Das Archiv der Lyriknachrichten | Seit 2001 | News that stays news
Liebe L&Poe-Leserinnen und -Leser,
seit Ende 2000 gibt es die Lyrikzeitung, 15 Jahre als Tages-, jetzt als Wochenzeitung. Jeden Freitag neu mit Nachrichten aus der Welt der Poesie. Poetry is news that stays news, sagt Pound. In der heutigen Ausgabe: Peter Härtling und Werner Hamacher †. Peter Neumann, Ann Cotten, Franzobel, Rußland: Die neuen Kosaken, Liu Xiaobo, Dschihadistenpoesie, nicht nochmal Jan Wagner – aber manches andere. Lesen! (Übrigens: Verschiedene Serien, wie: Shakespeares Sonette, sowie die Zeitschriftenreviews gehen nach der Sommerpause weiter)
Die Themen in dieser Ausgabe
Peter Neumann
siehssudas
guck dir das an, siehssudas, wie sich das dreht un dreht, das is n orignal tornado, scheiß die wand an, altä, na, hauptsache, der kommt nich auf uns zu, hauptsache, der geht an uns vorbei, dassieht ganz schön gefährlich aus, altä, is ja der hamma, guck dir das an, das is voll tornado, dasiss ein hurricane, altä, altä, scheiß die wand an, altä, is aber einer von der harten sorte, du, wie der aussieht, altä ‒ was machen wir jetzt, altä ‒ na, los fahren, älta ‒ ich fahr doch da nicht rein, altä ‒ aber das geht doch an uns vorbei ‒ altä, hast du gesehn, was da grad geblitzt hat, guck dir das an, wie sich die scheiße dreht, altä, guck ma, ach du scheiße, guck ma, wie es da regnet, guck ma, wie sich die wolken zusammenziehn, älta, was machen wir jetzt, ich will da nicht rein ‒ ja, kommt das, oder ‒ das kommt genau über uns rüber, altä ‒ ja, wollen wir aussteigen, oder ‒ guck ma, dahinten genauso ‒ entweder an land oder, entweder wir fahren jetzt oder gehen an land, oder
Ann Cotten in einem leidenschaftlichen Kommentar zur großen Mehrheit der Demonstrierenden von Hamburg in der Zeit online (sowas drucken die denn nun doch nicht, oder?), Auszug:
Beim Recherchieren, was einen lieben Freund beim Protest gegen den G20-Gipfel erwartet, und im Versuch, ihm ein Piratenshanty for the road zu dichten, fällt mir schlagartig auf, wie krass sie sind, nämlich die, die da losziehen, trotz der Warnungen und Verlockungen, man sollte doch lieber wie andere Menschen bequem und ignorant und eventuell auch etwas ängstlich dem Alltag nachgehen. Diese Leute sind die besten, die Mitteleuropa in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat, sozusagen die Crème de la Crème der Jugend.
Das sind sicher keine Chaoten. Sie folgen auf organisierte und moderate Weise ihrer Überzeugung. Sie schmeißen Flaschen weniger oft, als die Regierenden Gender-Fails zum eigenen Fortkommen missbrauchen. Sie sind international vernetzt und bauen alternative Strukturen von null auf. Sie haben ein lebendes Herz und sind wütend über unsere fortdauernde und uns alle mit einschließende kolonialistische, postkolonialistische, teils schlicht freibeuterische Haltung zur Gesamtwelt. Sie demonstrieren friedlich und sprechen von konkreten und wichtigen Angelegenheiten, unverschlüsselt und ohne Heer. Sie stehen jetzt dem aufgestockten Arsenal und der unbekannten Strategie der Polizei in Hamburg gegenüber, mit nicht mehr als dem eigenen verletzlichen Körper, und ich habe jetzt Angst um sie. Wie schnell fliegt „in Notwehr“ eine Kugel, wird ein Körper zertrampelt, zieht Gift ins Hirn. Was, wenn einer nicht zurückkommt, zwei, zehn, zwanzig?
Es genügt aber schon, wenn der Idealismus gedämpft wird von der deprimierenden Destruktivität der Polizei, die immer wieder niederreißt und verhindert, was gerade Schwung und Gestalt bekam. Bewegte Beschäftigung mit Weltpolitik trifft auf verordnete Ohnmacht, und eine schwarze Mauer, die nur darauf lauert, dass der Emotionstopf überkocht, um zu zeigen, wie unratsam es ist, die Probleme der Welt zu den eigenen zu machen. Der junge Schiller von 2017 lernt, wenn er da heil rauskommt, dass alles aussichtslos ist, die Demokratie eine brennschmelzende Fassade, der Staat eine Miliz, die letztlich mit stumpfer Gewalt agiert, gegen die man angehen könnte, bis man als Skelett zu Boden fällt, sieht all das und wird stumpfer Hedonist oder schlimmer.
