Die Poesie, die kommt

 

Michael Gratz

(Fortsetzung der Besprechung von L&Poe ’17-09)

Das Wort Gegenwartsliteratur bedeutet nicht zwangsläufig Literatur der „Gegenwart“, zumindest nicht im Sinne von jetzt gegenwärtig. In der russischen Literaturzeitschrift Woprosy Literatury, Ausgabe November/Dezember 2016, gibt es einen Block „Gesichter der Gegenwartsliteratur – Die Sprache der zeitgenössischen Poesie“. Behandelt werden darin ausschließlich tote Autoren: T.S. Eliot (1888-1965), Gottfried Benn (1886-1956), E.R. Curtius (1886-1956), Ossip Mandelstam (1891-1938) und Jossif Brodsky (1940-1996). Die ersten drei teilten die Gegenwart meiner Kindheit und die meisten gegenwärtig lebenden Autoren waren nur Brodskys Zeitgenossen. Eine Zeile von Mandelstam fällt mir ein: War niemands Zeitgenosse, wars in keiner Weise.

Ich glaube nicht, daß dies nur ein russisches Phänomen ist. Welchen gegenwärtigen tschechischen, dänischen oder portugiesischen Lyriker haben wir gelesen, zuletzt oder überhaupt? – Es gibt eine Anthologie aus dem Reclamverlag, „Liebesgedichte der Gegenwart“ im Untertitel, darin findet der interessierte Leser (Schüler, Lehrer, Student) Gedichte von Benn und Brecht; ja, auch ein paar lebende Autoren sind vertreten. Gegenwart ist dehnbar wie Gummi.

Lange Einleitung für die Fortsetzung meiner Besprechung der Zeitschrift Schreibheft (erster Teil siehe L&Poe ’17-09). Schreibheft stellt regelmäßig Dossiers zu bei uns wenig bekannten Werken der modernen Weltliteratur des 20. Jahrhunderts zusammen, aber auch zu polnischer, niederländischer, ukrainischer, britischer oder serbischer Gegenwartsliteratur im engeren Sinne. Oder französischer wie in den Ausgaben 85 und 88. Ich sehe die Geburtsdaten der Autoren durch: in Nr. 85: 1937, 1940, 1946, 1956, 1963, 1963, 1964. Nr. 88: 1947, 1957, 1962, 1963, 1973. Nur von einem der hier vorgestellten, Philippe Beck, gibt es bisher ein Buch auf Deutsch und 2017 ein zweites. Interessanter als die Zahlen sind die Inhalte. Eine aufregende Szene ist zu besichtigen. Ich stelle mir die Scouts der großen Verlage vor, wie sie die Schreibheft-Dossiers fiebrig nach neuen Namen durchsuchen… Ach, gibt es das überhaupt noch? Oder überlassen sie die Arbeit inzwischen ganz den Kleinverlagen?

Das Dossier in Nr. 85 hieß „Außer sich die Poesie. 6 französische Sabotagen“, zusammengestellt von Aurélie Maurin und Norbert Lange. Das in Nr. 88 „Die Poesie äußert sich. Dreimal französische Courage“, zusammengestellt haben es Leo Pinke und Tim Trzaskalik. Beide Dossiers stellen sich unter Motti aus der französischen Moderne. Das erste beginnt mit einem Auszug aus einem Prosagedicht von Baudelaire mit dem emphatischen Ausruf: „Weg mit der akademischen Muse! Mit dieser alten Betschwester habe ich nichts zu tun. Ich rufe die alltägliche, die städtische, die lebendige Muse an…“ Dann gleich noch ein Prosagedicht von Rimbaud, jetzt unmittelbar politisch und, wie sich herausstellen wird, von brennender Aktualität: Demokratie (aus den Illuminations). Über dieses Gedicht hat die akademischen Exegese befunden, es sei „augenscheinlich besonders schwer zu erfassen“. Augenscheinlich ist ein gutes Wort. Der unbefangene Leser traue dem Augenschein und lese:

DEMOKRATIE

«Die Fahne gerät in dreckiges Land, und unser Kauderwelsch erstickt die Trommel.

In den Zentren züchten wir die zynischste Prostitution. Wir massakrieren dann die logisch folgenden Revolten.

Auf in die gepfefferten und weichgemachten Länder! – im Dienst der monströsesten Ausbeutungen von Industrie oder Militär.

