Das Archiv der Lyriknachrichten | Seit 2001 | News that stays news
Reich bin ich durch ich weiß nicht was,
man liest ein Buch und liegt im Gras.
Robert Walser
Leichtfüßig, peppig, spritzig kommen die satirisch grundierten, hier ironischen, dort sarkastischen, gelegentlich zynischen, mit Allusion, Echo und Versatzstück aus Dichtung und Volksmund durchwirkten, zwischen Sinn und Unsinn mäandernden, dem auf den Kopf gestellten Schein des Seins in rasant vorgetragenen Sequenzen auf die Schliche kommenden, bizarr wortschöpfenden, Alliteration, Annagramm und Reimprise einstreuenden, faszinierend verrückt assoziierenden, wortspielenden, zeilenspringenden Gedichte von Tom Schulz in Kanon vor dem Verschwinden daher. Hier dirigiert die surreale Lyrikschlagkraft, Oxymoron und Paradoxon tanzen den Pas de deux.
Ich / schrieb das schnell auf, bevor / der Moment in der verfluchten / Abgestorbenheit Kölns / wieder erlosch, heißt es in Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht Einen jener klassischen. Ich tue es Brinkmann gern nach. Und wenn ich an diesen blätterfallsüchtigen, dunklen, kühlen, nebligen, regnerischen, stürmischen letzten Tagen des Jahres wie Erich Kästner gefragt werde: Und wo bleibt das Positive, Herr Breuer?, kann ich wie der von Asterix nach dem Passierschein A 38 gefragte römische Amtsvorsteher des Hauses, das Verrückte macht ganz lässig antworten: Hier ist es doch: ⇐⇑⇒⇓
wie verrückt: Regen /
bella umbrella. seit Tagen
übernächtigt. Wolken
aus Granit.
Thien Tran
Wiedermal so ein Jahr den Styx hinunter
Peter Rühmkorf
Bereinigt um Bücher, deren nur scheinbar poetische Wortansammlungen ich auf keiner Seite lesenswert fand, versammle ich in der die Lyrikstationen 2009 abschließenden zwölften Station alle mir in diesem Jahr in die Hände gefallenen und gelesenen Lyrikeditionen mit der Zahl 2009 im Impressum, die ich in diesem Essay – exemplarisch – vorstelle und zum Abschluß einer jeder Station ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücke, wie, beispielsweise, Kevin Perrymans Der nicht verjährte Traum – sein neunter Gedichtband und der erste, den ich von ihm lese (am 9. November 2009 – so wird dieser Tag auch in der heute stark vernebelten Abgeschiedenheit der Eifel zum Festtag):
Bring einen Stein.
Trage zu unserem Singen bei.
Bring deinen Stein.
Du wirst ihn in den Bergen
aufgehoben haben,
ihn mit dir mitgetragen.
Leg ihn zu den anderen.
Dies ist, bei lyrischem Lichte betrachtet, eine schmerzhaft künstliche Auswahl für einen im Kern als persönliche Lesereise angelegten Text, vernachlässigt die Liste doch die möglicherweise eindrucksvolleren Bücher und Zeitschriften früherer Jahrgänge, die ich mir in diesem Jahr zu Gemüte führte – beispielsweise am 11. November André Schinkels resche Lyrik in Löwenpanneau (Mitteldeutscher Verlag, Halle 2007): Das große Gedicht An der Saale versetzt mich schlagartig zurück in den Augenblick, als ich mit UNI/vers(;)-Herausgeber Guillermo Deisler und uräus-Handpresse-Verleger Hans-Ulrich Prautzsch an jenem Fluß stand und wir am gegenüberliegenden Ufer mehrere Biber bei der Arbeit beobachteten; am 17. November Kim Jong-Dils konfuzianisch angehauchte Gedichte in Nachtkerze (Edition Peperkorn, Thunum/Ostfriesland 2003); am 29. November Günter Herburgers forschen Gang Im Gebirge (Luchterhand, München 1998) – und ohnehin den gesamten Bereich der Prosa, den ich in Bücher, Menschen und Fiktionen 2009 (www.poetenladen.de/theo-breuer-buchpreis-2009.htm), gleichsam Zwillingstext von Lyrikstationen 2009, vorstelle.
