Inferno I, 1-9

Dante Alighieri

(* Mai oder Juni 1265 in Florenz; † 14. September 1321 in Ravenna)

Deutsch von Karl Bartsch

In einem Walde, in den er von Schlaf umfangen bei Nacht sich verirrt, erblickt der Dichter bei Tagesanbruch einen Hügel, den er zu besteigen beginnt, als drei Thiere, ein Panther, ein Löwe und eine Wölfin ihm entgegentreten. Dem voll Furcht Zurückeilenden begegnet Virgil, den er um Schutz, namentlich gegen die Wölfin, anruft. Virgil theilt ihm mit, daß er einen andern Weg einschlagen müsse, da die Wölfin Jeden hemme und erst später durch einen Windhund ihr Ende finden werde; er bietet sich zum Führer durch Hölle und Fegefeuer an; durch das Paradies werde eine andere Seele ihn geleiten. So brechen sie auf.

Ich fand auf unsers Lebensweges Mitte*
In eines Waldes Dunkel mich verschlagen,**
Weil sich vom rechten Pfad verirrt die Schritte.

Ach, wie so schwer und hart ist es zu sagen,
Wie wild der Wald war, wie so rau und dicht;
Schon die Erinnrung weckt mir neues Zagen.***

Der Tod sogar ist wohl viel herber nicht,
Doch eh ihr hört, welch Heil ich dort gefunden,
Geb’ ich von Andrem was ich sah Bericht.

*) Die Mitte des Lebens ist nach Psalm 90, 10 (Die Tage unserer Jahre, – ihrer sind siebzig Jahre, und, wenn in Kraft, achtzig Jahre, und ihr Stolz ist Mühsal und Nichtigkeit, denn schnell eilt es vorüber, und wir fliegen dahin.) das 35. Jahr; dies erreichte der Dichter im J. 1300, in welches also die Vision fällt.
**) Der dunkle Wald bedeutet das an Irrthum reiche Leben; in besonderer Beziehung den wirren politischen Zustand Italiens zu Dantes Zeit.
***) Im Momente der Abfassung des Gedichtes war der Dichter den Irrthümern seiner Jugend enthoben; aber schon die Erinnerung an sie erfüllt ihn mit Verzagen.

Aus: Dante Allighieri’s Göttliche Komödie übersetzt und erläutert von Karl Bartsch – Text. Dominik Meli. 2020, Elsa Verlag (academia.edu)

Originaltext

Nel mezzo del cammin di nostra vita
mi ritrovai per una selva oscura,
ché la diritta via era smarrita.

Ahi quanto a dir qual era è cosa dura
esta selva selvaggia e aspra e forte
che nel pensier rinova la paura!

Tant’è amara che poco è più morte;
ma per trattar del ben ch’i‘ vi trovai,
dirò de l’altre cose ch’i‘ v‘ ho scorte.

Anfang der Übersetzung von Stefan George (Berlin: Bondi, 1912)

Rudolf Borchardt (1930)

IN MITTEN UNSERES LEBENS
an der fahrt / erfand ich mich in einem
finsteren hagen, / dass ich der rechten
Strassen irre ward: / Ach harter pein,
und wem er glich, zu sagen, / der hagen,
ein wild wald rauch und ungeheure,
der an gedanken mir erneut das zagen!
Tod ist viel saurer nicht denn seine säure!
doch kund zu thun; was heils ich dort empfieng,
sag ich, was mehr mich traf von abenteure:

Aus: Dante Deutsch von Rudolf Borchardt. München: Verlag der Bremer Presse. Berlin: Rowohlt, 1930, S. 12

Georg Peter Landmann (1997)

In der mitte unseres lebensweges fand ich mich (wieder) in einem finstern wald, denn den rechten weg hatte ich verloren. Ach was für ein hartes ding ist es zu sagen, wie er war, dieser wilde, rauhe, dichte wald – nur dran zu denken weckt die angst aufs neue. Er ist so bitter, nur wenig bittrer ist der tod. Doch um von dem heil zu handeln, das ich dort fand, will ich auch von allem andren reden, das mir dort begegnete.

Der psalmist sagt (89,10): Unser leben währt siebzig jahre. Man darf Dante immer beim wort nehmen. Er war also 35 jahre alt, als die grosse besinnung über ihn kam, und da er im jahre 1265 geboren war, stehn wir im jahr 1300, was ein jubiläumsjahr der kirche war Seelische Vorgänge lassen sich kaum anders als bildlich, allegorisch darstellen. Der wald, das ist das in Sünde verstrickte leben, das unser aller los ist; der hügel ist das gute leben, der planet ist die sonne als symbol alles göttlichen und guten.

Aus: Dante Alighieri, Die Divina Commedia. In deutsche Prosa übersetzt und erläutert von Georg Peter Landmann. Würzburg: Könighausen & Neumann, 1997, S. 5

Mary Jo Bang (2012)

Stopped mid-motion in the middle
Of what we call our life, I looked up and saw no sky –
Only a dense cage of leaf, tree, and twig. I was lost.

It’s difficult to describe a forest:
Savage, arduous, extreme in its extremity. I think
And the facts come back, then the fear comes back.

Death, I believe, can only be slightly more bitter.
I can’t address the good I found there
Until I describe in detail what else I saw.

1-2. in the middle / Of what we call our life: The poem is set in the year 1300. Dante, having been bom in 1265, would have been thirty-five years old—so, in the middle („nel mezzo”) of what was generally considered at the time to be a typical life span of seventy years. Commentators note that Dante doesn’t say in the middle of his life but in the middle of our life („nostra vita”). Charles Singleton, among others, points out that this gesture of inclusiveness immediately opens the poem up to being read allegorically (Inferno, 2:3-4).

Aus: Dante Alighieri, Inferno. Transl. by Mary Jo Bang. Ill. Henrik Drescher. Graywolf Press, 2012, S. 15

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