist überhaupt nicht mein problem, denn ich hole meinen
freund von der bushaltestelle ab, wir weinen zur begrüßung
und pinkeln zwischen autos in der nebenstraße. und wenn
einer sagt, das ist doch mal wieder kein gedicht, dann sag
ich nix, aber pass mal auf, denn hier ist das leben, hier
hab ich eben noch telefoniert, als einer die treppe herunter
rannte und mich mal kurz küssen wollte, ich schlug ihn
weg, weil eben noch ein anderer mich drückte und wieder
andere mir sagten, dass ich sie suchen solle. die welt ist
groß genug für alle, sagten manche eben noch und andere
wollten schwimmen gehen (das sind die ungehemmten dates).
ich habe einen neffen, der schon nudeln sagen kann,
und ich mit meinem neuen job kann nichtmal sagen, was ich will.

Die Hoffnung ist – Was sind das für Zeiten? – oft trügerisch angesichts der überwäl­tigenden Konkurrenz von vielen hundert Verlagen und tausend und weit mehr Auto­ren mit jährlich vielen, vielen, vielen neuen Gedichtbüchern, ganz zu schweigen von der überwältigenden Präsenz der guten Seiten im Internet.

Wer, beispielsweise, regelmäßig Portale wie Fixpoetry, Forum der 13, Lyrikline, Ly­rikwelt, Lyrikzei­tung, Poetenladen, Reimfrei, Titel oder Matthias Kehles Lyrik-Blog anklickt und die dort ange­botenen Buch­besprechungen, Es­says, Features, Gedichte, Glossen und Port­räts scrollend liest (und sich dazu die tägliche Lyrikmail schicken läßt), braucht keine Bü­cher, wenn Bücher ihm nicht das bedeu­ten, was sie mir be­deuten. Was dem einen das Buch in der Hand, ist dem anderen die Zeigefinger­beere an der Maus. In­dem ich letzteres eben um der Erfah­rung willen erstmals an einem Lyrik-eBook aus­probiere, spüre ich spontan, daß ein eBook kein Gedichtbuch ist, wie ich es meine, und schon mal gar kein gefühl­tes.

So ist es längst keine Ausnahme mehr, daß Lyrikbücher auch bekannterer Autoren zwar publiziert, aber kaum mehr von den Leserinnen und Lesern wachge­küßt wer­den, folglich nie ein lebendi­ges Dasein füh­ren können. Dennoch glaube ich weiterhin an genü­gend leiden­schaftliche Büchermenschen, die dafür sorgen, daß die Be­fürchtung eines Philip Roth (dessen Romanen ich seit Jahrzehnten hoffnungslos verfallen bin), die Menschheit wachse in eine buchlose Zukunft hinein, sich als über­trieben pessimistisch herausstellen wird.

Verleger und Autoren, die allerdings meinen, Leser liefen ihnen irgendwie schon zu, bezahlen diesen Irrglauben mit der Tatsa­che, daß immer wieder auch viel zu teuer ange­botene Bücher in Kartons verpackt dahindämmern (hoffentlich wurden sie we­nigs­tens auf Recycling-Papier gedruckt) oder bis auf wenige Exemplare gar nicht erst gedruckt werden, nachdem die Fördergelder kassiert sind. Aber auch das kann man schon wieder positiv sehn, wie Gerard Manley Hopkins, von dem zu Lebzeiten nicht ein Gedicht gedruckt wurde: Ein Dichter ist sich selbst sein Publikum.

Daß vor allem kleine/re Verlage und Zeitschriften kommen und gehen, ist eine be­kannte Erfah­rung. Andererseits gibt es erfreulich viele Gegenbeispiele für Haltbarkeit und Stabili­tät, man jam­mert nicht, sondern arbeitet einfach, Buch um Buch, weiter am originel­len Programm. Ich benenne, pars pro toto, Hendrik Lierschs Berliner Cor­vinus Presse mit rund zweihundertfünfzig Büchern seit 1990 – zuletzt Heinrich Osts sehr klare, sehr nachdrückliche, sehr schöne Gedichte In Trümmern Spiegelglas (Das Holz­pferd singt / zur Himmelsmahlzeit), Werner Buchers im schweizerischen Appenzell ange­siedelten orte-Verlag mit mehre­ren Buchreihen – Im November 2009 erschienen Horst Bin­gels beherzte Gedichte Den Schnee besteu­ern – und der Zeit­schrift orte, deren 160. Ausgabe 2009 er­schien, sowie die seit Jahrzehnten die Welt der Lyrik berei­chernden Klein­verlage Ul­rich Keicher (Le­onberg) und Peter Engstler (Ostheim an der Rhön), der mit Egon Günther, von dem 2009 hegt traum kerne er­schien, ei­nen Au­tor im Programm hat, dessen spannende Ge­dichte ich bis­lang nicht kannte.

