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Von Kerstin Preiwuß
Sehr verehrter Herr Morgenstern,
ich schreibe Ihnen aus einer viel späteren und zugleich unerfreulichen Zeit, in der ein Schnupfen zwar noch Schnupfen heißt, sich jedoch sogleich zum Symptom versteift, mit einem ganzen Rattenschwanz an Problemen. Anders ihr „Schnupfen“, der als modulationsfähiger Keim aus Ideal und Wirklichkeit zumindest hält bis Montag früh. Noch einmal habe ich mir daher Ihre Galgenlieder vorgenommen, mich entlang der Wegmarken Ihres verantwortungsvollen Interpreten Dr. phil. Jeremias Mueller durch ihre Dichtung getastet und Trost in ihrer wirksamen Tiefe gesucht. Ob ich ihn denn gefunden habe? Gewiss, wie konnten Sie daran zweifeln, und falls Sie es dennoch oder noch immer tun, will ich ihnen das bescheidene Ausmaß meiner Lesart verdeutlichen. Beginnen wir mit der wundersamen Vorrede ihrer Galgenlieder, in der sie gleich zum Kern allen Daseins vordringen: „Es waren einmal acht lustige Könige; die lebten. Sie hießen aber so und so. Wer heißt überhaupt? Man nennt ihn.“ Diese Sätze allein genügten, mich in allumfassende Gedankengänge zu schleudern, und so bin ich Ihnen schamhaft dankbar für den Hinweis ihres kongenialen Interpreten (nachgerade ihres Alter Ego), dass diese acht Könige auf einen konkreten Freundeskreis zurückzuführen seien, der „einen Schuhu, einen Verreckerle, einen Gurgeljochem, einen Rabenaas, einen stummen Hannes, einen Veitstanz, ein Gespenst und einen Faherüggh“ als Mitglieder zählte. Es zeigt sich hier, wie konkret Unsinn ist, am Grunde des Brunnens braucht es Wasser, sonst ist der Brunnen kein Brunnen. Sie wussten das immer, und besaßen die Güte, uns durch Wahl und Ausmaß ihrer Benennungen dezent darauf hinzuweisen. Ich habe mir erlaubt, der wundersamen Verbindung von Name und Gegenstand nachzugehen, bis mir und uns allen bewusst wird, worum es eigentlich geht: Wer weiß das Neue? Wie nennst du’s? Und der Weg dazu?
Führt auf jeden Fall auf eine Anhöhe, die ihren Namen zwar behalten, ihre Bedeutung jedoch längst verloren hat, nur der Name deutet hartnäckig auf die Spur. So geht es mit nahezu allen Dingen und Wesen, die wir meinen. Ihre Bildung und Bindung sind am Anfang unmittelbar, doch mit der Zeit verliert sich der Bezug und werden die Namen zu seltsamen Inklusen. Die Gründe, warum etwas heißt, gehen ein ins Wort, der Zusammenhang schrumpft auf das dünne Band der Wiederkennbarkeit, so dass wir den Sinn nicht mehr fürs Verständnis brauchen, ab dann wissen wir nur noch Bescheid. Sie jedoch setzen gerade hier wieder an und verfahren umgekehrt und hebeln die festgefügte Welt aus ihren Fugen und erweitern sie um neue Wesen allein aus den Mitteln der Sprache, anständig benannt und begründet wie am Anfang einer jeden Schiffstaufe. Ich gebe gern zu, dass überall lebendige Anschauung dahintersteckt, dass selbst, wo ein sogenannter Wortwitz zugrunde liegt, er sich im lebendigen Leben inkarniert, selbst wenn die Grundidee mehr oder minder grotesk ist, die Aus- und Durchführung aber durchaus organisch und konsequent. Die wilde Semiose der Personifikation galoppiert durch die Galgenlieder und bedient sich des gesamten Spektrums, und dennoch hat jedes Gedicht Hand und Fuß. Ich habe Lust, ihre närrische, aber darum in sich nirgends unlogische, nirgends unkonkrete Welt geistig nachzuimprovisieren. Sophie, die Henkersmaid und der Rabe Ralf sind meine Zeugen.
