Zwei Ansichten

Über die Anthologie Lyrik von jetzt 3 – Babelsprech

Formale Grenzen des Gedichts scheinen endgültig aufgehoben. Was auf knapp dreihundert Seiten zu lesen ist, zeigt eine Vielfalt, wie man sie so noch nicht bestaunen konnte. Waren bisher deutliche oder indirekte Anknüpfungen an tradierte Formen, an Reim und Strophe, in der zeitgenössischen Lyrik unübersehbar, so verfügen die meisten Texten kaum mehr über eine feste oder vorgegebene Struktur. Die meisten Gedichte ankern in der fortgesetzten Postmoderne. Gerade dies macht ihren Reiz aus. Es herrscht eine Tendenz zum Versatzstückhaften, zum Schreiben und Denken in zerbrochenen, nicht mehr zusammenzufügenden Teilen. Es geht nicht mehr um das Große und Ganze.

War das Gedicht vor einigen Jahrzehnten noch ein Träger von Botschaften, eine Art Kassiber, so ist es heutzutage ein stupender Kunstgriff oder ein kritisches Selbstgespräch. Es richtet sich nur noch selten emphatisch an einen Leser, eine Leserin. Das Gedicht will häufig mit sich sein, ein Fragen stellender und womöglich klärender Monolog: „Ich habe noch nie so viel Schnee gesehen / nicht so viele Landschaften so dick überfroren / kalt und eisesstill wie das Land das sich abkehrt von uns / in ein inneres Gespräch…“ – wie es bei Anja Kampmann heißt. / Tom Schulz, Die Welt 24.10.15

Zu heterogen, zu aufgesplittert das Ganze. Aber auch: Nichts wirklich Neues oder Herausragendes. Natürlich gibt es auch hier einige Stimmen, die bereits verlegt und damit etabliert sind, übliche Verdächtige wie Carolin Callies, Dagmara Kraus, Martin Piekar, Marie T. Martin. Aber ansonsten überwiegt das Gefühl, »die Nischen für Ausreifungszeiten« (Falkner) würden weniger und stattdessen nehme das »Überfischen der Jugendgewässer« (ebenfalls Falkner) deutlich zu. Da gibt es eben auch viel Beifang, der dann – zu früh an die Oberfläche geholt – halb betäubt wieder in die tückischen Strudel und Unterströmungen des lyrischen Betriebs zurückgeworfen werden muss.

Was auffällt: Die Enigmatiker sind in der Überzahl, ihre Gedichte verschließen alle Zugänge bewusst und schwingen sich stattdessen an den Lianen willkürlicher Assoziationen durch den Vokabeldschungel. Manche wirken schon visuell abweisend wie etwa die monolithischen Texttafeln von Richard Duraj, die wie Steilwände vor dem Leser aufragen und ihm keine Möglichkeit zum Einstieg bieten. Auch die heterogenen Elementarteilchen von Charlotte Warsen fliegen wirr umher, ohne sich jemals zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Die »Plugs« genannten quadratisch umlaufenden Texte von Andreas Bülhoff sehen zwar schön aus, bieten aber inhaltlich in keiner Weise eine Notwendigkeit für ihre optische Extravaganz.
Léonce W. Lupette erhebt Stammeln und Stottern zum Stilprinzip seiner hier vorgestellten Gedichte: »& sadden-su-suddenly auch in Jena-ja-jena der Jebel na Nebel die Nebel…« oder: »kein Kosen-ko-Kosen-ko-komo to-tosen die Dämpfe ent-/ krämpfe sich etwas Toskana la Thema la Therma la kontra la toz…« usw. Ein ostentativ Gassi geführtes palatales Handicap macht noch kein gutes Gedicht, möchte man gern dazwischenrufen. / Hellmuth Opitz, dasgedichtblog

One Comment on “Zwei Ansichten

  1. Dass die Texte von Duraj und Lupette und Warsen monolithisch bzw. bloße Abbildung von Gestammel oder disparat sind, sehe ich nicht. Viele Beiträge von LvJ3 – und gerade diejenigen als exemplarische Negativbeispiele genannten – sind doch ausgesprochen originell und kompromisslos; viel eher müsste die Frage lauten: Seit wann ist es statthaft, Desinteresse so hämisch herauszutrompeten? Bloß weil es der Rezensent nicht versteht, was da los, heißt das doch nicht, dass die restliche Leserschaft so verstockt ist; der Eindruck entsteht nachgerade, der Rezensent wolle sie so. Die Polemik von H. Opitz, scheint mir, könnte auch im kaiserzeitlichen „Kunstwart“ (auf „Asphaltliteraten“ und „Naturalisten“ gemünzt) oder in „Sinn und Form“ (unter Max Walter Schulz; gegen „Formalisten“ und „Ästhetizisten“ sich ereifernd) aufgeführt sein. Ein Ingenieur der Seele – jetzt sind die literaturkritisch schriftstellernden Dichter (und -innen) dran, oder wie? Wär das aber ne öde Mode!

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