Wenn ich überhaupt einen interessanten Aspekt am Zusammenhang von Literatur und Jahrgang sehe, dann den, womit ich mich innerhalb eines Jahres literarisch konkret befaßt habe. Was aber tun wir nicht alles, um der grassierenden Unübersichtlichkeit zu trotzen und auf diese Weise das eine oder andere Buch sichtbar zu machen. Wir müssen auch 2009 von mehreren tausend neu gedruckten Gedichtbüchern ausgehen, unter denen sich möglicherweise ein Buch versteckt, das ich großartig fände, wenn ich es denn je läse. Angesichts dieser ungeheuren Zahl ziehe ich mich gern auf den einen wie auch immer gefundenen, hoffentlich einzigartigen Gedichtband zurück, der mich zunächst eine Stunde, einen Tag und sodann – mehr oder weniger – lebenslang begleitet. Am 4. Dezember (im Lyrikkalender lese ich das Gedicht Übersprung von Christian Röse) ist es Heinrich Deterings Wrist, von dem ich mich an diesem kalten Tag sehr gern in Birken- und Brachvogelwälder und blühende Dschungel im / Schotter zwischen den Gleisen verschleppen lasse.
So wird mir Lyrik von Tag zu Tag mehr zu einer Faktoren wie Auflage, Avantgarde, Autor, Bestenliste, Buch, Chimäre, Dramatik, Epoche, Favorit, Genie, Hörbuch, Idee, Jungvogel, Koryphäe, Leichtgewicht, Mode, Newcomer, Original, Preis, Programm, Quengler, Richtung, Star, Talent, Titel, Urgestein, Verlag, Wasserträger, Zeitgeist »usw.« usw. verschlingenden und amalgamierenden universalen Gestalt aus Klang, Rhythmus und Wort, deren in einem fort schwingender Sound jeden noch so hartnäckigen Tinnitus locker verdrängt, als ziehe [es] mir das rauschen / des weltalls ins ohr. (Dieter P. Meier-Lenz, Im Wortgestrüpp)
BAUMBEIN
Blaurosa Wolken,
der Wind aus den Seen,
die ausgeleuchteten Wälder
aus zweibeinigen Bäumen,
doppelt schlagen sie aus.
Flecken im Schatten und in Tränen
die Sonne trägt der Berg,
hängt durch in den Mitten.
Swantje Lichtenstein
Das 120 Titel umfassende Füllhorn der Anthologien, Einzeltitel, Magazine, Portale und Schachteleditionen, deren Zustandekommen ich den unterschiedlichsten (glücklichen) Zufällen verdanke, vermittelt hoffentlich einen einigermaßen exemplarisch-repräsentativen Querschnitt des vielköpfigen, kakophonen Chors, der 2009 im dichtbevölkerten lyrisch-deutschsprachigen Ameisenstaat mit mehr als vierhundert Editionen, Redaktionen, Verlagen und Handpressen (von denen sechsundfünfzig hier auftauchen) den Sound bestimmt:
Gedichtbücher von jüngeren und älteren, bekannten und weniger bekannten Autorinnen und Autoren, Bücher aus großen und kleinen Verlagen, die Anthologien, Einzeltitel, Essaybände, Gesamtausgaben, Magazine und Übersetzungen als Hardcoverband mit Schutzumschlag, Broschüre bzw. Taschenbuch, bibliophiles Kleinod oder Kunstschachtel in winzigen, kleinen, mittleren und größeren Auflagen in der Hoffnung veröffentlichen, Leserinnen und Leser zu finden, die diese Bücher ihren Sammlungen einverleiben wollen.
