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Fortsetzungsessay von Theo Breuer
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Das Wiedersehen
Von fern gleicht er noch einem, den man kannte,
das weiße Haar, wie Kohle, die verbrannte,
wie Asche, noch warm von erloschenen Feuern,
was nützt es, einem Toten zu beteuern,
daß er noch lebe, er weiß es besser,
er hat den Fuß bereits erhoben
zum Schritt in eine unermeßliche Tiefe
und schaut noch einmal dankbar nach oben
und wendet sich ab, als ob jemand ihn riefe.
Hans Sahl
Wie wohl wäre es 2009 im Lyrikbetrieb des deutschen Sprachraums zugegangen, hätten Robert Gernhardt (1937–2006), Thomas Kling (1957–2005) und Ernst Jandl (1925–2000) nicht in den Jahren seit 2000 die Stifte für immer aus der Hand gelegt? Wenn man bedenkt, wie wenig Platz der Lyrik in den Print-Medien des Feuilletons grundsätzlich bloß eingeräumt wird, gehörten diese drei Dichter zu den poetischen Platzhirschen, denen immer wieder mehrspaltige Artikel eingeräumt wurden, die phasenweise in den Kulturhimmel gehoben wurden, zählen doch alle drei zu den Menschen in der Lyrik, die, jeder auf seine extrem eigenwillige Weise, sowohl originelle Gedichte schrieben als auch mit ihrer bemerkenswerten Art publikumswirksames Aufsehen erregten. Durchaus denkbar also, daß die Zeitungsspalten auch in den letzten Jahren in erster Linie von diesen Herren besetzt geblieben wären. Der arglosen Öffentlichkeit wäre womöglich ein völlig anderes Bild vermittelt worden. Welchen Einfluß hätte das möglicherweise auf die Lyrik, die Verlagsprogramme, den Lyrikbetrieb von heute gehabt, in dem so mancher Sturm im Wasserglas den einen oder anderen in den 1950er und 60er Jahren geborenen Dichter von den Beinen geholt hat.
Thomas Kunst hebt im Nachwort von Estemaga zur Totenklage an: Hilbig ist tot. Born ist tot. Brinkmann ist tot. Brasch ist tot. Kling ist tot. Pastior ist tot. Kunst benennt sechs Namen, die unmittelbar eine Stimmung evozieren, wie sie intensiver nicht sein könnte. Goethes Gedicht Gefunden fällt mir spontan als Antwort ein: Und pflanzt es wieder / Am stillen Ort. / Nun zweigt es immer / Und blüht so fort. Denn, nein, sie sind ja nicht tot, nicht nur zweigen und blühen sie mit ihren Gedichten in den Versen der Nachgeborenen fort, sondern bleiben, indem ich in ihren Büchern lese, total nahe bei mir: Ich verspüre in diesem Augenblick die greifbare Gegenwart dieser lebenden Toten, die Stimmen erklingen, diesmal gemeinsam mit Bessie Smith, quasi quadrophon aus allen Ecken vernehme ich sie, die Stimmen, Stimmen, Stimmen, Stimmen, ich stehe auf, blättere – Und nichts zu suchen / Das war mein Sinn – und vertiefe mich in den Büchern von Wolfgang Hilbig, Bilder vom Erzählen · Nicolas Born, Gedichte · Rolf Dieter Brinkmann, Westwärts 1 & 2 · Thomas Brasch, Der schöne 27. September · Thomas Kling, wände machn · Oskar Pastior, durch – und zurück.
2009 erinnern Verlage mit lauter schönen Editionen an Horst Bingel (1933–2008), Bertolt Brecht (1898–1956), Carlfriedrich Claus (1930–1998), Hilde Domin (1909–2006), Robert Gernhardt (1937–2006), Michael Hamburger (1924–2007), Gerard Manley Hopkins (1844–1889), Walter Kempowski (1929–2007), Pablo Neruda (1904–1973), Peter Rühmkorf (1929–2008), Hans Sahl (1902–1993) und John Updike (1932–2009):
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