Literatur speichert Erfahrungen und Empfindungen schneller als die Gene. Sie darf Dinge anders sehen, aussprechen, neu bewerten, Utopien entwerfen, unvernünftig und verrückt sein. Sie darf Dinge zurechtrücken, was gerade ziemlich notwendig zu sein scheint, denn die Welt ist ein übel riechender Schweinetrog geworden, an dem sich ein paar wirkliche dicke Säue laben, die Anlass zur Vermutung geben, der bekannte, oft zitierte Ausspruch der Ingeborg Bachmann sollte eigentlich lauten: In Wahrheit ist der Mensch die Zumutung. Da werden Billiarden für Rüstung ausgegeben, es fehlt aber angeblich Geld für Bildung. Aus Profitgier und Hegemonialstreben werden die Kioto-Protokolle zum Klimaschutz ebenso ignoriert oder umgangen wie sämtliche Menschenrechtschartas. Jährlich ertrinken 5000 Flüchtlinge im Mittelmeer, noch immer verhungern Kinder oder fehlt es ganzen Völkern an Medikamenten, Wasser, Grundnahrungsmitteln. Wir alle wissen das – diese ungeheuerliche Verlogenheit: Waffenlieferungen in Krisengebiete, Menschenhandel, darmschädigende Enzyme im Fertigteig der Großbäckereien, krebserregende Handystrahlen, verbrecherische, ja komplett amoralische Massentierhaltung, von Pharmakonzernen verseuchtes Wasser, in dem sich Superkeime bilden, betrügerische Banker, gefälschte Abgasstudien, bis hin zur Tochter des Wir-zuerst-und-Arbeitsplätze-zurück-nach-Amerika-Präsidenten, die ihre Modekollektionen von Arbeitssklaven in Billiglohnländern produzieren lässt … das Skandalöse hat die Welt mit ihrer Akne überzogen – und wenn etwas aufbricht, der Eiter der Korruption und Gier, der Machtgeilheit und des Nepotismus hervortritt, wandert einfach eine Politiker- oder Aufsichtsratsmarionette mit einer Millionenabfertigung in die gute Puppenstube der Pension. / Franzobels Rede zur Literatur im Wortlaut bei Der Standard
Er moderierte jahrzehntelang ein Literaturquiz im Hessischen Rundfunk und besprach in der „Frankfurter Anthologie“ dieser Zeitung mit großem Enthusiasmus am liebsten halb oder fast ganz vergessene Autoren wie Max Herrmann-Neiße, Richard Beer-Hofmann, Theodor Kramer, Ferdinand Hardekopf, Christian Daniel Schubart und Justinus Kerner, aber auch Goethe, Hölderlin, Heine und Fontane. „Seit ich dieses Gedicht kenne, hastet es durch mein Gedächtnis, höre ich seinen heftigen, am Ende seufzenden Atem“, heißt es da über ein Gedicht der frühverstorbenen Hertha Kräftner, und in diesen Worten ist eben auch die Erkenntnis enthalten, dass man sich nicht von der Literatur retten lassen und anschließend die Kunst Kunst sein lassen kann. / Tilman Spreckelsen, FAZ
Mehr: Frankfurter Neue Presse | Deutschlandfunk | Tagesspiegel | Süddeutsche Zeitung | Südwest Presse
Alle Nachrichten und Informationen der F.A.Z. zum Thema Peter Härtling
Der österreichische Autor Hanno Millesi erhält den mit 4.000 Euro dotierten Reinhard-Priessnitz-Preis 2017. Der Jury gehörten in diesem Jahr Gustav Ernst und Robert Schindel an. Die Preisverleihung findet am 23. Oktober 2017 um 19.00 Uhr im Literaturhaus Wien statt, die Laudatio wird die Autorin Ann Cotten halten.
