31. Von Zürich nach Flamersheim

20 Leute hatten sich eingefunden, um der Lesung des bekannten Literaturprofessors Bernd Jentzsch beizuwohnen. Mit der 122-bändigen Reihe „Poesiealbum“, die mehr als 5,5 Millionen Mal in 22 Ländern verkauft wurde, und seinen Gedichten, die in 16 Sprachen übersetzt worden sind, ist er laut Infoblatt des Theaters aus der Literaturgeschichte kaum noch wegzudenken. Jentzsch habe mehr als 40 Dichter der europäischen Moderne übersetzt und bisher 66 Bücher veröffentlicht. So habe der Berliner mehrere Auszeichnungen – unter anderem den Eichendorffer Literaturpreis – erhalten. Nachdem er erst in Berlin und dann in Zürich wohnhaft war, zog er 1989 nach Flamersheim. „Von Zürich nach Flamersheim – das ist jetzt nicht böse gemeint – ist wie: vom Himmel in die Hölle“, lachte Jentzsch. / Kölnische Rundschau/ Euskirchen

– Eichendorffer? Naja… Nicht der einzige Fehler. Genaugenommen ist „Poesiealbum“ eine Lyrikreihe, von der soeben Heft 284 erschienen ist. 122 dürfte etwa die Zahl der von Bernd Jentzsch bis zur Ausbürgerung Wolf Biermanns herausgegebenen Hefte sein. Die Heftreihe wurde von Bernd Jentzsch im Jahre 1967 gegründet und erschien bis 1990 monatlich zum Preis von 90 Pfennig. Als Wolf Biermann ausgebürgert wurde, befand sich Jentzsch gerade in der Schweiz, wo er für eine Anthologie recherchierte. Er protestierte mit einem offenen Brief und wurde dafür mit einem Strafverfahren bedroht. (Der Staat hatte keinen Zugriff auf ihn und schikanierte dafür seine Mutter). Richard Pietraß führte die Reihe weiter, bis auch er gefeuert wurde. 1990 wurde der Preis erhöht, aber es half nicht. Kurz nach der Währungsunion wurde die Reihe mit Heft 275 eingestellt. 1991 erschien in einem anderen Verlag, aber in gleicher Aufmachung und mit Nummer 276,  noch ein Heft mit Gedichten von Jentzsch. „Das abschließende Heft“, stand auf einer Bauchbinde. Dabei blieb es aber nicht. Seit 2007 erscheint es wieder, zuerst drei Hefte, die in der DDR nicht erscheinen konnten: Peter Huchel, Ezra Pound und Ernst Jandl, ausgewählt von Jentzsch. Soeben erschien Heft 284: Wolfgang Hilbig, ausgewählt von Pietraß.

Die ersten Hefte erwarb ich als Schüler 1967: bei dem Preis kein Problem. Zusammen mit der ebenfalls 1967 begründeten „Weißen Reihe“ vom Verlag Volk und Welt meine Einführung in die Weltlyrik. In der Weißen Reihe erschien damals Anna Achmatowa zweisprachig, eine Entdeckung! Im Poesiealbum wieviele Erstbegegnungen, oft DDR-Erstveröffentlichungen oder überhaupt Erstveröffentlichungen. Nach den Klassikern Brecht, Majakowski und Heine erschienen 1968 Wulf Kirsten, Günter Kunert, Reiner Kunze, Kurt Bartsch. Spätestens da muß er im linientreuen Verlag Neues Leben heftig angeeckt sein. Eine chronologische Auswahl, private Lese-Archäologie: 1969 Federico García Lorca, 1970 Robert Desnos, Ho chi Minh, 1971 Langston Hughes, Georg Maurer, Klopstock, 1972 Bobrowski, Neruda, Jessenin, 1973 Michelangelo, Jewtuschenko, Eich, Octavio Paz, René Char, 1974 Dylan Thomas, Barthold Hinrich Brockes, Marina Zwetajewa, Pietraß, Enzensberger, Zbigniew Herbert, Whitman, Ungaretti und Thomas Brasch (die Erst- war auch Letzt-Veröffentlichung fürs Ländchen), und so Jahr für weiter, Kramer und Leising, Inge Müller und Welimir Chlebnikow! Letzterer illustriert von Hermann Glöckner! Auch die grafische Ausstattung hat es in sich, kleine Reihe: Volker Braun / Carlfriedrich Claus, Eugenio Montale / Hermann Glöckner, Allen Ginsberg / Andy Warhol, Vicente Aleixandre / Gerhard Altenbourg, César Vallejo / Nuria Quevedo, Novalis / Tübke, Kathrin Schmidt / Uwe Pfeifer, John Keats / Johannes Jansen: Junge und Welt* – Lyrik + Kunst war zu entdecken!

Die komplette Reihe ist für junge, entdeckungsfreudige Leser heute unerschwinglich (2000 Euro, las ich, wollte ein Antiquar für eine annähernd vollständige Sammlung). Aber alles aus der Neuausgabe wär noch erreichbar und verspricht viel, nämlich bisher nach den drei Genannten: Uwe Grüning, Ludvík Kundera, Georg Heym, Seamus Heaney, Wolfgang Hilbig…

(Nicht zu verwechseln mit „Poesiealbum neu“, das ist etwas anderes, wenn auch in gleicher Aufmachung!)

Genaue Informationen über alle erschienenen Hefte (in einem eine Jugendsünde des L&Poe-Herausgebers) hier.

*) Und ist ein langes Wort (Georg Büchner)

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