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Veröffentlicht am 31. Dezember 2016 von lyrikzeitung
Über Becketts Deutschlandaufenthalt von 1936/37 berichtet sein Biograph James Knowlson:
Einige von Becketts frühen Gedichten, vor allem „Da tagte es“, enthüllen den Einfluss von Walther von der Vogelweides „alba“ und in Becketts letztem Prosastück Immer noch nicht mehr wird namentlich auf den Lyriker angespielt: „Zu diesem Zweck, da kein Stein da war, auf den er sich setzen konnte wie Walther und die Beine übereinanderschlagen, war es das beste was er tun konnte, auf der Stelle zu bleiben und stock-steif dazustehen“.
Beckett las Lessing und liebte auch die Gedichte von Hölderlin, Heine und Goethe, die er auswendig zitieren konnte. Doch auch die Lektüre von zeitgenössischen Autoren wie Ernst Wiechert, Paul Alverdes und Hermann Hesse regte ihn zum Überdenken der eigenen literarischen Position an. / FR 28.7.01
Lesenlernen mit Stein & Draesner
Ein weiteres wesentliches Element für das Lesenlernen ist die Wiederholung. Und da die Wiederholung als Variation, Modulation, Reihung, angedeutete Endlosschlaufe zu Steins bevorzugten Stilmitteln gehört, wurde „The First Reader“ ein wunderbares Gertrude-Stein-Buch, ein Dokument ihrer immer noch frischen literarischen Minimal-Art, verwandt beispielsweise den Prosapoemen aus „Zarte Knöpfe“ oder den Gedichten aus „Spinnwebzeit“. Mit Gertrude Stein lesen zu lernen ist eine herzerweiternde Übung. Ulrike Draesners Übersetzung vertieft den Lesegenuss. Mit ihrem sprachschöpferischen Ansatz der „Radikalübersetzung“, den sie bereits bei ihrer Übertragung von Shakespeare-Sonetten praktizierte, wird sie Gertrude Steins Sprachexperiment gerecht, wenn sie sich, wie die Stein, oft weniger am Wortsinn als an der Sprache selbst orientiert.
Gertrude Stein: „The First Reader“. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Draesner . Zweisprachige Ausgabe. Ritter Verlag, Klagenfurt/Wien 2001, 125 Seiten, 39 DM /Florian Vetsch, taz 24.7.01
Wenn sich der Spiegel mit Lyrik einläßt,
geht es gewiß so:
V E R D Ä C H T I G E W O R T W A H L. Lebensmüde Poeten verraten sich – Lyriker scheiden besonders häufig von eigener Hand aus dem Leben. – Per Textanalyse lässt sich ermitteln, wie Ernst es den Poeten mit dem Freitod ist, glauben US-Psychologen. Sagt der Spiegel.
Daneben drei Kontext-Werbe-Artikel im Kästel:
- Trichinose: Trieben Schweinekoteletts Mozart in den Tod?
- Drogen: War Shakespeare ein Kokser?
- Beethoven: Giftige Glasharmonika
(Keine Satire – Der Spiegel online 24.7.2001)
Roland Barthes beschrieb das Haiku
einmal im Kontext des Fragments als «Anflug von Begehren. In der Form des Satz-Gedankens kommt der Keim des Fragments gleich über uns: im Café, im Zug, beim Gespräch mit einem Freund (es taucht seitwärts zu dem auf, was er sagt oder was ich sage); dann holt man sein Notizbuch heraus, nicht um einen Gedanken aufzuschreiben, sondern so etwas wie eine Prägung, was man früher einen Vers nannte» (in «Über mich selbst», der autobiographisch getönten Summe seines Denkens und Lebens).
Im Westen wird das Haiku-Prinzip der poetischen Konzentration mit einer Zen-buddhistischen Haltung assoziiert – zu Recht, denn die Kunst des Haiku wurde wesentlich von Basho geprägt, und seine meist auf der Wanderschaft von einem buddhistischen Kloster zum anderen entstandenen Gedichte definieren und überragen den Kanon zugleich. Liest man seine Gedichte in einer westlichen Übersetzung, kann leicht der Eindruck entstehen, die Einfachheit dieser immerhin vierhundert Jahre alten Gedichte impliziere poetische Anspruchslosigkeit. Aber gerade das Gegenteil ist wahr, denn wie stets ist poetische Unmittelbarkeit Ergebnis einer komplexen Rhetorik. /Hans Jürgen Balmes NZZ 26. Juli 2001
Shmon. Das Tor der Klause zur Bananenstaude. Haiku von Bashos Meisterschülern Kikaku, Kyorai, Ranetsu. Herausgegeben und aus dem Japanischen übertragen von Ekkehard May. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2000. 223 S., Fr. 36.50.
