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Veröffentlicht am 1. März 2013 von lyrikzeitung
Die neu entstandenen Gedichte selbst hingegen öffnen vielmehr Räume, bergen Schichten, in denen einerseits der nicht negierbare Bezug zu den Ausgangsgedichten mitschwingt, andererseits gerade durch die optische Darstellung des angewandten poetischen Verfahrens die Texte in Bewegung gesetzt und andere Lesarten ermöglicht werden. Dennoch ist man dabei teilweise versucht, dieses Verfahren thematisch allzu sehr in die Gedichte hineinzulesen. Dies birgt die Gefahr, manchen Texten eine mitunter unverhältnismäßig erklärende, illustrative Geste zu unterstellen und schließlich einzig darauf zu reduzieren, doch durch die Bedeutungsverschiebung der extrahierten Wörter schaffen es Hawkey und Wolf nach und nach eigenständige Gedichte herauszudestillieren, die weit über den Ausgangstext hinausweisen. Sie wecken sozusagen jene Gedichte, die noch unter der Vorlage schlummerten. Dadurch gelingt es den Beiden gleichzeitig aufzuzeigen, dass sowohl die AutorInnen als auch LeserInnen jeden Text stets aktualisieren, erweitern, verändern können bzw. müssen und dass die Arbeit daran kontinuierlich ist und nicht beendet werden kann, oder um Uljana Wolfs eigene Worte noch einmal zu verwenden: »das Herz des Textes bleibt nicht stehen, es springt.« / David Frühauf, Fixpoetry
Uljana Wolf, Christian Hawkey: Sonne from Ort. Ausstreichungen/ Erasures, engl./dt. nach den »Sonnets from the Portugese« von Elizabeth Barrett Browning und den Übertragungen von Rainer Maria Rilke. ISBN 978-3937445533. Euro 19,90 — Berlin kookbooks 2012.
Erasure als Reduktion und Bewusstseinswerweiterung. Nicht wenige Male über den Dämpfen der Korrekturflüssigkeit geschwindelt. Aber das Herz des Textes bleibt nicht stehen, es springt. Gehen die Dämpfe auch ins Hirn, wie Kleber as der löst, Kontrollverlust, Sprach- und Gangstörungen I compose the hole . Jedes Erinnern ist Überschreiben. Shudder Islands. Aufblitzende schwarze Textfragmente, Inseln, in weißes Licht getaucht. Was ist darin gefangen. Gestern las ich, heute vergaß ich, morgen überschreib ich mir der Königin ihr Kind. Rumpelstilzchen tanzt so lange, bis man seinen Namen nennt. Dann zerreißt er sich und fährt in die Erde, ein anderes Land, wo er ein Literaturarchiv gründet und wartet, bis man ihn wieder zusammenfügt. Was geschieht dann mit seinem Namen? I sang my name but it sounded strange / I sang the trace then // without a sound, / then erased it. (Michael Palmer)
Lesen ist die intensivste Form des Übersetzens, Übersetzen ist die intensivste Form des Schreibens, Schreiben ist die intensivste Form der Auslöschung. Ich sehe in mir die Möglichkeiten für die jeweilige Neuschreibung des Textes. Auflesen. Hänsel und Gretel. Der neuschreibende Leser macht aus dem Text kein Ganzes, er fügt ihm weiteres Material, Fragmente, Möglichkeiten hinzu. In diesem Sinn ist Lesen nie Vervollständigung eines Textes. Eher seine aufgefächerte Behinderung. Lesen und Übersetzen als Verhinderung, disability. Die Verleger des amerikanischen Verlags Action Books, Joyelle McSweeney und Johannes Göransson, veröffentlichten gegen die Übersetzungsmüdigkeit ihres Landes, gegen den Hunger des Marktes nach „glatten“ Texten ihr Manifesto for the Disabled Text. Der zweite Absatz liest sich wie ein Argument für erasures
Uljana Wolf: Ausweißen, Einschreiben. In: karawa.net 04
Kategorie: Deutsch, Deutschland, Englisch, USASchlagworte: Christian Hawkey, David Frühauf, Elizabeth Barrett Browning, Johannes Göransson, Joyelle McSweeney, Michael Palmer, Rainer Maria Rilke, Uljana Wolf
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