Auch in den letzten Jahren sind wieder neue Verlage (mit Luxbooks als Senkrecht­starter) und Editionen be­gründet worden: Bei Fixpoetry und in der Silver Horse Edi­tion erschienen 2009 insgesamt mehr als ein Dutzend schlicht-schön gestalteter Ly­rikbändchen, die Edition Lyrik Kabinett macht mit vorzüglich edierter internationaler Lyrik von sich reden, und so kann ich mit Das Buch der Niederlage endlich ein voll­ständiges Gedichtbuch von Bei Dao lesen:

Zielort

Ungeraden Zahlen folgend
und Funken, die Aussprache üben
bist du auf Reisen, von Landkarten
blickst du hinab auf die Grablegung der Straßen
so tief gegraben
daß sie reichen an ein Gedicht in seinem Kern

Keine Satzzeichen können aufhalten
die Wehen der Reimgesetze
Du bist nahe an den Metaphern des Windes
gehst ergraut in die Ferne
Die dunkle Nacht öffnet ihren Oberkiefer
und entblößt ihre Stufen

Es ist in jedem einzelnen Fall schade, wenn der eine oder andere Verlag nicht wei­termachen kann oder will, die Welt der Lyrik geht bei der kaum überschaubaren Verlagsvielfalt im deutschen Sprachraum allerdings keineswegs unter, wie 2009 hier und dort suggeriert, son­dern bietet Verlagen, die bis dato viel zu wenig be­achtet wurden, die Möglichkeit, stärker ins Rampenlicht zurücken – so man dies denn wünscht.

Mit einer unkommerziell ausgerichteten, auf viel Geduld basierenden und den tägli­chen Einsatz fordernden Mischkalkulation des Verkaufens, Verschenkens und Tau­schens gelingt es bislang in der kommunikations-, korrespondenz- und korrabolati­onslustigen Edition YE, die ich 1993 hier im sehr dünn besiedel­ten, lyrikleserarmen Schattenreich des Hinterlands aus purer Lust am Collagieren, Edieren, Kleben, Lek­torieren, Montieren, Stempeln und Zusammentragen gründete, um fortan die Kunst­schachteledi­tion YE, die Lyrikzeitschrift Faltblatt sowie die Lyrikreihe mit An­thologien, Einzeltiteln und Mono­graphien herauszugeben, genügend Leserinnen und Leser, die Lust auf deutsch­sprachige Lyrik haben, auf der ganzen Welt zu finden, um Auflagen bis 500 und 1000 Exemplaren zu rechtfertigen.

Die Lyrik befindet sich in einem jämmerlichen Zustand, schreibt Thomas Kunst im Nachwort seines 2008 erschienenen Gedichtbands Estemaga, während Axel Kutsch im Vorwort des im Herbst 2009 publizierten, Gedichte von zweihundert Autorinnen und Autoren versammelnden Anthologie Versnetze_zwei betont: Wir leben in blühen­den Lyrik-Landschaften.

So unmöglich mit mir
kann es nicht sein
schau

selten gewordene Vogelarten
sind zurückgekehrt
um zu nisten
in den Zeilen meiner Gedichte

Werner Lutz

Schaun mer mal, dann sehn mehr scho.

  • Bei Dao, Das Buch der Niederlage
  • Horst Bingel, Den Schnee besteuern
  • Heinrich Detering, Wrist
  • Egon Günther, hegt traum kerne
  • Ulrich Koch, Lang ist ein kurzes Wort
  • Axel Kutsch (Hg), Versnetze_zwei · poetenladen.de/theo-breuer-versnetze.htm
  • Swantje Lichtenstein, Landen
  • Werner Lutz, Kussnester
  • Dieter P. Meier-Lenz, Im Wortgestrüpp
  • Heinrich Ost, In Trümmern Spiegelglas
  • Kevin Perryman, Der nicht verjährte Traum
  • Nikola Richter, die do-re-mi-maschine
  • Tom Schulz, Kanon vor dem Verschwinden
  • Ludwig Steinherr, Kometenjagd
  • Thien Tran, fieldings

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