Der surfende Hermes
In seinem Essayband „Botenstoffe“ spiegelt sich der Lyriker Thomas Kling in Hermetikern aller Zeiten
Poesie ist göttlicher Botenstoff. Sie bringt einzigartige Mitteilungen aus dem inneren Kosmos des Menschen. In gut zwei Dutzend Essays, die in den letzten Jahren entstanden sind, sortiert und kommentiert Kling unter dem Titel „Botenstoffe“ sein Quellenmaterial und arbeitet sein poetisches Umfeld nachrichtenmäßig auf. Die einzelnen, scheinbar zersprengten Themen fügen sich zu einem deutlich erkennbaren Raum, der nicht nur bislang wenig betrachtete literaturgeschichtliche Zusammenhänge deutlich werden lässt, sondern gleichzeitig die Poetik Thomas Klings beherbergt. Kling räumt mit Missverständnissen auf, indem er historisch weit ausholt. Seine Kritiker werfen ihm oft vor, hermetisch zu schreiben, meinen wohl aber eigentlich unverständlich. Der Dichter rückt den Begriff ins rechte Licht, in die unmittelbare Nähe zur mythologischen Hermesfigur. Der Götterbote funktioniert in seiner steten Reise- und Übersetzungstätigkeit zwischen Oben und Unten und zwischen Licht- und Schattenreich als „Teilchenbeschleuniger, als Beschleuniger von Sprachteilchen“, als Vermittler der Sphären. / Cornelia Jentzsch, Berliner Zeitung 21.7.01
Das Forum der 13
besteht seit 1999. Seine Selbstbeschreibung geht so:
Im August 1999 trafen sich im Nordkolleg Rendsburg 13 Autorinnen und Autoren und gründeten das TREFFEN DER 13.
Ihr Anliegen war, eine Plattform zu schaffen, auf der möglichst frei von den strukturellen Zwängen des Literaturbetriebs und der etablierten Medien über Fragen der Literatur gesprochen werden kann.
Seither finden regelmäßig Zusammenkünfte statt, die von einer ständigen Kommunikation und Diskussion im Internet begleitet werden. Die Autorinnen und Autoren des Forums nutzen das Internet gleichzeitig als Publikationsmedium literarischer Texte. Parallel dazu werden öffentliche Lesungen veranstaltet.
Im Laufe der Zeit bildete sich als Schwerpunkt der Diskussion die Frage nach dem Verhältnis von Ästhetik und Politik heraus: In einer Zeit rasanter Medialisierung der Wirklichkeit und im Spannungsfeld zwischen Kunst und Kommerz fokussiert die Arbeit der Gruppe die zunehmende Ästhetisierung des Politischen und ihre Folgen.
Zu den 13 Autoren gehören auch Lyriker – z. B. Raphael Urweider, Mirko Bonné, Sabine Scho oder Michael Lentz. Auf der Website des Forums gibt es regelmäßige Debattenbeiträge und Textveröffentlichungen. Im Forum Lyrik gibt es Gedichte, Nachdichtungen (E. E. Cummings, Keats, Ghérasim Luca), Haikus und Statements – so über die (Un-)Übersetzbarkeit oder über Politikersprache.
Poetical Correctness: US Poetry Hijacked by Professors?
American fiction may be big, but the poetry is pitiful. Michael Lind applauds the range of British verse and finds in Dana Gioia a rare American talent.
At the beginning of the 21st century, the contrast between the relative health of poetry in Britain and its dire condition in the US is striking. In Britain, the Poet Laureate is known if not always respected and the selection of the Professor of Poetry at Oxford makes the newspapers; in the US, nobody can tell you the name of the Poet Laureate (answer: Stanley Kunitz). The best British poets, such as Seamus Heaney, James Fenton, Charles Causley, Tony Harrison and Wendy Cope , use traditional verse techniques in innovative ways to write about a range of subjects in a variety of genres, including political satire and light verse. In the US, by contrast, almost all of the prestige poetry is written in the early 20th-century mode of „free verse“–that is to say, lines of prose chopped up at arbitrary points–and almost all of it consists of relatively short poems, usually a domestic epiphany or a description of a scene or item as its subject. Hardly anyone writes poetry in the US other than professors–and hardly anybody reads it, other than the professors who write it.
The collapse of American poetry into the black hole of academic obscurity is a process that has been occurring for half a century. As recently as the 1920s and 1930s, poets like Robert Frost and Robinson Jeffers were celebrities. Edna St Vincent Millay had her own radio programme. The book-length narrative poems of Edwin Arlington Robinson and Stephen Vincent Benet were bestsellers. Between the wars, as in the 19th century, American poets were more likely to be journalists, men of letters, or even public figures than professors–John Quincy Adams, the sixth president, translated Horace.
All of this changed when a gang of professors hijacked American poetry… / Michael Lind, Prospect , July 2001
Paradiesvogel der Avantgarde: Gespräch mit Friederike Mayröcker
WELT am SONNTAG: Frau Mayröcker, was empfanden Sie, als Sie erfuhren, dass Sie den Büchnerpreis bekommen?
Friederike Mayröcker: Ich habe geheult. Stundenlang habe ich geweint. Es war Freude, aber auch furchtbare Traurigkeit, weil die Menschen, die ich so geliebt habe, es nicht mehr erleben konnten – Ernst Jandl und meine Mutter.