Auf Wiedersehen hier oder wo auch immer. Rekruten des guten Willens, werden wir die Philosophie der Bestie haben; Blindgänger der Wissenschaft, Wüstlinge des Wohlstands; zerplatzen soll die Welt hinter uns. Das ist der wahre Fortschritt. Vorwärts, Marsch!» (Deutsch von Rainer G. Schmidt)

Besonders schwer verständlich? Der Text steht in Anführungsstrichen, kein lyrisches Ich hier. Die „Demokratie“ selbst spricht, verstehen wir, wovon? „In den Zentren züchten wir die zynischste Prostitution. Wir massakrieren dann die logisch folgenden Revolten.“ – „Auf in die gepfefferten und weichgemachten Länder! – im Dienst der monströsesten Ausbeutungen von Industrie oder Militär.“ – „Blindgänger der Wissenschaft, Wüstlinge des Wohlstands; zerplatzen soll die Welt hinter uns. Das ist der wahre Fortschritt.“ Unbenommen, daß man auch dieses Gedicht auslegen kann; aber kann eine Deutung gleich welcher Art dem Augenschein trotzen, der uns sagt, daß hier von den Gebrechen „unserer“ Demokratie gesprochen wird, von Rimbaud bis immer noch. Jean-Marie Gleize: „Tatsächlich spricht der Text von der imperialistischen und kapitalistischen Gewalt, verkündet das Massaker der ‚logisch folgenden Revolten‘ “

Könnte ein solches Zitat ein Dossier über deutschsprachige Gegenwartslyrik einleiten? Über französische: augenscheinlich. Das gleiche Gedicht Demokratie steht auch über dem zweiten Dossier, nur in einer anderen Übersetzung, die die Herausgeber eigens für ihr Dossier anfertigten und kommentieren (nicht ohne leise Polemik gegen die Auslegungen des ersten Dossiers, scheint es). Aber wie dem sei, beide Dossiers stützen sich auf einen der politischsten Texte Rimbauds und wenden ihn forciert auf die Gegenwart an – die literarische und politische. Gleize in Dossier 1:

„Die poetische, politische Frage ist die nach dem Sinn der Worte, dem Sinn, den wir ihnen geben oder den wir ihnen auferlegen. Oder den wir ihnen zurückgeben wollen. Aus dieser langen und ‚wilden‘ Sequenz (die Rimbauds Personifikation entwickelt) kann einzig das entstehen, was der Dichter die ‚logisch folgenden Revolten‘ nennt, die der Kolonisierten, der Ausgebeuteten, der Vertriebenen, der Unterdrückten, jetzt und überall.

Logisch, weil unausweichlich.

Logisch auch, weil sie eine Umkehr, eine Kehrtwende, einen Umsturz fordern, in den Sprachen, in den Worten, in den Poetiken, in den Umrissen.“ (2013)

Pinke / Trzaskalik in Dossier 2:

„Es scheint, die Ideologiekritik, die Rimbauds ‚Demokratie‘ ausübt, müsse heute gegen die vermeintlich demokratische Selbstüberzeugung gerichtet werden, wie sie sich unter Rimbauds Brüdern im ‚allzu künstlerischen Milieu‘ (Rimbaud an Demeny, 15. Mai 1871) ausgebreitet hat: Allenthalben große Einigkeit, denn wir sollen keine dogmatischen Positionen mehr haben, und schon gar keine politischen Illusionen. Und endlich sollen sie da sein, die Heerscharen schrecklicher Arbeiter, die ihre Arbeit nicht mehr an die Erwartungen irgendeiner Glaubensrichtung anpassen. Und schon gar nicht an vermeintliche Grundfesten der Dichtung. Denn schließlich soll ja die Poesie die Dichter enttäuscht haben.

Wer behauptet, der Utopie zu entsagen, um sich hellsichtig seinem Los zu stellen, ist bestenfalls selbst utopisch, und auf alle Fälle ideologisch. Denn im Dickicht der Bilder und Wörter, der inflationären Urteile und Diskurse, wuchern auch die Dogmen weiter. Sie leben in den Wörtern fort, mit denen die Dichtung, ob sie will oder nicht, Umgang hat.“

Deshalb also die Poesie nicht innerbetrieblich, sondern „außer sich“, „äußert sich“. Aber: „Die Poesie außer sich bleibt Poesie.“

Über die drei Dichter mit „Courage“ sagen sie: „drei französische Dichter, die zum Publikum, zum lesenden Volk, finden wollen, weil sie wissen, daß die Grundfesten ihrer Poesie nichts anderes sind als Geschichte und Praxis ihres Forschens. Nicht Re-Poesie, nicht Post-Poesie, sondern die Poesie, die kommt.“

Wenn ich die „Vier Fragen an Sylvie Kandé“ lese, muß ich an Egmont Hesses Versuch denken, mit Gert Neumann zu reden, back in the eighties. „Geheimsprache Klandestinität“ ist das Gespräch überschrieben… War es überhaupt ein Gespräch? Hesse: „um einer totalen zersetzung zu begegnen, das geheimnis ‚klandestinität‘ zu begreifen, ließ ich mich in neumann’s sprache fallen, und seine gedankenflut ruhig auf mich überschwappen. (…)“ (Sprache & Antwort. Stimmen und Texte einer anderen Literatur aus der DDR, S. Fischer 1988)

Erste Frage von Pinke/Trzaskalik:

„Derart, immens, so daß jede / Sich für gewöhnlich zierte mit / Einer klaren Kontur, Lücke, / Die von den Gärten sie trennte.“ (Mallarmé)

