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Am 1. September 2001 druckt die taz Notizen von Klaus Siblewski zu Telefongesprächen mit Ernst Jandl. Am 4. 10. 1998 ein immer aktueller Vorschlag:
Ob ich ihm mein Ohr leihen könnte, ein Ohr und vielleicht noch ein Stück meines Verstandes und die Hälfte von meinem Herzen dazu: Er schlage vor, mir vor, sämtliche österreichischen Tageszeitungen müssten für einen Abdruck seines Gedichts „16 jahr“ gewonnen werden, wider die Hetzerei gegen Ausländer. Das sei sein Beitrag zu den bevorstehenden Wahlen. Was ich davon hielte?
Klaus Siblewski: „Telefongespräche mit Ernst Jandl“, Luchterhand Verlag, München 2001, 190 Seiten, 18,50 Mark
Da war 9/11 noch 10 Tage hin. Drei Wochen später schreibt Frank Schirrmacher in der FAZ, und es klingt wie eine Drohung:
Bushs Auftritt (gemeint ist die Rede vor dem Kongreß) wird die westliche Kultur verändern. / FAZ 22.9.01
Hoffentlich müssen wir nicht nächste Woche solch einen Satz über Trump lesen.
und ruft begeistert in Hombroich über die Sprache Anne Dudens aus:
Was für ein schönes Deutsch!
/ Jörg Zimmer, Neuß-Grevenbroicher Zeitung 11.9.01
Kling ist zwar in der Bundesrepublik aufgewachsen, das Epizentrum seines lyrischen Schaffens liegt indessen anderswo. Konrad Bayers oder H. C. Artmanns Wien lockte ihn stärker als Berlin oder die deutsche Provinz; der Üppigkeit des Barock konnte er mehr abgewinnen als dem Innerlichkeitstaumel der Gruppe 47; das Spröde der Dadaisten war ihm lieber als der Bilderrausch der Expressionisten. Früh schon machte er sich – mit Lust – am Material zu schaffen: Er zersetzte, was im Mundraum morsch geworden war, und fügte anderseits zusammen, was ihm an Sprachbruchstücken von allen Seiten her zufiel. Benns Forderung nach dem Kalthalten des Materials machte er sich zu eigen; zugleich erprobte er, in der Tradition eines Hugo Ball oder Ernst Jandl, die Rückführung des Gedichts in gesprochene Sprache.
Die Technik des harten Schnitts hatte Kling einst bei Friederike Mayröcker gelernt; in seiner Lyrik hatte er sie mit beeindruckender Virtuosität ausgeübt; und nun arrangiert er das Material der Literaturgeschichte nach dem gleichen Prinzip.
(…) Thomas Kling hat einen Hang zum Holzschnittartigen. Das kommt seiner Polemik zugute: Rilke gilt ihm als «Nervenfaun» und Enzensberger als «Intelligenzler im Ruhestandsalter»; er belächelt Hofmannsthals «dünn-aristokratisches Schwammerlsüppchen» und Ingeborg Bachmanns «artifizielle Schneewittchenhaftigkeit»; die Lyrik der fünfziger Jahre hält er für «ein angestrengtes Waten in Vierfruchtmarmelade», während er andernorts das «insgesamt Verdruckste der deutschsprachigen Nachkriegslyrik» herausstellt. So räumt Kling mit einem Federstrich ab. / Roman Bucheli, NZZ 6.9.01
Thomas Kling: Botenstoffe. DuMont-Verlag, Köln 2001. 250 S., Fr. 36.-./
Frage: Ein beliebtes Gesellschaftsspiel unter deutschen Dichtern ist derzeit das „Avantgarde-Bashing“. Von Hans Magnus Enzensberger bis Dirk von Petersdorff ertönen die Hasstiraden auf die Helden der „ästhetischen Moderne“. Sie treten dagegen offensiv als Verteidiger der Avantgarde auf. Sind denn die von ihnen gepriesenen Dada- und Surrealismen nicht schon längst tote Materie der Literaturgeschichte?