„Hanno Millesi ist Meister darin, mit einer sorgfältig gebauten, Eigenarten und Obsessionen sehr genau zelebrierenden Sprache ausweglos erscheinende, groteske Lebenssituationen plastisch und vor allem mit viel Witz und Ironie zu schildern und bis in die absurdesten Konsequenzen auszuleuchten. Er unterhält mit einem hochartifiziellen Sinn für absonderliche, unsere Gegenwart ungewohnt treffend charakterisierende Figuren und Geschichten“, heißt es in der Begründung der Jury. / Volltext
Fundsachengezwitscher:
Chaucer Doth Tweet @LeVostreGC Vor 14 Stunden
‚Henry David Thoreau would have turned 200 today‘ ONLYE YF HE WAS EXCEPTIONALLYE HEALTHYE AND/OR A VAMPYRE
#Bosbach hat gestern eine Talkshow vorzeitig verlassen. Mein Verdacht: Er musste noch zu einer anderen Talkshow, die zeitgleich stattfand.
Und noch einmal Chaucer:
Makeres of art, poems, storyes, theater, musique, and daunse create a liveable worlde. Thei helpe us yn the present and speke to the future.
Makeres Kunst, Gedichte, Storyes, Theater, Musik und Daunse schaffen eine lebenswerte besorgt. Thei Helpe uns Yn der Gegenwart und Speke in die Zukunft.
r—–l—–@—–m—–r a—–i—–@—–i—–e n—–t—–@—–s—–a d—–e—–@—–s—–d n—–r… http://fb.me/1tAzgDLkn
die—n—@—–m—–r und——@—–i—–e —t—@—–s—–a d—e—@—–s—–d —die… http://fb.me/1tAzgDLkn
Die Literaturnaja Gaseta ist eine altehrwürdige sowjetisch-russische Literaturzeitung. Ihre Homepage zieren Porträts von Puschkin und Gorki sowie zwei hohe sowjetische Orden von 1971 und 1979. Am 17. Mai veröffentlichte sie einen Artikel, aus dem ich zitiere:
Am 1. Mai fiel der Dichter und Journalist Igor Gratsch bei Luhansk*. Getötet durch eine Kugel. Die genauen Umstände seines Todes sind noch nicht bekannt, die Untersuchung nicht abgeschlossen.
Dies hat uns sein Sohn Jaroslaw Igorjewitsch mitgeteilt: „Im Juni 2014 zeigte ihm einer seiner Bekannten Fotos von den Ukrainern. Da waren Kinder, die man zu Tode gefoltert hat, wie in einem Konzentrationslager. Ich weiß nicht, wie weit diese Fotos echt waren, aber mein Vater packte seine Sachen und ging dorthin. Er ging in den Donbass als Kriegsberichterstatter und schrieb Dutzende Artikel, Gedichte, sie wurden in Sammelbänden veröffentlicht. Aber darüber hinaus versuchte er Leute zu schützen, half der Miliz, er hatte ungefähr 500 Kampfeinsätze…“
In den Neunziger- und Nullerjahren entstand die Idee, die Kosaken wiederzubeleben. Heute ist das Kosakentum im Donbass eine mächtige freiwillige Kraft zum Schutz der Zivilbevölkerung vor den faschistischen Schlägern**.
*) Siehe Lyrikzeitung #17
**) Im Original steht das Wort molodjez, das anerkennend „Prachtkerl“ bedeutet, aber auch pejorativ gebraucht wird. Ich übersetze frei, aber dem Sinn gemäß.
Hier eins von mehreren Gedichtzitaten:
Подходит ночь,
пугливая, сторожкая.
На небе –
злато лунной булавы.
Храпит в казарме
братство запорожское,
пришедшее намедни с боевых.
Es kommt die Nacht,
schüchtern, wachsam.
Am Himmel –
das Gold der Keule des Monds.
Es schnarcht in der Kaserne
die Bruderschaft der Saporosher,
die gerade vom Kampf zurückkam.
