Morgenstern in der DDR

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Von Michael Gratz

Facts first. Ich wurde in der DDR geboren und überlebte sie. In der DDR habe ich lesen gelernt, besuchte die Grundschule („Polytechnische Oberschule“) und das Gymnasium („Erweiterte Oberschule“), begann im 16. Lebensjahr, privat Gedichte zu lesen, schloss die Universität in Rostock („Wilhelm-Pieck-Universität“) als Diplomgermanist ab und wurde an der Universität Greifswald („Ernst-Moritz-Arndt-Universität“) zum Dr. phil. promoviert.
Ich kaufte ein paar tausend Bücher im „Volksbuchhandel“ sowie in Antiquariaten und auch ein paar übriggebliebenen privaten Buchhandlungen. Darunter meine ersten vier Bände von Morgenstern:

  • Galgenlieder. Eine Auswahl. Leipzig: Reclam, 2. Aufl. 1967
  • Alle Galgenlieder. Leipzig: Insel, 1971 (13. Aufl.)
  • Poesiealbum 51, Ausgewählt von Jo Schulz, Berlin: Neues Leben, 1973
  • Ausgewählte Werke. Hrsg. Klaus Schuhmann, Leipzig: Insel, 1975

Im Schulunterricht mögen ein paar Galgenlieder vorgekommen sein und an der Universität besuchte ich ein Seminar bei Professor Hans-Joachim Bernhard zur „bürgerlichen“ Literatur um 1900, in dem auch Morgenstern behandelt wurde – und in dem er besser wegkam als in der Literaturgeschichtsschreibung der DDR.

Ich fasse zusammen und greife vor: Das Wichtigste, was ich in der DDR gelernt habe, war, den Aussagen der „sekundär“ genannten Literatur zu misstrauen und lieber selber zu lesen.

Ideologische Literaturgeschichte

Das Buch „Krisen und Wandlungen der deutschen Literatur von Wedekind bis Feuchtwanger“ von Hans Kaufmann (1969) war ein Muss für Literaturinteressierte am Ende der 60er Jahre. Neben Hauptmann und den Brüdern Mann sowie den jüngeren Brecht, Arnold Zweig und Lion Feuchtwanger, die in der DDR zum „Erbe“ gerechnet wurden, gab es auch Kapitel über Rilke und George, Gottfried Benn, Expressionismus sowie „Lyrik nach dem Expressionismus“ (u.a. neben Becher, Benn und Rilke auch Loerke, Kästner, Ringelnatz u.a.). Morgenstern kommt dort nur am Rand vor, dennoch beginne ich mit diesem Buch, das mich sehr interessierte … und enttäuschte.

Schon im „Waschzettel“ wird betont, Kaufmann fechte zentrale Thesen „modernistischer“ Literaturtheorie an und zähle diese drei Jahrzehnte zwischen 1900 und 1930 zur „unmittelbaren Vorgeschichte unserer [also der sozialistischen, M.G.] literarischen Entwicklung“ in entsprechend „streitbarer“ Darstellung. Das liest sich so (alle Hervorhebungen in diesem und allen folgenden Zitaten von mir, M.G.):

Die Einheit von erstens schöpferischer Tätigkeit, zweitens Abbild des Bezugs von Subjekt und Welt und drittens Mitteilung im und durch das Kunstwerk wird im Imperialismus (zum Teil auch schon viel früher, aber namentlich jetzt) für viele Künstler brüchig, und in bestimmten Strömungen des Expressionismus zerfällt sie vollständig. Da die metaphysisch zum ewigen Weltzustand aufgeblähte bestehende Gesellschaft schlechthin und unentrinnbar feindlich gesehen wird, will man im künstlerischen Schaffen jedes Band zu ihr zerreißen, und es bleibt nur das Individuum, das „sich ausdrückt“, das im Werk jede Auskunft über etwas außer dem Künstler Liegendes verweigert und auf Mitteilung einer Aussage nicht nur keinen Wert legt, sondern sich spröde dagegen versperrt. Letzte Konsequenz des „Aufstands gegen die Wirklichkeit“ ist die Literatur, die nichts mehr sagt. (Kaufmann a.a.O., S. 178)

An dieser Stelle kommt Morgenstern ins Spiel zu seinem einzigen Auftritt:

Als Morgenstern zum Spaß „Das große Lalula [sic]“ schrieb, ahnte er wohl nicht, daß er eine literarische Richtung
vorwegnahm, die das Sprechen schließlich durch das Lallen ersetzte (Hugo Ball und andere). Natürlich ist bei den Dadaisten viel Jux, Provokation, universelle Verhöhnung und Selbstverspottung im Spiel sowie die Absicht, durch demonstrativen Ausverkauf der bürgerlichen Kultur revolutionär zu wirken, und von den daran Beteiligten traten einige wenig später als bedeutende revolutionäre Künstler hervor (Piscator, Grosz, Heartfield, Herzfelde). Dennoch wird in den dadaistischen Experimenten die innere Logik des Zersetzungsprozesses der Kunst als Folge tief gestörter menschlicher Beziehungen besonders deutlich.“ (a.a.O., S. 179)