WamS: „Magierin des Wortes“, „Alchemistin der Sprache“, auch „Paradiesvogel der Avantgarde“ hat man Sie genannt. Kann man Sie einfach als größte lebende Dichterin deutscher Sprache bezeichnen?
Mayröcker: Als bescheidener Mensch kann ich darauf nicht antworten.
WamS: Sie sind nach Ernst Jandl (1984) und H.C. Artmann (1997) die dritte Büchnerpreisträgerin aus der Wiener Gruppe von Dichtern, die mit experimenteller Poesie Aufsehen erregten. Was war so avantgardistisch an Ihrer Wortkunst?
Mayröcker: Wir trauten der herkömmlichen Sprache nicht mehr und haben damals nach dem Kriege versucht, etwas Neues zu machen. Wir haben aus Büchern, Zeitungen und Zeitschriften Texte montiert, Sprachcollagen als Sprachverfremdung. / Welt am Sonntag 15.7.01
Nach dem Frühwerk
1995 erhielt Grünbein den Büchnerpreis für sein Frühwerk, das ganz anders ist als das, was der 1962 geborene Lyriker, Essayist und Übersetzer (Aischylos, Pindar, Juvenal ) jüngst herausgab: nach den Eruptionen nun „Nach den Satiren“ (erfahren wir im Göttinger Tageblatt vom 10.7.) Professor Fuhrmann in Göttingen nämlich ist begeistert von Grünbein, „der sich die Alten Sprachen im Selbststudium angeeignet hat und Verse in juvenalischen Maßen schmiedet, der den „athletischen Stil“ lateinischer Dichtung preist und der antiken Literatur nach eigenen Worten „die wichtigste Schreiblektion“ verdankt. Zupackend und treffsicher schreibe Grünbein, verbinde Gelehrsamkeit mit Zartheit, die antike Welt mit dem Heute, das Alte Rom mit dem neuen Berlin. Nie arte dabei die Form zur Manier aus. Eher archaisch als klassizistisch sei Grünbein zu nennen, ein moderner Dichter, der Rom als „Repertoire für farbige Sujets“ nehme.“
Gegen Wortgeklingel
Ein besonderer Genuss ist das Vorwort, das ungewohnt deutlich Kritik übt – am Hang arabischer Lyriker zum «rhetorischen Wortgeklingel» und am Opportunismus als einem «Grundübel» arabischer Kultur. Dass al-Maaly ausgerechnet Verse des Erzmodernisten Adonis als Beispiel zitiert, ist mehr als pikant. Wohl schätzt er sein literarisches Urteil – aber das ekstatische Loblied auf die iranische Revolution von 1979 («Das Volk des Iran schreibt an den Westen: / Dein Gesicht, du Westen, stürzt zusammen / Dein Gesicht, du Westen, ist abgestorben») ist tatsächlich eine Geschmacklosigkeit. Mit anderen Worten: Der Wanderer zwischen den Kulturen hat das Allzu-Arabische fortgelassen, der Leser weiss es ihm zu danken, wie er ihm dankt für das viele Schöne, das er glücklich ins Deutsche zu retten wusste. / Ludwig Ammann NZZ 3. Juli 2001
Khalid al-Maaly (Hg.): Zwischen Zauber und Zeichen. Moderne arabische Lyrik von 1945 bis heute. Aus dem Arabischen von Khalid al-Maaly, Heribert Becker und Suleman Taufiq. Verlag Das Arabische Buch, Berlin 2000. 493 S., Fr. 49.80.
Gestorben im Juli 2001
Der holländische Rockmusiker, Maler und Lyriker Herman Brood ist am Mittwoch im Alter von 54 Jahren vom Dach des Amsterdamer Hilton Hotels in den Tod gesprungen. Er trug einen Abschiedsbrief bei sich, in dem stand, dass er keine Lust mehr habe. / FR 13.7.01
Der Schriftsteller Arno Reinfrank ist in London im Alter von 66 Jahren gestorben. Reinfrank erlag einem Krebsleiden. Der gebürtige Mannheimer schrieb Lyrik, Prosa, Dramen, Drehbücher und Hörspiele. Außerdem arbeitete er als Publizist und Übersetzer. Von 1980 bis 1989 war er Generalsekretär des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland. Reinfrank verließ die Bundesrepublik 1955 aus Protest gegen die Adenauer-Politik. Seit 1989 gehörte Reinfrank dem deutschen Schriftstellerverband PEN (Ost) an. (dpa)
Außerdem starben
Kurz gesagt
Kategorie: Arabisch, Aserbaidschan, Österreich, Deutsch, Deutschland, Englisch, Großbritannien, Kroatien, Niederlande, Rußland, USASchlagworte: Adonis, Arno Reinfrank, Cornelia Jentzsch, Czesław Miłosz, Dana Gioia, Der Spiegel, Durs Grünbein, Fitzgerald Kusz, Forum der 13, Friederike Mayröcker, Gertrude Stein, Haiku, Herman Brood, Khalid Al-Maaly, Michael Lind, Nikolai Morschen, Rückblende, Roland Barthes, Samuel Beckett, Thomas Kling, Ulrike Draesner
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