Antwort: Abgesehen davon, dass der Surrealismus bei deutschen Autoren nie reüssieren konnte – uns fehlt da offenbar ein Organ – ist der Dadaismus, allein was die Bühnenwirksamkeit von dichterischer Sprache anbelangt, von enormer Wirksamkeit. Man denke an die Poetry-Slams heute, die ohne das, was ich als ,Frühe Performance‘ bezeichne, gar nicht denkbar wären. Immer, wenn der Mainstream zu stark wird, kommen so Leute wie die Dadaisten und pusten mal kurz durch. Enorm erfrischend für die Sprache. Die Harmlosen sind ja auch in der Poesie immer wieder stark gewesen, wie zur Zeit eben auch. Nur: Muss ich mir das bieten lassen? Keineswegs. Einer muss den Müll runterbringen. / Rheinpfalz 1.9.01
Was [im Lateinunterricht] gut geht, sind die Lyrik Catulls und die Epigramme Martials, die Germania des Tacitus und die Liebeskunst des Ovid , Petrons Gastmahl des Trimalchio und selbst die Satiren des langatmigen Frauenhassers Juvenal, wenn man die Stücke einigermaßen geschickt aussucht. Alle diese Autoren und Bücher haben zwei Dinge gemeinsam: Sie bescheren, ohne Vorlauf, schon nach relativ kurzen Lesestrecken das befriedigende Gefühl, sich etwas Neues, Ganzes angeeignet zu haben; und sie besitzen ein starkes stoffliches Interesse. Es bleibt nach der Übersetzung, so wackelig sie sein mag, eine lohnende Sache in der Hand, ein selbst geschürftes Nugget. Denn Lesen heißt hier unbedingt: übersetzen.
Ich habe es nahezu unmöglich gefunden, in einem solchen Kurs die Oden des Horaz zu lesen, die immer als sein Hauptwerk gegolten haben. Auch sie besitzen zwar die erforderliche Kürze; aber es bleibt, abgelöst von ihrer Ursprungssprache, nichts von ihnen übrig. Noch der nicht minder formbewusste Catull belohnt es einem, wenn man nur einigermaßen kapiert, was los ist. Horaz nicht; er ist nur im Lateinischen vorhanden.
(Und das, obwohl Nietzsche, der auch tot ist, gesagt hat: Was Horaz im Lateinischen geleistet habe, das könne man im Deutschen nicht einmal wollen.) / Burkhard Müller, Berliner Zeitung 1.9.01
Immerhin bin ich aber auch noch mit dem alten Ezra Pound zu Tisch gesessen und habe ihm in die Jahrhundertaugen geblickt. Wo gibt es solche Augen in Dichterköpfen noch heute? In den Spoletiner Gassen blieben wie angewurzelt die Frauen stehen, hoben ihre Kinder in die Höhe und zeigten ihnen voller Andacht den spazierenden Pound: „Ecco poeta“. / Klaus Geitel, Die Welt 1.9.01
Nevfel Cumart, dunkle Haare, dunkle, leuchtende Augen. Gelernter Zimmermann, studierter Islamwissenschaftler, Schriftsteller von Beruf, Herkunft türkisch. Ein Wanderer zwischen zwei Kulturen. Einer, der seine Erlebnisse und Empfindungen in Poesie umwandelt, der seit vielen Jahren Lyrik auf Deutsch schreibt. Ein Dutzend Gedichtbände hat der 37-Jährige, der in Deutschland geboren ist, bislang veröffentlicht. Lyrisches über Heimat, Vergangenheit, Zukunft, aber auch über die Liebe. …
Der Kulturspagat sei schwierig, aber inzwischen sei es für ihn müßig, sich zu fragen, was er sei, antwortet Cumart. „Ich bin ein Mensch, der von beiden Kulturen beeinflusst ist.“ Wichtig sei nicht, Türke oder Deutscher, sondern menschlich und höflich zu sein. / Frankfurter Rundschau 28.09.2001
dichtet auf Deutsch:
Ausgewandert
aus meiner Sprache
aus meinem Ich
aus meiner Heimat
sprachlos
ichlos
heimatlos
unleserlichGenauso wenig sprachlos, wie knapp 50 weitere Autorinnen und Autoren, die es unter den 400 000 in Deutschland lebenden Griechen gibt. 26 von ihnen, die mit ihrer Prosa und Lyrik, oft in beiden Sprachen, oft im Selbstverlag, manchmal in renommierten deutschen und griechischen Verlagen, den Balanceakt zwischen zwei Kulturen meistern, hat die Fotografin Papoulias in sensiblen Schwarz-Weiß-Porträts eingefangen.