Interessanter als das Gedicht ist die Aussage des Sohns. Man würde wohl kaum in einem Kommentar zum Tod des eigenen Vaters andeuten, daß die Bilder, die ihn veranlaßten, in den Krieg zu ziehen, vielleicht nicht echt waren, wenn man nicht sehr ernste Gründe dafür hat. Doch weder der Autor, ein Jugendfreund des im Donbass gefallenen Dichters, noch die Redaktion der Literaturnaja gehen der Spur nach. Mit wenig Rechercheaufwand kann man hunderte plump gefälschte Propagandabilder finden, Zeitpunkt und Hintergründe ermitteln. Bilder aus dem Internet gezogen, ob von spielenden australischen Kindern, ob aus russischen Kriegsfilmen, aus Nahost oder Bosnien, versehen mit Hakenkreuz und ukrainischen Fahnen… Ich erinnere mich an Bilder und „Filmberichte“ aus dem russischen Fernsehen, in denen weinende Frauen auftraten, angeblich aus Slowjansk oder Luhansk – mehr als einmal erkannte man ein und dieselbe Frau, die als Schauspielerin an den verschiedensten „Schauplätzen“ als Zeugin ukrainischer Greuel auftrat. Eine solche Schauspielerin erzählte eine Szene, wo angeblich Frauen aus Slowjansk auf den zentralen Platz der Stadt getrieben wurden, grausiges Detail, wie die faschistischen Horden einer Mutter ein Kleinkind entreißen und es ans Kreuz schlagen, bis es stirbt vor den Augen der Mutter. Erfunden, aber wirkungsvoll. Den Dichter hat es das Leben gekostet.
Nicht wenige – auch in Deutschland – wollten der Propaganda einfach glauben, weil sie dem eigenen Weltbild entsprach. (Das ist erst einmal in Ordnung, wir alle sortieren ständig unter den widersprechenden Bildern und Aussagen das uns Passende heraus. Erschütternd wird es erst, wenn es mit der hartnäckigen Weigerung verbunden ist, hinzusehen, wenn kritische Fragen gestellt werden. Religiöse, ideologische Brillen, die das Unpassende herausfiltern. Lebt sich auf alle Fälle gesünder mit reinen Bildern im Kopf.)
Der Sohn ahnt oder weiß, daß die Bilder möglicherweise gefälscht sind. Autor und Redaktion ahnen es nicht, sei es daß es nicht opportun erscheint, sei es, daß es dem eigenen romantisch-militaristischem Weltbild entspricht. Die Kosaken, ein alter nationalistischer Mythos, den Stalin und auch Putin wieder aufgewärmt haben. Schon Jahre vor dem Krieg in der Ukraine wurden in Putins Rußland die Kosaken reaktiviert, eine Million Leute für paramilitärische Aufgaben. Wie viele von ihnen kämpfen wohl im Donbass? (Übrigens kämpfen „Kosaken“ auf beiden Seiten).
Der Dichter als Person reist 1000 Kilometer südwärts von Nishni Nowgorod nach Luhansk. In seinem Gedicht denkt er an an den Mond und die „Saporosher“, die schnarchenden Kosaken. Der Journalist geht forsch von der Zeugenaussage des Sohns zum Mythos vom Kosakentum über. Keine Fragen nirgends.
Interessant in der Aussage des Sohns auch die Reihenfolge der Bilder, bezwingende Dramaturgie: 1) die (vielleicht nicht echten) Bilder von Greueltaten der anderen Seite, 2) der Vater geht als Journalist dahin und schreibt Reportagen und Gedichte, 3) er will die Menschen beschützen, 4) er hilft der Milizija, 5) er hat 500 Kampfeinsätze. [ 6) Er stirbt den Heldentod]. – 500 ist sehr viel, in jeder Armee der Welt kriegt man dafür einen Orden, und ein Heldengrab. Vielleicht erfahren wir noch mal, daß er einen hohen Orden bekommt. Vielleicht erleben wir noch, daß seine Geschichte vor einem Gericht verhandelt wird.
Traum eines al-Qaida-Kämpfers:
„Wir waren im Traum von Ungläubigen umstellt und wussten, dass wir da nicht lebend rauskommen. Wir ließen unsere Waffen fallen. Aber Scheich Osama lächelte mich an. Sein Gesicht war wie der Mond in der Nacht. Dann träumte ich, dass er mich umarmt. Ich habe nie eine schönere Umarmung gefühlt. Ich wollte nicht, dass es aufhört.“ / Mehr
Mit einer »langen Nacht der Poesie« feierte der Hausacher Leselenz am Samstag seinen 20. Geburtstag. Dichter aus vier Kontintenten lasen über vier Stunden auf drei Bühnen der Hausacher Innenstadt. Bereits am Nachmittag hieß es »Europa begegnet sich in der Poesie«.
