Oweh!

Peter Rühmkorfs Fassung der Altersklage des Minnesängers Walther von der Vogelweide. Darunter das – längere – Original, Rühmkorf hat nur die erste Strophe übersetzt.

Walther von der Vogelweide

(* um 1170, Geburtsort unbekannt; † um 1230, möglicherweise in Würzburg)

Wohin sind sie geflogen

Wohin sind sie geflogen alle meine Jahr?
War mein Leben gelogen oder ist es wahr?
Was ich einst wähnte, es wäre – gab es das überhaupt?
Oder hab ich geschlafen und einem Traum geglaubt?
Nun bin ich aufgewacht und ist mir unbekannt:
Was mir so vertraut war wie meine Hand.
Land und Leute, wo ich meine Kindheit verbracht,
sehen mich an, als hätt ich sie mir nur ausgedacht.
Die sich meine Freunde nannten, sind blöde, sind alt.
Plattgewalzte Felder – gerodeter Wald...
Wenn da nicht noch Wasser strömte wo es immer floß,
wahrlich, mein Unglück schiene übergangslos.
Wieder ging einer vorüber, der wußte mal, wer ich war.
Die Welt ist allenthalben unberechenbar.
Manche schönen Tage gehen mir noch durch den Sinn
Wie ein Schlag ins Wasser sind sie dahin.

Immerdar oweh!

Aus: Peter Rühmkorf: Mein Lesebuch. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1986, S. 292.

Walther von der Vogelweide

Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr!
ist mir mîn leben getroumet, oder ist ez wâr?
daz ich je wânde ez wære, was daz allez iht?
dar nâch hân ich geslâfen und enweiz es niht.
nû bin ich erwachet, und ist mir unbekant
daz mir hie vor was kündic als mîn ander hant.
liut unde lant, dârinne ich von kinde bin erzogen,
die sint mir worden frömde reht als ez sî gelogen.
die mîne gespilen wâren, die sint træge unt alt.
vereitet is daz velt, verhouwen ist der walt:
wan daz daz wazzer fliuzet als ez wîlent flôz,
für wâr mîn ungelücke wande ich wurde grôz.
mich grüezet maneger trâge, der mich bekande ê wol.
diu welt ist allenthalben ungenâden vol.
als ich gedenke an manegen wünneclîchen tac,
die mir sint enpfallen als in daz mer ein slac,
iemer mêre ouwê.

Owê wie jæmerlîche junge liute tuont,
den ê vil hovelîchen ir gemüete stuont!
die kunnen niuwan sorgen: wê wie tuont si sô?
swar ich zer werlte kêre, dâ ist nieman vrô:
der jugende tanzen, singen zergât mit sorgen gar:
nie kein kristenman gesach sô jæmerliche schar.
nû merkent wie den vrouwen ir gebende stât:
die stolzen ritter tragent an dörpellîche wât.
uns sint unsenfte brieve her von Rôme komen,
uns ist erloubet trûren und vreude gar benomen.
daz müet mich inneclîchen (wir lebeten ie vil wol)
daz ich nû für mîn lachen weinen kiesen sol.
die vogele in der wilde betrüebet unser klage:
waz wunders ist ob ich dâ von an vreuden gar verzage?
ôwê waz spriche ich tumber man durch mînen bœsen zorn?
swer dirre wünne volget, hât jene dort verlorn,
iemer mêre ouwê.

Owê wie uns mit süezen dingen ist vergeben!
ich sihe die bittern gallen in dem honege sweben:
diu werlt ist ûzen schœne, wîz grüene unde rôt,
und innân swarzer varwe, vinster sam der tôt.
swen si nû habe verleitet, der schouwe sînen trôst:
er wirt mit swacher buoze grôzer sünde erlôst.
dar an gedenkent, ritter: ez ist iuwer dinc,
ir traget die liehten helme und manegen herten rinc,
dar zuo die vesten schilte und diu gewîhten swert.
wolte got, wan wære ich der segenunge wert!
sô wolde ich nôtic armman verdienen rîchen solt.
joch meine ich niht die huoben noch der hêrren golt:
ich wolte sælden krône êweclîchen tragen:
die mohte ein soldenære mit sîme sper bejagen.
möht ich die lieben reise gevarn über sê,
sô wolte ich denne singen "wol" und niemêr mêre "ouwê",
niemer mêre ouwê.

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