Insofern Lippen Augen haben, woran Marion Danton erinnert (Büchner), ohne zu vergessen, daß Augen Lippen haben, kann sich die Dichtung noch von den heutigen Gärten abgrenzen, wenn sie, wie Jean Bollack schreibt, einen Gedanken nicht wiedergibt, sondern sprachlich hervorbringt?“

Antwort Sylvie Kandé:

„Es ist die Idee der Kontur, die meine Aufmerksamkeit erregt und die beiden Zitate einander annähert. In „Prose (pour des Esseintes)“ ergeht die Frage nach dem doppelten Status der Rede („es liegt / Mir auf der Hand: wir waren zwei“), die der Dichter an anderer Stelle „roh und unmittelbar hier, wesentlich dort“ nennt. Während der erste Tauschwert besitzt, erlaubt der zweite dem Dichter kraft einer „klaren Kontur“, die Blume von den Gärten zu trennen, um sie besser denken zu können: Isoliert von anderen Formen, anderen bekannten oder vergessenen Konturen, wird sie zugleich jeder neuen Komposition wesentlich sein — die „in allen Sträußen abwesende“. Im Gegensatz zu Hugo, der den Wörtern diese Kontur vorwarf, da sie ihr interaktives Potential begrenzte („Alle Ideen vermischen sich an den Rändern; die Wörter nicht … Der Ausdruck hat Grenzen, der Gedanke nicht“), entspringen die Ideen für Mallarmé dem Wort; mehr noch, der Vers selbst ist für ihn eine Art weiß umrandetes Wort, das der teils willkürlichen Anordnung seiner Elemente schwingend Sinn und Freiheut verleiht. (…)“

So schwirren die Gedanken und Zitate. Man muß dreimal lesen (und mag an die Klarheit von Rimbauds Illumination zurückdenken!). Welche Geistesgegenwart doch der Poesie innewohnt!

Im Weiterlesen merkt man, daß die völlig gleichen Fragen auch an die beiden anderen Dichter gehen. Schöne Gelegenheit, nicht nur horizontal, sondern auch vertikal zu lesen!

Spannend zu lesen, wie bei Sylvie Kandé (und generell im französischsprachigen Raum) deutsche Romantik und Negritude zusammengedacht werden: „Die Negritude – von der ich wohl alles gelesen haben dürfte – hatte in ihr, im Hinterfragen des abendländischen Rationalismus, eine Verbündete gefunden, wie Léopold Sédar Senghor in seinem Essay ‚Négritude et Germanité‘ (Negritude und Germanität, 1977) gezeigt hat.“

Kandés Gedicht ist ein „Neo-Epos“. Erhellende und für deutsche Diskurse provozierende Aussagen der Herausgeber zu der bei uns oft geäußerten Annahme, Bezugnahmen auf alte (Gattungs-)Traditionen seien per se regressiv. „Eine solche Auffassung wäre geschichtslos, denn sie müßte eine essentialistische Anschauung der Formen oder Gattungen voraussetzen, der zufolge sie immer schon in der Vergangenheit ihr Wesen zur Erscheinung gebracht hätten.“ Mit Schiller – auch mit dem werden die französischen Dichter konfrontiert bzw. sind sie befaßt – entwickeln sie die Idee, daß öfter unter den alten Namen „sehr neue Gattungen“ ausgeführt würden.

Das in diesem Sinne veritable Epos trägt den Titel „Die unendliche Suche nach dem andren Ufer“. In drei Gesängen die epische Handlung. Der erste schildert die Atlantikexpedition des Malikaisers Abubakari II. aus dem 14. Jahrhundert. Im zweiten wird die Frage erörtert, wie die Weltgeschichte verlaufen wäre, hätte er tatsächlich Amerika entdeckt. Der dritte aber erzählt von der, nein: besingt die Überfahrt afrikanischer Bootsflüchtlinge auf einer zerbrechlichen Piroge nach Europa, mit vielen Details, die auch in deutschen „besorgten“ Diskursen herumgeistern (falscher Name, kein Paß, aber Handy!).

(Absurder Nebengedanke, aber seis: wenn die aktuelle Greifswalder „besorgte“ Debatte um den Namen der Universität, den „die Fremden“ ihnen anscheinend nehmen wollen, theoretisches Niveau hätte statt nur tumbe Emotion und politisches Tageskalkül – von CDU über AfD bis zu NPD und Identitären), könnte sie hier Stoff zur Vertiefung finden, z.B. in der unterschiedlichen Haltung zweier Generationsgefährten, Hegel und Arndt, zum „Volksgeist“: heruntergebrochen auf die heutigen Fluchtbewegungen nach Europa.)

Die anderen beiden Couragierten heißen Dominique Quélen und Philippe Beck und sind je anders genauso spannend in poetisch-politischer Perspektive. In Frankreich ist was los!

Noch vieles wäre zu bereden… oder besser: Lesen!

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