»Vor zehn Jahren auf der Burg und jetzt im Narrenschiff«, kommentierte Ranjit Hoskoté seine Lesung am Samstagabend im Narrenkeller der Hausacher Narrenzunft. Der weitest gereiste Gast des Hausacher Leselenzes Ranjit Hoskoté aus Bombay (Indien) war einer von neun Dichtern, die auf drei Bühnen die große Welt der Lyrik in die kleine Literaturmetropole Hausach projizierten. / Baden Online
Die anderen Dichter sind Joachim Sartorius, Ilija Trojanow, Girgis Shoukry (Ägypten), Rocio Ceron (Mexiko), Dennis Maloney (USA), Christoph Danne, Tzveta Sofronieva, Marina Skalova
“The Fire Horse,” a new translation of children’s poems, out from New York Review Books. In the volume, the translator Eugene Ostashevsky, a Russian émigré who is a talented experimental poet in his own right, presents the popular children’s verses of three major Russian poets—one each by the Russian Futurist Vladimir Mayakovsky, the antiquarian modernist Osip Mandelstam, and the absurdist Daniil Kharms. Rendered in a jubilant, spirited English, these narrative poems are accompanied by their original and beloved avant-garde illustrations. Both Mayakovsky and Kharms wrote children’s propaganda poems for the state, earning much-needed cash; Mandelstam, who couldn’t bear to write for hire, supported himself as a critic and translator and relied on his wife, the memoirist Nadezhda Mandelstam. But for their work as children’s authors all three poets drew upon the images and techniques used in their overtly experimental, subversive writings. Amid social upheaval, they spoke to young people over the heads of the censors about finding and defending the territory of the imagination. / Ania Aizman, The New Yorker
Das „wahre Leben“ blieb Liu Xiaobo und seiner Frau Liu Xia bis auf die wenigen, halbwegs unbehelligten Jahre zwischen 1999 und 2008 verwehrt, und als er am Ende darum bat, nicht auf chinesischem Boden, sondern in Deutschland sterben zu dürfen, blieb auch diese letzte Bitte um einen Tod in Freiheit ohne Erfüllung.
Die Universitätsklinik Heidelberg war bereit, ihn aufzunehmen, doch eigentlich hätte der Lyriker Liu wohl zu Immanuel Kant nach Königsberg gewollt, noch einmal „den Hut“ zu ziehen vor dem Philosophen und seinem kategorischen Imperativ. / Herbert Wiesner, Die Welt
Die taz brachte einen Auszug aus dem Tagebuch Liao Yiwus vom 16. Juni. Lange bevor die Öffentlichkeit von Lius Erkrankung erfuhr, telefonierte er mit einem Neffen von Liu Xiaobo und Liu Xia: „Bitte, wende dich dringend an Frau Merkel, im Namen von ihnen beiden. Bitte sie, bei ihrem Gespräch mit Xi Jinping klipp und klar zu fordern, dass Liu Xiaobo nach Deutschland kommt, um behandelt, nein, um gerettet zu werden. Du sagtest Tante einmal, dass unter den gegenwärtigen Politikern Frau Merkel die menschlichste und die mit dem meisten Mitgefühl ist. Sie hatte einst dir geholfen. Sie half vielen Flüchtlingen, selbst wenn dies ihr große Probleme gemacht hatte.“
Die Sinn und Rede wendende Literatur war für ihn kein Gegenstand, über den sich problemlos sprechen ließe, als ob sie stillhielte gegenüber der Lektüre. Hamacher dachte sie als radikal unverfügbar, innerhalb einer Relation, in der das aufeinander Bezogene je als bewegter Teil einer gemeinsamen Bewegung wirksam ist und von dieser nicht einfach abgezogen werden kann. Denn „Verstehen will verstanden sein“, wie Hamacher in seinem Buch „Entferntes Verstehen“ (1998) schreibt, als die Bedingung seiner Möglichkeit und seiner Grenze. „Zur Philologie gehört“, so lautet die 57. seiner „95 Thesen zur Philologie“ von 2010, „ bei aller Neigung zu dem, was gesagt ist, der Mut zu dem, was es nicht ist“. / FAZ 10.7.
Mehr: Neue Zürcher Zeitung
Schriften (Auswahl):
In seinen frühen Jahren, nämlich Anfang der 1960er in Greenwich Village, sah sich Bob Dylan gleichermaßen als Songwriter als auch als Dichter. 1965 hatte er dann „die endgültige Einsicht, dass seine Form der Dichtung die Songpoesie sei“. Sein Schwerpunkt waren fortan also die Songs, deren Texte ja auch eine Form der Poesie darstellen. Der Band versammelt dabei Langgedichte, Gedichte und Prosagedichte, die im Zeitraum von 1963 bis 1978 entstanden sind. Erst später beschränkt sich Dylans Schreiben (so lässt dieses Buch vermuten) auf Stellungnahmen, Reden und Essays als Form seiner literarischen Äußerung.