Books on Demand werden nur auf Bestellung erstellt, sie sind nie vergriffen, aber auch in keiner Buchhandlung präsent. Wie wohl wirkt sich das auf die Auflage aus? Ich jedenfalls lasse mich immer wieder gern vom vielgestaltigen Programm der Lyrikedition 2000 anlocken und lese auch im Verlauf dieses Jahres wieder eine Reihe mich stark anregender Gedichtbücher aus dieser seit einiger Zeit von Heike Hauf betreuten Edition – so Ulrich Kochs Lang ist ein kurzes Wort (Der Mond war ein Leckstein auf der Pferdeweide), Swantje Lichtensteins Landen, Ludwig Steinherrs Kometenjagd sowie Nikola Richters do-re-mi-maschine, die vom ersten Gedicht an schwungvoll rotiert:
er kann jetzt nicht mit dir tanzen, sagt einer, und ich sage,
das ist überhaupt nicht mein problem, denn ich hole meinen
freund von der bushaltestelle ab, wir weinen zur begrüßung
und pinkeln zwischen autos in der nebenstraße. und wenn
einer sagt, das ist doch mal wieder kein gedicht, dann sag
ich nix, aber pass mal auf, denn hier ist das leben, hier
hab ich eben noch telefoniert, als einer die treppe herunter
rannte und mich mal kurz küssen wollte, ich schlug ihn
weg, weil eben noch ein anderer mich drückte und wieder
andere mir sagten, dass ich sie suchen solle. die welt ist
groß genug für alle, sagten manche eben noch und andere
wollten schwimmen gehen (das sind die ungehemmten dates).
ich habe einen neffen, der schon nudeln sagen kann,
und ich mit meinem neuen job kann nichtmal sagen, was ich will.
Die Hoffnung ist – Was sind das für Zeiten? – oft trügerisch angesichts der überwältigenden Konkurrenz von vielen hundert Verlagen und tausend und weit mehr Autoren mit jährlich vielen, vielen, vielen neuen Gedichtbüchern, ganz zu schweigen von der überwältigenden Präsenz der guten Seiten im Internet.
Wer, beispielsweise, regelmäßig Portale wie Fixpoetry, Forum der 13, Lyrikline, Lyrikwelt, Lyrikzeitung, Poetenladen, Reimfrei, Titel oder Matthias Kehles Lyrik-Blog anklickt und die dort angebotenen Buchbesprechungen, Essays, Features, Gedichte, Glossen und Porträts scrollend liest (und sich dazu die tägliche Lyrikmail schicken läßt), braucht keine Bücher, wenn Bücher ihm nicht das bedeuten, was sie mir bedeuten. Was dem einen das Buch in der Hand, ist dem anderen die Zeigefingerbeere an der Maus. Indem ich letzteres eben um der Erfahrung willen erstmals an einem Lyrik-eBook ausprobiere, spüre ich spontan, daß ein eBook kein Gedichtbuch ist, wie ich es meine, und schon mal gar kein gefühltes.
So ist es längst keine Ausnahme mehr, daß Lyrikbücher auch bekannterer Autoren zwar publiziert, aber kaum mehr von den Leserinnen und Lesern wachgeküßt werden, folglich nie ein lebendiges Dasein führen können. Dennoch glaube ich weiterhin an genügend leidenschaftliche Büchermenschen, die dafür sorgen, daß die Befürchtung eines Philip Roth (dessen Romanen ich seit Jahrzehnten hoffnungslos verfallen bin), die Menschheit wachse in eine buchlose Zukunft hinein, sich als übertrieben pessimistisch herausstellen wird.
Verleger und Autoren, die allerdings meinen, Leser liefen ihnen irgendwie schon zu, bezahlen diesen Irrglauben mit der Tatsache, daß immer wieder auch viel zu teuer angebotene Bücher in Kartons verpackt dahindämmern (hoffentlich wurden sie wenigstens auf Recycling-Papier gedruckt) oder bis auf wenige Exemplare gar nicht erst gedruckt werden, nachdem die Fördergelder kassiert sind. Aber auch das kann man schon wieder positiv sehn, wie Gerard Manley Hopkins, von dem zu Lebzeiten nicht ein Gedicht gedruckt wurde: Ein Dichter ist sich selbst sein Publikum.