Die Fotodokumentation „Ich schreibe. Griechische Autorinnen und Autoren in Deutschland.“, mit deutschen und griechischen Texten, ist bis zum 11. November im ersten Stock des Historischen Museums, Saalgasse 19, zu sehen. /Monika Cieslik, FR 29.9.01
Ich schließe meinen Reflex auf Jandls Letzte Gedichte mit einem Hinweis auf „wahnsinniges gedicht“, das in seiner Art noch einmal über alles Gedruckte hinausweist, indem es den Horizont für das Nicht-Gesagte – für immer im Kopf des Dichters Verschlossene – und mit ihm zu Grabe Getragene öffnet. „weder durch flüstern, sprechen, schreien / heulen, tränen spritzen / noch spucken, schlucken, husten, kotzen / die nase schneuzen, in der nase bohren / ohrenausblasen, ohrenschmalz entfernen“ sei es bislang aus seinem Kopf herausgekommen und je in die Form von Schrift gelangt: „es fraß ihm das gehirn auf; / wahnsinn dankt“.
Ernst Jandl : Letzte Gedichte. Hrsg. von Klaus Siblewski. Luchterhand Verlag, München 2001, 18,50 DM. / Kurt Riha FR 18.9.01
Der algerische Schriftsteller Rachid Boudjedra sprach in St. Gallen
Wenn Poesie heute lästig ist, obwohl sie sich doch immer rarer macht, so liegt das nach Ermessen von Rachid Boudjedra daran, dass sie durch ein dickes störendes Rauschen aus Daten des Realen hindurch die Welt bis ins Mark trifft. Dieses Rauschen erlaube es widersinnigerweise, sich im Realen einzunisten, nicht um die Realität, sondern das Bewusstsein wiederherzustellen. «Wir haben jetzt also einen komplexen Text (das Gedicht), der die Welt, anstatt sie künstlich zu vereinfachen, in ihrer Kompliziertheit und ihrer Mehrdeutigkeit wiedergibt.» / Tagblatt 25.9.01
is vital, visceral, immediate and delightfully lyrical. Yes, she lived in Greenwich Village in the 20’s and in Paris in the 30’s; yes, she was a self-described nymphomaniac, a colossal celebrity, the recipient of dozens of honors. But the best of her liveliness and her passion she poured into her poetry, which is still the truest record of the lovely light shed by a candle burning at both ends.
/ The New York Observer 27.8.
A Jordanian poet, Musa Hawamdeh, says the authorities in Amman have seized copies of a book containing a controversial poem by him.
Mr Hawamdeh told the BBC that the authorities confiscated the books after Jordanian Islamists described him as an apostate and called for the death penalty if he doesn’t repent.
Islamists say the poem, entitled ‚Joseph‘, contradicts the story of Joseph as it is told in the Quran, but Mr Hawamdeh says the poem is purely metaphorical. The controversy follows the trial in Lebanon this year of the songwriter Marcel Khalife for using words from the Quran in his songs. / From the newsroom of the BBC World Service 24.3.00
Tadeusz Rozewicz, Poland’s leading poet, fashions gold from unlikely amalgams in his new anthology Recycling. James Hopkin applauds his warm irony and self-effacing voice
…Indeed, Rozewicz employs language stanzas (in German, English, Latin) as much for their authenticity as for their musicality. Myriad linguistic registers jostle for contention, too, from the gutter press to Goethe. Though harmonised by his warmly ironic, self-effacing voice, these disparate elements ’speak in accents of tin and rust/ they buzz and hiss‘ as an earlier poem, ‚Warmth‘, promises. / The Observer Sunday September 2, 2001
„In der Schweiz wird gegenwärtig wenig für Lyrik getan. Was in anderen Ländern und Sprachregionen einen hohen Stellenwert hat, tut man hierzulande schnell ab mit dem Hinweis, wir seien kein „poetisches Volk“. Diese Qualifikation ist ungefähr so hochstehend, wie wenn es heissen würde, wir seien kein technisch begabtes Volk und demnach fürs Autofahren so ungeeignet, daß man das gar nicht braucht. Kurz, wir möchten etwas aufbauen, das einen lebendige, innovative Tradition geben könnte, wenn der Start gelingt. Zu den Voraussetzungen gehört, daß es in der Schweiz, in diesem Fall insbesondere der Ostschweiz, nicht schadet, mit der Zeit als eine Art geistiger Kernpunkt für moderne Lyrik/Literatur zu gelten“ (Beat Brechbühl, Schriftsteller, Verleger und Mitorganisator der Frauenfelder Lyriktage)
Die Verächterin „zweckfreier“ Lyrik (also die taz)
so begann ich im September 2001 eine Nachricht,
druckt heute ein Gedicht mit einem Zweck (der obendrüber steht). Autor ist Klaus Theweleit. Hier der Schluß:
Wer all das „realisiert“ haben möchte
In Eisen, Stein, Beton, Farbe, Blech
In Kommissionsvoten & Regierungsbeschlüssen
Soll auch verewigt werden
In Tafeln auf dem Platz
In einer Liste Neuerer Täter
Unschuldiger Täter
Die nichts taten
Als an das Gedenken zu denken
Das sie den ermordeten Juden zu geben bereit waren
In einem Mahn- und Denkmal großen Stils.