In seinem Nachwort macht Detering sehr schön deutlich, wo Dylans Wurzeln liegen. Dylan hat dabei sowohl die Tradition der ländlichen Folk Music als auch die urbane Beat Poetryaufgegriffen, und das – wie Detering meint – sogar ziemlich gekonnt: „Vielleicht hat niemand diese Begegnung zweier Bewegungen so aufmerksam, so intensiv und so produktiv wahrgenommen wie der junge Bob Dylan.“ / Peter Oehler, Fixpoetry
Bob Dylan · Heinrich Detering (Hg.)
Planetenwellen
Übersetzung: Heinrich Detering
Hoffmann & Campe
2017 · 496 Seiten · 24,00 Euro
ISBN: 978-3-455-00118-1
Like classical music, poetry has an unfortunate reputation for requiring special training and education to appreciate, which takes readers away from its true strangeness, and makes most of us feel as if we haven’t studied enough to read it.
This attitude is pervasive. To take just one example, in his introduction to “The Best Poems of the English Language,” Harold Bloom writes, “The art of reading poetry begins with mastering allusiveness in particular poems, from the simple to the very complex.” This sounds completely reasonable, but is totally wrong. The art of reading poetry doesn’t begin with thinking about historical moments or great philosophies. It begins with reading the words of the poems themselves. / Tracy K. Smith, New York Times 10.7.
Der 20. Hausacher Leselenz geht noch bis zum 14. Juli.
Internationales Poesiefestival in Medellin (8.-15. Juli)
Am 15. Juli 1099 erobert Gottfried von Bouillon Jerusalem. Die einen Berichte besagen, er habe alle Juden in die Synagoge getrieben, sie angezündet und sei unter Absingen christlicher Gesänge dabei um das Gebäude herumgelaufen. 20.000 bis 30.000 Juden sollen massakriert oder gefangen genommen und als Sklaven verkauft worden sein. Nach anderen Berichten habe es ein großes „Blutvergießen“ (so sind die Metaphern) gegeben, aber der Anführer habe persönlich mit dafür gesorgt, daß Juden und Moslems in islamisch geführtes Gebiet geleitet wurden.
Am 15. Juli 2006 startete Twitter (noch unter dem Namen Twttr)
Geboren: 1892 Walter Benjamin, deutscher Philosoph, 1906: R. S. Mugali, indischer Dichter, 1913 der jiddischsprachige israelische Dichter Abraham Sutzkever, Überlebender des Wilnaer Ghettos. (In den mir zugänglichen Quellen ist nicht vermerkt, ob nach unserem oder dem damals in Rußland geltenden julianischen Kalender), 1930: Jacques Derrida, französischer Philosoph, 1937: Robert Wohlleben, deutscher Lyriker und Essayist
Gestorben: 1885: Rosalía de Castro, spanische Dichterin, 1890: Gottfried Keller, Schweizer Dichter, 1919 Hugo von Hofmannsthal, österreichischer Schriftsteller, 1946: Wen Yiduo, chinesischer Dichter (von Kuomintangagenten ermordet), 1954: Sadriddin Aini, sowjetischer und tadschikischer Dichter, 1990: Maekawa Samio, japanischer Lyriker, 1990: Omar Abu Risha, syrischer Dichter und Diplomat, 2003: Roberto Bolaño, chilenischer Schriftsteller;
Am 16. Juli 622 Auswanderung (Hidschra) Mohammeds von Mekka nach Medina, Beginn der islamischen Zeitrechnung. – 1945 explodierte die erste Atombombe in New Mexico.