Daß vor allem kleine/re Verlage und Zeitschriften kommen und gehen, ist eine bekannte Erfahrung. Andererseits gibt es erfreulich viele Gegenbeispiele für Haltbarkeit und Stabilität, man jammert nicht, sondern arbeitet einfach, Buch um Buch, weiter am originellen Programm. Ich benenne, pars pro toto, Hendrik Lierschs Berliner Corvinus Presse mit rund zweihundertfünfzig Büchern seit 1990 – zuletzt Heinrich Osts sehr klare, sehr nachdrückliche, sehr schöne Gedichte In Trümmern Spiegelglas (Das Holzpferd singt / zur Himmelsmahlzeit), Werner Buchers im schweizerischen Appenzell angesiedelten orte-Verlag mit mehreren Buchreihen – Im November 2009 erschienen Horst Bingels beherzte Gedichte Den Schnee besteuern – und der Zeitschrift orte, deren 160. Ausgabe 2009 erschien, sowie die seit Jahrzehnten die Welt der Lyrik bereichernden Kleinverlage Ulrich Keicher (Leonberg) und Peter Engstler (Ostheim an der Rhön), der mit Egon Günther, von dem 2009 hegt traum kerne erschien, einen Autor im Programm hat, dessen spannende Gedichte ich bislang nicht kannte.
Auch in den letzten Jahren sind wieder neue Verlage (mit Luxbooks als Senkrechtstarter) und Editionen begründet worden: Bei Fixpoetry und in der Silver Horse Edition erschienen 2009 insgesamt mehr als ein Dutzend schlicht-schön gestalteter Lyrikbändchen, die Edition Lyrik Kabinett macht mit vorzüglich edierter internationaler Lyrik von sich reden, und so kann ich mit Das Buch der Niederlage endlich ein vollständiges Gedichtbuch von Bei Dao lesen:
Zielort
Ungeraden Zahlen folgend
und Funken, die Aussprache üben
bist du auf Reisen, von Landkarten
blickst du hinab auf die Grablegung der Straßen
so tief gegraben
daß sie reichen an ein Gedicht in seinem Kern
Keine Satzzeichen können aufhalten
die Wehen der Reimgesetze
Du bist nahe an den Metaphern des Windes
gehst ergraut in die Ferne
Die dunkle Nacht öffnet ihren Oberkiefer
und entblößt ihre Stufen
Es ist in jedem einzelnen Fall schade, wenn der eine oder andere Verlag nicht weitermachen kann oder will, die Welt der Lyrik geht bei der kaum überschaubaren Verlagsvielfalt im deutschen Sprachraum allerdings keineswegs unter, wie 2009 hier und dort suggeriert, sondern bietet Verlagen, die bis dato viel zu wenig beachtet wurden, die Möglichkeit, stärker ins Rampenlicht zurücken – so man dies denn wünscht.
Mit einer unkommerziell ausgerichteten, auf viel Geduld basierenden und den täglichen Einsatz fordernden Mischkalkulation des Verkaufens, Verschenkens und Tauschens gelingt es bislang in der kommunikations-, korrespondenz- und korrabolationslustigen Edition YE, die ich 1993 hier im sehr dünn besiedelten, lyrikleserarmen Schattenreich des Hinterlands aus purer Lust am Collagieren, Edieren, Kleben, Lektorieren, Montieren, Stempeln und Zusammentragen gründete, um fortan die Kunstschachteledition YE, die Lyrikzeitschrift Faltblatt sowie die Lyrikreihe mit Anthologien, Einzeltiteln und Monographien herauszugeben, genügend Leserinnen und Leser, die Lust auf deutschsprachige Lyrik haben, auf der ganzen Welt zu finden, um Auflagen bis 500 und 1000 Exemplaren zu rechtfertigen.
Die Lyrik befindet sich in einem jämmerlichen Zustand, schreibt Thomas Kunst im Nachwort seines 2008 erschienenen Gedichtbands Estemaga, während Axel Kutsch im Vorwort des im Herbst 2009 publizierten, Gedichte von zweihundert Autorinnen und Autoren versammelnden Anthologie Versnetze_zwei betont: Wir leben in blühenden Lyrik-Landschaften.
So unmöglich mit mir
kann es nicht sein
schau
selten gewordene Vogelarten
sind zurückgekehrt
um zu nisten
in den Zeilen meiner Gedichte
Werner Lutz
Schaung ma moi, na seng mas scho
rudi brunnenmeier dixit!
trotzdem danke!
LikeLike