Es gab Leute, die Kaufmanns Zugriff als sachkundig und „feinfühlig“ verteidigten – ich empfand es eher tragisch, zu sehen, wie ein Literaturfreund sich in den Keulenworten der Ideologie verhedderte. Das Stimmenwirrwarr der Strömungen und Individualitäten, in dem auch Morgenstern „streitbar“ agierte, wird brutal auf zwei Grundlinien zugeschnitten, „für uns oder gegen uns“, Sozialismus oder Barbarei, „bürgerliche“ oder „proletarische“ Literatur. Gibt es keine Unterschiede zwischen George und Rilke? Brecht und Becher? Dem Becher der ersten, zweiten, dritten und vierten Phase? Zwischen Trakl und Stramm? Zwischen Symbolismus, Kubismus, Futur-, Im- oder Expression-, Dada-, Aktion- und allen anderen -ismen? Sind die „bürgerlichen“ Schriftsteller für den Leser von 1969 nur dann interessant, wenn sie sich für sozialistische Positionen öffneten oder wenigstens als „Bündnispartner“ oder „Weggefährten“ angesehen werden konnten? „Weggefährte“, so wurde der kommunistische Futurist Majakowski von den Kulturfunktionären der frühen Sowjetunion ein- und heruntergestuft, bevor er sich das Leben nahm und prompt von Stalin höchstpersönlich zum „besten und begabtesten Dichter der Sowjetepoche“ deklariert wurde. Die Art Literaturgeschichte wurde an Schulen und Universitäten gelehrt und in Monographien und Nach- oder Vorworten ausgebreitet, dass dem armen Kopf des Literaturfreundes Hören und Sehen, wenn nicht gleich Lesen und Schreiben, verging. Kaufmanns Buch war durchaus informativ für den auf das Fremde neugierigen Leser, aber die allgemein literaturpolitischen Aussagen verhießen nichts Gutes.

Hans Kaufmann war auch der Leiter des Autorenkollektivs von Band 9 der 13bändigen „Geschichte der deutschen Literatur“, dem Hauptwerk der Literaturgeschichtsschreibung der DDR. Morgenstern hat darin ein eigenes Unterkapitel von zweieinhalb Seiten. Darin steht gleich eingangs, sein Werk sei ebenso wie das von Arno Holz „am ehesten dort genießbar, wo dieser Humor zur Geltung kommt“:

Jene Poesie, in der sich ein von menschlichen Beziehungen entleertes Ich durch den Bezug zum Kosmos Fülle zu verleihen sucht, kann nicht verbergen, daß es ihr im Menschlichen fehlt. Wo sie sich in Randerscheinungen und unseriösen Gelegenheitspoesien humoristisch zu geben und selbst in Frage zu stellen vermag, wird sie vermenschlicht. (S. 198)

Die Pflöcke werden gleich am Anfang überdeutlich gesetzt in den pluralen Einschränkungen: „am ehesten“, „Randerscheinung“, „unseriösen Gelegenheitspoesien“, „humoristisch zu geben“. Durch Zuspruch für diese Nebenwerke ermuntert, habe er „die Scherzgedichte mit den Weltanschauungsproblemen … die ihn bewegten“ aufgefüllt. Die „Scherzgedichte“ kränkelten also an den gleichen Symptomen wie das „seriöse“, „kosmische“ Werk, auf der Flucht vor der Wirklichkeit in Irrationalismus. Ich rücke den gesamten Rest des Morgensternkapitels hier ein und kommentiere durch meine Hervorhebungen und kurze Zwischenbemerkungen:

Durch den Verlust sinnvoller gesellschaftlicher Beziehungen erscheint dem Dichter der „Galgenlieder“ die Welt in lauter isolierte Dinge zerfallen. Jedes einzelne Ding repräsentiert direkt die rätselhafte, dämonische Welt. Das Kleinste und das Größte sind unmittelbar aufeinander bezogen. Carl Sternheim läßt – in parodistischer Übertreibung dieser Sicht – den Kleinbürger Maske ausbrechen: „Hat diese Tasse einen Henkel? Wohin ich fasse, klafft Welt.“ („Die Hose“) So ist es bei Morgenstern: Überall „klafft Welt“, und dies weist er nun mit scherzhaft übertriebener Konsequenz an tausend Dingen nach. Die Schrecken dieser Erfahrung mildert oder annulliert er jedoch, weil er die Dinge, die ihr phantastisches Eigenleben führen, von einem versöhnlich gestimmten Subjekt her beseelt. (In Palmström nimmt dieses Subjekt Gestalt an.) Oft wird in Morgensterns Gedichten ein Nichts an Geschehen sprachlich hin und her gewendet und dadurch sowohl in seiner Nichtigkeit ausgewiesen wie mit Bedeutung aufgeladen:

Der Rock

Der Rock, am Tage angehabt,
er ruht zur Nacht sich schweigend aus;
durch seine hohlen Ärmel trabt
die Maus.