Geboren: 1546: Anne Askew, englische Dichterin (als Protestantin hingerichtet), 1879: Jorge González Bastías, chilenischer Lyriker, 1943: Reinaldo Arenas, kubanisch-amerikanischer Schriftsteller, 1944: Jörg Fauser, deutscher Schriftsteller;
Gestorben: 1388: Nijō Yoshimoto, japanischer Dichter, 1664: Andreas Gryphius, deutscher Dichter, 1857: Pierre-Jean de Béranger, französischer Dichter, 1884: Manuel Milà i Montanals, katalanischer Philologe und Schriftsteller, wichtige Figur der Renaixença, 1949: Wjatscheslaw Iwanow, russischer Dichter, 1962: Lene Voigt, sächsische Mundartdichterin, 1963: Nikolai Nikolajewitsch Assejew, russisch-sowjetischer Dichter, 1985: Heinrich Böll, deutscher Schriftsteller (Nobelpreis 1972), 1995: Stephen Spender, englischer Dichter, 2007: Dmitri Prigow, russischer Dichter
Am 17. Juli 1927 Uraufführung des Songspiels Mahagonny von Brecht/Weill in Baden-Baden.
Geboren: 521: Magnus Felix Ennodius, Bischof von Pavia und lateinischer Dichter, 1674: Isaac Watts, englischer Hymnendichter, 1888: Shmuel Yosef Agnon, israelischer Schriftsteller (Nobelpreis 1966), 1888: Milán Füst, ungarischer Dichter, 1934: Rainer Kirsch, deutscher Schriftsteller;
Gestorben: 1571: Georg Fabricius, deutscher Dichter, 1894: Leconte de Lisle, französischer Dichter („Der Traum des Jaguars“), 1935: George William Russell, irischer Dichter und Maler;
Am 18. Juli 64 der große Brand von Rom. Es gibt zwei Erzählungen, nach der einen handelte Kaiser Nero heroisch, um zu retten was zu retten war, nach der anderen spielte er seine Leier und sah zu.
Vom 18. bis 23. Juli findet in Key West das Festival Hemingway Days statt (inclusive Hemingway Lookalike Contest)
Geboren: 1013: Hermann von Reichenau, deutscher Gelehrter und Dichter. Die Einteilung der Stunde in Minuten (vermutlich für astronomische Beobachtungen) geht vielleicht auf ihn zurück. Er dichtete u.a. das Opusculum Herimanni de octo vitiis principalibus: ein an Nonnen gerichtetes Lehrgedicht über die acht Hauptlaster (1722 Verse). – 1718: Saverio Bettinelli, italienischer Dichter, 1724: Maria Antonia von Bayern, Kurfürstin von Sachsen und deutsche Dichterin, 1811: William Makepeace Thackeray, englischer Schriftsteller, 1831: Johann Martin Schleyer, deutscher Priester, Schriftsteller und Philanthrop, Erfinder der Plansprache Volapük, 1845: Tristan Corbière, französischer Lyriker, 1864: Ricarda Huch, deutsche Schriftstellerin, 1874: Jakub Lorenc-Zalěski, sorbischer Schriftsteller (Großvater des Dichters Kito Lorenc), 1894: Isaak Babel, russischer Schriftsteller aus Odessa, 1922: Georg Kreisler, österreichischer Kabarettist, Musiker und Schriftsteller, 1927: Ludwig Harig, deutscher Schriftsteller (90. Geburtstag), 1928: Simon Vinkenoog, niederländischer Schriftsteller, 1932: Jewgeni Jewtuschenko, sowjetischer und russischer Dichter, 1938: Jan Stanisław Skorupski, polnischer Dichter, 1974: Alan Morrison, britischer Dichter
Gestorben: 1756: Pieter Langendijk, niederländischer Schriftsteller, 1876: Karl Joseph Simrock, deutscher Dichter, 1918: Wladimir Pawlowitsch Paley, russischer Adliger und Dichter, wurde als Verwandter des Zaren von der Geheimpolizei ermordet, 1937: Julian Bell, englischer Lyriker, 1944: Thomas Sturge Moore, englischer Schriftsteller, 1982: Roman Jakobson, russischer Sprachwissenschaftler, 2013: Vaali, indischer Dichter
Am 19. Juli
Geboren: 1698: Johann Jakob Bodmer, Schweizer Philologe, 1744: Heinrich Christian Boie, deutscher Schriftsteller, 1819 Gottfried Keller, Schweizer Schriftsteller, 1859: Carl Ludwig Schleich, deutscher Arzt und Schriftsteller, 1863: Hermann Bahr, österreichischer Schriftsteller, 1893: Wladimir Majakowski, russischer Dichter, 1909: Balamani Amma, indischer Dichter, 1919: Miltos Sachtouris, griechischer Lyriker, 1938: Dom Moraes, indischer Schriftsteller, 1938: Tom Raworth, englischer Dichter, 1957: Chris van Wyk südafrikanischer Schriftsteller
