Hungertuch und Nahbellpreis

Aus einem Beitrag von Matthias Hagedorn

Im deutschsprachigen Raum wird an jedem Tag mindestens ein Literaturpreis verliehen. Auszeichnungen und Preise ähneln – Billy Wilder zufolge – Hämorrhoiden, “früher oder später bekommt sie jedes Arschloch.” Und in den weitaus meisten Fällen sind es die Jurys, die sich für ihren Geschmack auszeichnen. Im Rheinland beruft man sich dagegen auf die lässige Tradition von Christian Dietrich Grabbe und stellt den komödiantischen Widerpart zu einem Literaturbetrieb dar, der über wenig Selbstironie verfügt. Im Jahr 2001 wurde mit dem Hungertuch vom rheinischen Kunstförderer Ulrich Peters ein Künstlerpreis gestiftet, der sich auf den Katholizismus beruft. Der sogenannte Nahbellpreis wurde bereits ein Jahr zuvor lanciert vom unermüdlichen Organisator, Photographen und Lyrik-Performer Tom de Toys, es ist ein Kofferwort, das die Begriffe Nähe, Gebell und Nabel mit sich trägt.

Lebenslängliche Unbestechlichkeit sowie stilistische Zeitgeistresistenz

Die Gefahr für die Entscheidungsfreiheit der Literaturinteressierten und ihrem kulturellen Horizont wird durch die Bildung von Filterblasen behindert, in denen Leser nur noch konsumieren, was das Feuilleton ihnen vorschreibt und sie nie mit wirklich Neuem konfrontiert werden. Der Nahbellpreis würdigt: “Lebenswerke und öffentliches Engagement von Poeten, die ansonsten in Vergessenheit zu geraten drohen oder im laufenden Literaturbetrieb zu wenig Aufmerksamkeit erhalten”. Gemäß dem Urkundentext sind lebenslängliche Unbestechlichkeit sowie stilistische Zeitgeistresistenz ausschlaggebend, um Interesse zu wecken. Bisherige Preisträger sind u.a. die Fragmenttexterin Angelika Janz, die “Rampensau” Stan Lafleur und HEL, der Archäologe des analogen Alltags. Diese Autoren haben es nicht nötig, ihre Wahrnehmungen mit der Creme salbender Schönheit zu tunen. Ihre Wahrnehmung ist brennscharf, sie haben ein untrügliches Gefühl für dramatische Zwischenräume, das lyrische Ich reflektiert gesellschaftliche Zustände in der Regel beiläufig, und zumeist heiterer Melancholie oder in bitter klugen Farcen.

Aufrecht und aufrichtig beschreiben Nahbell-Preisträger wie Kai Pohl und Clemens Schittko eine Welt, die von Vereinzelungstendenz, Krieg, Armut, Ignoranz der herrschenden Klasse und Artensterben bestimmt ist. Hadayatullah Hübsch durchstreifte mit spähendem Jägerblick erbarmungslos die Städte, als wären sie die Wildnis. Es handelt sich bei den Veröffentlichungen nahezu aller Nahbell-Preisträger um eine hoch kognitive Poetik, die urbane Alltagserfahrung destilliert, auf Gelassenheit heruntergeschaltet und zuweilen das Gezeigte staubtrocken vorträgt. Der Nahbellpreis wird seit dem Jahre 2000 alljährlich am 21. Juni als alternativer Lyrik-Nobelpreis verliehen und ist mit 10 Millionen Euro der höchstdotierte Literaturpreis. Das Preisgeld konnte allerdings bis heute mangels Sponsoren noch nicht ausgeschüttet werden konnte. / Mehr bei KuNo

Lesen Sie direkt hierunter das Gedicht des Tages: ein Porträt des Dichters Grabbe von seinem Kollegen Wulf Kirsten („bespiene dichter also rezensierte“)

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