Durch seine hohlen Ärmel trabt
gespenstisch auf und ab die Maus…
Der Rock, am Tage angehabt,
er ruht zur Nacht sich aus.

Er ruht, am Tage angehabt,
im Schoß der Nacht sich schweigend aus,
er ruht, von seiner Maus durchtrabt,
sich aus.

(ein Nichts an Geschehen? Eingedenk, dass Geschehen im Gedicht immer sprachliches Geschehen ist, „geschieht“ im Gedicht nicht „nichts“, sondern sehr viel.)

Die unkorrekte Fügung „angehabter Rock“ läßt, auf ihre inhaltliche Bedeutung befragt, aus dem grammatischen Subjekt ein Ding, ein „Subjekt“ im Sinne eines handelnden und fühlenden Wesens werden. Der Rock wurde in Anspruch genommen, ist müde, ruht sich aus.

Entscheidend ist Morgensterns Verhältnis zur Sprache, das sich nicht in der souveränen Beherrschung der Stilmittel zeitgenössischer Lyrik, im Wortwitz und in der Fähigkeit zur Parodie erschöpft. Er überträgt vielmehr sein Verhältnis zu Ding und All auch auf die sprachlichen Zeichen, er stutzt vor den grammatikalischen, syntaktischen und lautlichen Fügungen, sie werden ihm zum Problem und beginnen ebenfalls, ein phantastisch beseeltes Eigenleben zu führen.

Er erfindet „logische“ Gegenstücke zu existierenden Wörtern: die „Oste“ zur Weste, „untig“ und „nebig“ zu obig; er dekliniert den „Werwolf“ („des Weswolfs“ usw.) und staunt,

(„er“ erfindet, „er“ staunt? Zwischen dem Dichter und seinen Geschöpfen wäre zu unterscheiden! Er, Morgenstern, „beherrscht“ die Stilmittel und Kniffe, er, der Rock, verselbständigt sich und er, der Sprecher oder besser sie, die Sprechinstanz, trägt den Vorgang vor, uns dran zu freuen, drob zu erschrecken oder auch, nun ja, drüber zu philosophieren. Geht es nur mir so, dass ich die folgende Paraphrasierung Morgensternscher Gedichte komisch daneben finde?)

daß das Verfahren auf den Plural nicht anwendbar ist; er faßt die Reihenfoge der Buchstaben im Alphabet als Stufen der Kultur auf und sieht die Geschichte als eine Entwicklung von A-Z. Und er läßt aus dem Reimzwang (auf „Dorf“) einen Gefährten Palmströms namens „v.Korff“ herauswachsen, der als erfundenes, also geistiges, körperloses, „unbürgerliches“ Wesen in der bürgerlichen Welt sonderbare Dinge erlebt. Die sonst allmächtige Behörde ist ihm gegenüber ohnmächtig („Die Behörde“). Vielfach konfrontiert Morgenstern seine phantasiebegabten „guten Menschen“ mit der Nüchternheit der bürgerlichen Gesellschaft und läßt sie immer neue Vorschläge und Erfindungen zur Weltverbesserung vortragen: eine „Mittagszeitung“, von deren Lektüre man satt wird, eine Uhr, die, vorwärts und rückwärts gehend, die Zeit aufhebt, und – tiefsinnig und prognostisch – ein „Warenhaus für Kleines Glück“ („WKG“), aus dem sich der vereinsamte Mensch, dem niemand schreibt, ganze Stöße „gemischter Post“ schicken lassen kann.

Immer wieder, und stets vergeblich, strebt Morgenstern danach, die Verdinglichung, die Vertauschung von Zweck und Mittel, von Mensch und Ding, zu entlarven und ihrer Herr zu werden.

(stets vergeblich? Über 100 Jahre später lassen wir uns immer noch „die Verdinglichung, die Vertauschung von Zweck und Mittel, von Mensch und Ding“ in diesen Gedichten vorführen – selbst die Literaturhistoriker beweisen seinen Erfolg; denn was wäre ihre Literaturgeschichte ohne die Gedichte? Nicht mehr als die von Morgenstern beschriebenen Latten im seiner Lücken beraubten Lattenzaun „mit Latten ohne was drumrum“. Wenn man den Zwischenraum herausnimmt, kann man nicht mehr durchschaun.)