Damit dieser leidigen Angelegenheit
Nun endlich Genüge getan wäre
Nach Zwangsarbeiter-„Entschädigungs“-Modell –
„Und keine weiteren Ansprüche, bitte,
Aus Amerika oder sonst woher“
Sonst lassen wir das Ding
Noch platzen.
*****
Im Wort Israel
Steckt eine Antwort
die das Wort sich selber gibt:
Israel is real
Unsere Realität dagegen
Liegt im Unverwirklichten
Liegt im Bleibenlassen
Dessen was Bleiben will
Und sehen, ob es hier leben kann
Unbe(ob)achtet.
„Glossolalia itself, Wacker concedes, is not a language, for it lacks tenses, grammar, and syntax. But neither is glossolalia nonsense. We are best off understanding the phenomenon of speaking in tongues partly as an involuntary physiological process that takes control of believers, but also partly as a process that believers consciously know how to enter and to leave. And speaking in foreign tongues–well, that, he suggests, may have happened because „ideology dictated behavior.“ If you were convinced that the Lord was about to make his appearance in the world, you could speed up the process of saving souls in foreign lands by convincing yourself that you spoke the languages that they used. / Alan Wolfe, The New Republic 27.8.01
Heaven Below: Early Pentecostals and American Culture
by Grant Wacker
(Harvard University Press, 364 pp., $35)
Mit dem Erscheinen der Bände 7 und 8 legt die Frankfurter Ausgabe nun – kurz vor Schluss – endlich vor, was nicht nur der Auffassung des Herausgebers nach, als ihr Herzstück gelten muss und einem frühen Plan nach ihr erster und einziger Gegenstand hätte sein sollen: nämlich die Edition des lyrischen Spätwerks von Hölderlin, insbesondere des als Homburger Folioheft bezeichneten umfangreichen Manuskripts. Unter dem lapidaren, das leicht missdeutete Beiwort „vaterländisch“ bewusst auslassenden, Titel Gesänge findet man nun jene viel interpretierten Texte, auf die sich der Ruhm Hölderlins seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet hat: zum Beispiel die Gedichte „Der Rhein“, „Germanien“, „Patmos“, „Der Einzige“, „Friedensfeier“, „Andenken“, „Mnemosyne“.
Man findet diese Texte einmal in ihren handschriftlichen Zusammenhängen, wie sie im Faksimile erscheinen (Band 7) und dann in einer chronologischen Edition (Band 8), die die Gesamtheit dessen, was Sattler als das Integral des von Hölderlin intendierten Gesangs versteht – das heißt auch all das, was in der Stuttgarter Ausgabe in der Rubrik „Pläne und Bruchstücke“ untergebracht oder in den Varianten behandelt wurde – in 288 Segmente gliedert und gleichberechtigt in einen vermuteten Entstehungszusammenhang stellt. / FR 1.9.01
Originalton Verlagsanzeige: „Das Resultat unterscheidet sich so grundlegend von den bisherigen Ausgaben, dass ein neuer Anfang mit Hölderlin zu hoffen (…) ist.“
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von D.E. Sattler. Band 7 / 8: Gesänge I / II. Verlag Stroemfeld / Roter Stern, Frankfurt am Main 2001, zusammen 1024 Seiten, je Band 224 DM.
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