87. Kriegspoesie

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verwandelte die Deutschen in ein Volk von Dichtern. Nach einer Schätzung des Literaturkritikers Julius Bab gingen im August 1914 täglich etwa 50 000 Kriegsgedichte in den Redaktionen von Zeitungen und Zeitschriften ein. An der «poetischen Mobilmachung», so Babs Ausdruck, beteiligten sich auch die professionellen Schriftsteller. Euphorische Gesänge, die Deutsche und Österreicher beim Gang in die Schlacht beseligen sollten, sind überliefert von Richard Dehmel, Gerhart Hauptmann, Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Alexander Schröder (um nur die bekanntesten zu nennen). (…)

Eines der eindrucksvollsten Weltkriegsgedichte ist die Momentaufnahme des Tötens, die der jüdische Arzt und Lyriker Georg Hecht auf einer Feldpostkarte festgehalten hat:
Leichnam

Schon war das Hindernis von Leichen
Übersprungen, da traf die Stirn das Blei.
Er brach im Kreuz zusammen, ohne Schrei,
Hintüber, zuckte kaum. Auf seinesgleichen
Lag er, vor ihm fielen eben andre drei,
So dass sein Fuss in ihren Weichen
Sich verhenkte, und er, ein aufrecht Zeichen,
Steckend stehen blieb. Die Arme waren frei
Und halb erhoben aus der Lache
Von Blut und Erde, fest in steter
Andachtsbeugung der antiken Beter,
Zeugend Wort und Sinn der fremden Sache.

Der furchtbare Vorgang, dass ein soeben Erschossener durch Verhaken in den Nachbarleichen zum Mahnmal aufgerichtet wird, erscheint in einer kühl-sachlichen Beschreibungssprache. Gerade dadurch gewinnt das Gedicht seine eigene, gnadenlose Zeichenhaftigkeit. Hecht fiel im Mai 1915 in Frankreich.

Die scheusslichste Kriegswaffe, Giftgas, setzten zuerst die Deutschen ein, die Reichswehr verfügte bis 1917 auch über die effizienteste Gasmaske, die dem britischen Modell weit überlegen war. Vielleicht war es auch deshalb ein englischer Soldat, der das ikonische Gas-Gedicht des Ersten Weltkriegs geschrieben hat: Wilfred Owen, der bedeutendste der sogenannten «war poets». «Dulce et decorum est», so der ironisch Horaz zitierende Titel, schildert einen Gasangriff, der zum traumatischen Erlebnis wird. Das Ich des Gedichts kommt nicht los vom Bild eines erstickenden Kameraden, von den «verdrehten weissen Augen in seinem Gesicht»:

In seinem hängenden Gesicht, wie das eines Teufels, der der Sünde müde ist.
Wenn du hören könntest, wie bei jedem Stoss das Blut
Gurgelnd aus seinen schaumgefüllten Lungen läuft,
Ekelerregend wie der Krebs, bitter wie das Wiederkäuen
Von Auswurf, unheilbare Wunden auf unschuldigen Zungen,
Mein Freund, du erzähltest nicht mit so grosser Lust
Kindern, die nach einem verzweifelten Ruhmesplatz dürsten,
Die alte Lüge: Dulce et decorum est
Pro patria mori.

(…)

In seinem Kriegstagebuch hat Sassoon mehrfach die Wut festgehalten, die ihn überkam, wenn die Deutschen einen seiner Gefährten getötet hatten: «I would gladly stick a bayonet into a German by daylight». Das Gefühl werden sie alle gekannt haben, auch die sensiblen Dichter-Soldaten, die vor dem Krieg nie ans Töten gedacht hätten. Wie unglaublich human mutet vor diesem Hintergrund das Gedicht eines dritten «war poet», Herbert Read, über einen deutschen Kriegsgefangenen an. «Liedholz», der Name des Mannes, ist auch der Titel des Texts, der lapidar beginnt:

We met in the night at half past one
between the lines.
Liedholz shot at me
and I at him;
in the ensuing tumult he surrendered to me.

Dann, im britischen Lager, kommen sie einander näher:

In broken French we discussed
Beethoven, Nietzsche and the International.
He was a professor
Living at Spandau
and not too intelligible.

/ Manfred Koch, NZZ (http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur-und-kunst/kriegserlebnis-und-dichtung-1.18228415)

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