Spritz 220

Sprache im technischen Zeitalter
Ausgabe 220, Dezember 2016.

Titelthema: Die DDR in der Literatur nach 1989

Spritz fragte 3 Autoren, die in der „ehemaligen“ DDR aufgewachsen sind und einen aus der „ehemaligen“ kleineren Bundesrepublik. Kathrin Gerloff hatte in den 80er Jahren in Leipzig Journalistik studiert. Nicht dabei, sondern danach sei sie in eine Denkblockade geraten. Es habe 1986 „eine spürbare Aufbruchsstimmung“ gegeben, eine kurze „Zeit der Euphorie dank Gorbatschow“, „die aber sehr schnell wieder zusammengebrochen war“. Von da an habe „eine fürchterliche Lähmung und Verzweiflung“ geherrscht. Von „außen“, ob räumlich oder zeitlich, mag das verwundern. 1986, war das nicht der Zeitpunkt, an dem Gorbatschows Perestroika allmählich Fahrt aufnahm? Wie ich mich erinnere, steigerte sich die (nicht Euphorie sondern) Hoffnung von Jahr zu Jahr. Honeckers DDR verfiel in Winterstarre, um so unabweislicher schien mir, daß dieses System nicht mehr viel Zeit hatte.

Andere Frage: „Hatten Sie Zugriff auf Westliteratur?“ Antwort: „Ich hatte keinen Zugriff.“ Wie bitte? Fuhren nicht andere zum Beispiel aus Rostock oder Greifswald nach Leipzig, weil die Deutsche Bücherei alle deutschsprachigen Bücher sammelte? Nur ein Teil davon stand im Lesesaal, sogar ein paar Zeitschriften wie „Akzente“ oder „Sprache im technischen Zeitalter“, das meiste stand im Depot und mußte in einem speziellen Lesesaal gelesen werden, wenn man ein Papier vorweisen konnte, auf dem stand, daß man zu wissenschaftlichen Zwecken Zugang zu „spezieller Forschungsliteratur“ benötigte. Mein Dozent in Rostock schrieb dem Studenten auf Wunsch gern einen solchen Giftschein (auf Kopfbogen bitte). Vielleicht ist das der Schlüssel, „auf Wunsch“. Vielleicht waren Journalistikstudenten ideologisch so „gefestigt“, daß sie den Wunsch nicht hatten? Ich staune. Sie spricht selbst davon: „Wir hätten wissen können, ich hätte wissen können. Ich habe es nicht gewusst, weil ich mich verweigert habe, weil ich nichts in mein rundes Weltbild hineinlassen wollte. Ich hatte alle Voraussetzungen. Ich war alt genug, ich war klug genug, ich glaube sogar, mein Umfeld hätte mir nicht allzu viele Steine in den Weg gelegt. Ich habe es trotzdem nicht getan.“ – Die Autorin erzählt später, wie sie nach der Wiedervereinigung mit einem „klassischen westdeutschen 68er“ zusammengezogen ist. Er hatte 12000 Bücher, sie etwa 2500. Sie hätten beschlossen, Dubletten auszusondern, aber es gab keine. Da begann das große Nachholen.

Nadja Küchenmeister wird mehr nach Literatur befragt. Sie warnt: „Doch sollte man den autobiographischen Signalen [in ihren Gedichten] nicht auf den Leim gehen.“ Und spricht über die Rolle von Zitaten, „Fremdsprache“ im eigenen Gedicht.

Ingo Schulze zum Thema Westlektüre: „Die Bibliotheken waren ziemlich gut. Wer sich für etwas interessierte, konnte sich schon belesen, auch jenseits des Offiziellen.“

Und auch ein Satz von Thomas Lehr sei zitiert: „Als ich Westdeutscher war – so märchenhaft muss man das jetzt sagen – hat mich einfach gute Literatur interessiert und es war für mich gleich, woher die kam.“ Märchenhaft trifft es schon.

Hans Christoph Buch gibt Proben aus frühen Briefen von und an Nicolas Born. Buch an Born: „Ich habe ein Gedicht geschrieben: ‚Gib das Rauchen auf, Mao! / Geh aufs Land, / Bau Dämme, züchte Vieh, / Schreib Gedichte, schwimm ein bisschen. / Du brauchst die Bombe nicht, Mao. / Marx war ein Westler: / Schieß nicht auf mich! / Komm, wir trinken ein Bier‘ (…) Vielleicht kannst Du’s als Loseblattlyrik verkaufen.“

Born an Buch: „Liebe Buchs, es ist hier alles sehr groß und erstaunlich. Der arme amerika-unkundige Born steht am Empire State Building und sagt zu jedem Passanten Guten Tag. Wo ist die unselige Rothaut, die Manhattan für 24 $ verkaufte? Ich suche nach Spuren von Frank O’Hara. Euer Born.“

Die Gedichte im Heft (von Urweider) habe ich ebenso überblättert (später, später!) wie die in der aktuellen Ausgabe von „Sinn und Form“ (dazu nächste Ausgabe L&Poe). Bis ich zum Schluß kam. Matthias Göritz stellt ein Langgedicht von Chigozie Obioma aus Nigeria vor und zitiert in der Einleitung Hendrik Rost: „Ein politisches Gedicht ist auf jeden Fall ein Gedicht, das ich verstanden habe, wenn ich es lese.“ Vielleicht ist es das. Ich kam mir ein bißchen wie Brecht vor, als er die Gedichte von 400 feinsinnigen (bürgerlichen) Dichtern verwarf und stattdessen ein Gedicht aus einer Sportzeitung auszeichnete. Ich habe das Gedicht aus Nigeria, aus Biafra, 1968 und heute, auf einen Ritt durchgelesen und es hat mir etwas mitgeteilt, das mir wichtig war.

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