Gestorben: 1374: Francesco Petrarca, italienischer Dichter, 1855: Konstantin Batjuschkow, russischer Dichter, 1936: Apel·les Mestres, katalanischer Schriftsteller, Künstler, Komponist, Sammler und Gärtner; Autor des Gedichts »No passareu!« (mit dem Titel »Cancó dels invadits«) anlässlich der deutschen Invasion Belgiens im Ersten Weltkrieg. Die spanischsprachige Adaption des Liedes, »No pasarán«, wurde im Spanischen Bürgerkrieg zu einer der Hymnen der Republikaner. Celan zitiert letzteres in seinem Gedicht »Schibboleth« – 1939: Rose Hartwick Thorpe, amerikanische Lyrikerin, 1963: Yamanoguchi Baku, japanischer Lyriker, 1977: Karl Ristikivi, estnischer Schriftsteller, 2007: Rudolf Günter Langer, deutscher Schriftsteller
Am 20. Juli 802 erhält Karl der Große als Geschenk des Kalifen Hārūn al-Raschīd in Aachen den Elefanten Abul Abbas. – 1969: Erste bemannte Mondlandung mit Apollo 11 (Neil Armstrong und Buzz Aldrin). »Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein gewaltiger Sprung für die Menschheit«
Geboren: 1304: Francesco Petrarca, italienischer Dichter, 1620: Nikolaes Heinsius der Ältere, niederländischer Gelehrter und Dichter, 1864: Erik Axel Karlfeldt, schwedischer Lyriker, Nobelpreis 1931, 1872: Anna Schuster, bayrische Heimatdichterin, 1885: Herman Wildenvey, norwegischer Lyriker, 1890: Richard Billinger, österreichischer Schriftsteller, 1927: Simin Behbahani, iranische Schriftstellerin, 1934: Uwe Johnson, deutscher Schriftsteller, 1943: Adrian Păunescu, rumänischer Lyriker
Gestorben: 1816: Gawriil Derschawin, russischer Dichter, 1832: Karl Julius Weber, deutscher Satiriker, 1916: Reinhard Johannes Sorge, gefallen bei Ablaincourt, 1928: Kostas Karyotakis, griechischer Lyriker, 1945: Paul Valéry, französischer Lyriker, 1977: Friedrich Georg Jünger, deutscher Schriftsteller, 1996: Miquel Àngel Riera, mallorquinischer Schriftsteller
Am 21. Juli 356 v. Chr.: Der Tempel der Artemis in Ephesos wird von Herostratos in Brand gesteckt.
Geboren: 1664: Matthew Prior, englischer Dichter, 1841: Minna Kleeberg, deutsche Dichterin. Zu ihren Werken gehört „Ein Lied vom Salz”, eine Bitte um Abschaffung der Salzsteuer in Preußen (1865). 1866 wanderte sie in die USA aus. Sie schrieb Gedichte zur Frauenbefreiung und zur Förderung der Demokratie. 1893: Hans Fallada, deutscher Schriftsteller (17 Uhr im Greifswalder Geburtshaus: Falladafest), 1899: Hart Crane, amerikanischer Lyriker. Zu seinen bekanntesten Gedichten zählen The Bridge und Voyages, in denen er insbesondere seine Erfahrungen als Homosexueller in einer feindlichen Umgebung thematisiert. Am 27. April 1932 nahm er sich das Leben, indem er von Bord des Schiffes S.S. Orziba in den Golf von Mexiko sprang. Seine Leiche wurde nie gefunden. – 1899: Ernest Hemingway, amerikanischer Schriftsteller, 1911: Umashankar Joshi, indischer Dichter, 1923: Ueda Miyoji, japanischer Lyriker, 1930: Anand Bakshi, indischer Dichter, 1936: Taijirō Amazawa, japanischer Dichter, 1945: Wendy Cope, englische Dichterin
Gestorben: 710: Shangguan Wan’er, chinesische Dichterin, 1796: Robert Burns, schottischer Schriftsteller, 1855: Per Daniel Amadeus Atterbom, schwedischer Dichter, 1928: Kostas Karyotakis, griechischer Dichter, 1941: Bohdan Lepkij, ukrainischer Dichter, 2001: Einar Schleef, Schriftsteller und Regisseur, 2012: Ali Podrimja, albanischer Dichter, 2014: Louise Abeita, amerikanische (Pueblo-)Schriftstellerin, 2015: E.L. Doctorow
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