Wir haben wandelnde Trichter, ein Mondschaf, ein ästhetisches Wiesel und sehr viele neue Bildungen, der Natur vorgeschlagen. Doch das sind eventuell nur anders wahrgenommene Existenzen. Trichter gibt es wirklich, nur wandeln sie nicht. Ob ein Wiesel ästhetisch sein kann, bleibt unserer Wahrnehmung überlassen, allein existieren kann es, so wie es da sitzt, ganz gut. Ein Purzelbaum bleibt von außen wie von innen vorstellbar, es kommt nur auf die Perspektive an. Der Mondberg-Uhu folgt der Geier-Wally oder dem Schinder-Hannes. Hystrix grotei Grai bleibt vielleicht auf ewig unentdeckt, ist aber fachsprachlich korrekt und taxonomisch eindeutig. Das Nasobēmals Vertreter der Gattung Rhinogradentia ist seit Jahrzehnten Gegenstand der Forschung und wandert mit der Erkenntnis mit. Der Werwolf, wir wissen es von Borges, ist eines jener Wesen, die durchaus von der zweiten in die erste Wirklichkeit überwechseln können.
Vollkommen ersichtlich wird es beim dem Zwölf-Elf, dem Hemmed und dem Gingganz, und ich empfinde die Scham, die auch Ihren Interpreten überfallen haben muss, als er sich genötigt sah, angesichts der Verständnislosigkeit der Welt erklären zu müssen, was es damit auf sich hat und sie damit auf ihre Funktion zurückzuführen, eine Hilfsarbeit zur Vorbeugung geistiger Kurzschlüsse. Sicher kann es sich bei dem Zwölf-Elf (Endekus dodekus) nur um einen Schwarzelb handeln, der pünktlich zur Mitternachtsstunde, wenn die Uhr Zwölf schlägt, auf den Plan tritt, der Name sagt es ja, ein Name wie ein Kippmoment, in sich widersprüchlich, machtvoller Dämon oder machtloser Gelehrter, die Dinge erzeugend oder nur bestätigend, das ganze Dilemma zwischen Kant und Swedenborg, Newton und seinem Dämon, Wissenschaft und Kunst. Und selbst da, wo der Zwölf-Elf kraft seiner Gedanken imstande ist sich umzubenennen, quasi neu zu taufen und sich vor Gott zu offenbaren als klug angelegten Akt der Häresie undoder Aufklärung in finsteren Zeiten, führt die Umtaufung nicht zur sieben (seit jeher eine kräftige Zahl), sondern mündet in die Dreiundzwanzig, jener Zahl, die nur scheinbar den Widerspruch aus ihrem Leben getilgt hat, uns jedoch bis heute mit ihrer verschwörerischen Macht in Atem hält. Und natürlich verstehen wir dann die Nähe des Zwölf-Elf zum Hemmed, dass gewaschen auf der Leine hängt und wie ein Kind weint, weil es ursächlich tropft, nicht mehr nur bloßes Wort, sondern Sinnbild für die Hemmschwelle als Übergang vom Leben zum Tod und die Hermetik, die sämtlichen lautbildenden jedoch wortlos bleibenden Tränen innewohnt. Erlösung gibt es erst mit dem Gingganz, jenem Namen, der seinen Träger schließlich zurückführt in den Kreis der Benennungen. Zusammengefasst aus den Wörtern ging und ganz, als Bezeichnung für jemanden, der ganz in Gedanken ging und ihnen also auch nachhing, entsteht der Gingganz und hinterlässt eine Spur, ist fortan nicht nur er selbst sondern jeder, der sich plötzlich aus seinen Gedanken gerissen, diese in die Vergangenheit entschwinden und sich in seinem Sosein plötzlich und unfreiwillig in einen ganz neuen Zustand versetzt sieht. Erkenntnis, so erlauben sie mir dies noch zu sagen, ist niemals abgeschlossen, jedenfalls nicht, solange es Wörter gibt, und nur weil wir die Welt meinen, kennen wir sie noch lange nicht. Wer will bestreiten, dass es Tagtigall, Werfuchs, Mondschaf, Pfauenochs, Auftaktkeule, Nachtwindhund, Agel und wie sie alle noch heißen, nicht auch noch gibt oder geben wird? Der Süßwassermops jedenfalls, soviel ist klar, war der stete Begleiter Loriots, denn schließlich sind Möpse „mit Hunden nicht zu vergleichen. Sie vereinigen die Vorzüge von Kindern, Katzen, Fröschen und Mäusen“. Ein Leben, verehrter Herr Morgenstern, ohne ihre Galgenlieder, ist folglich möglich, aber sinnlos.
Ergebensten Dank dafür
Ihre Leserin
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