Einen Sinn des Lebens, den er — im Grunde verzweifelt — suchte, konnte er rational nicht finden, sondern nur in der emotionalen Beseelung der Welt. Die durch nichts zerstörbare Gutartigkeit und Freundlichkeit (ähnlich der großer Clownsgestalten), die das Substrat all dieser Gedichte bilden, rufen ein humanistisch begründetes Wohlgefallen hervor, das sich mit der Freude am grotesken (niemals grausamen) Spaß verbindet. Durch seine Sprachbehandlung übte Morgenstern großen Einfluß auf die nachfolgende Lyrik aus. (a.a.O., S. 199-201).

Na immerhin das! Ich zitiere – aus dem Gedächtnis paraphrasiert und verbürgt – den DDR-Schriftsteller Franz Fühmann: „Hätten wir eine Literaturgeschichte und nicht die beflissene Karikatur, die sich dafür ausgibt …“ Vielleicht hat nicht Kaufmann, sondern einer der mehr lyrikaffinen Mitautoren dieses Kapitel verfasst und er hat es nur verantwortet?  Als ich diese dicken Bücher kaufte und zu lesen versuchte, war ich schon durch umfangreiche Eigenlektüre vieler nicht erwünschter Bücher, ich sag mal, gefestigt und gefeit. Fast kann ich den bayrischen Kollegen verstehen, der mir einmal in den 90er Jahren nach meinen Erzählungen zum Abschied sagte, unter solchen Bedingungen hätte er nicht Literaturwissenschaftler werden wollen. Jetzt braucht mein Text ein Smiley: 😀

Nicht viel anders, zunächst, in der einbändigen Literaturgeschichte von Hans Jürgen Geerdts (1968). Sie spricht vom „Bankrott bürgerlicher Ideologie“ mit Stichworten wie „kleinbürgerlicher Pessimismus“ und „militanter Nihilismus“. Das Jahr 1917 (gemeint ist die Oktoberrevolution in Russland) habe dann „den geschichtlichen Gegenbeweis“ erbracht, „den Sieg des wissenschaftlichen Sozialismus“. Zusammengefasst für die Kunst:

Nach alldem ist einleuchtend, daß eine dem Imperialismus verhaftete Ideologie nur dekadente oder banal-apologetische Kunst gebären kann. Auf ihren objektiv reaktionären, grundsätzlich volksfeindlichen Charakter muß man nachdrücklich hinweisen (…) (S. 467)

– was auch immer das zum Beispiel über das Werk Morgensterns aussagt. Wir können passende Adjektive raten, welches passt eher, dekadent? banal-apologetisch? reaktionär? volksfeindlich?

Immer wieder fällt hier auf, dass die allgemeinen Wertungen, Worte wie Peitschenhiebe, dann später im Eingehen auf konkrete literarische Phänomene kaum noch vorkommen. Morgensterns „seriöse Lyrik“ sei zwar „irrationalistischen Spekulationen – Nietzsches verstiegener Gedankenwelt und Rudolf Steiners Anthroposophie – verfallen“ und zu Recht vergessen, seine „grotesken Verse“ dagegen seien lebendig geblieben:

Hinter der von Arnold Zweig gelobten „Meisterschaft des Spielens“ mit witzig-paradoxen Wort- und Versmitteln spürt man des Dichters kritische und skeptische Haltung in einer von kapitalistischen Mechanismen und Phrasen geprägten Gesellschaft. Da kommen etwa zu Palmström die „wirklich praktischen Leute“, die „mit beiden Beinen“ im „wirklichen Leben“ stehen, und „hoffen zu postulieren: / er wird auch einer der Ihren, / ein Glanzstück erlesenster Sorte, / ein Bürger mit einem Worte.“

Das war letztlich das Wirkungsprinzip der ideologischen Literaturbetrachtung (-verdammung). Die Ideologie muss man schlucken oder überblättern und dann kommt das eigentlich Interessante. Auf den 50 Seiten des Kapitels über „Die bürgerliche Literatur vom Beginn des Imperialismus bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ finden sich ganz oder teilweise Gedichte von Wedekind, Liliencron, Dauthendey, Ricarda Huch, van Hoddis, Becher, Hasenclever, Lotz, Holz, Morgenstern, Rilke, Hofmannsthal, Lasker-Schüler, Trakl, Heym, Werfel, Stramm und Engelke – fast schon eine Basisanthologie der Lyrik um 1900. (Andere Autoren, Nietzsche, George, Benn, werden genannt, aber nicht in Gedichten vorgestellt.) Für eine einbändige Geschichte von 1000 Jahren Literatur ist das gar nicht schlecht.

Ich stelle einmal die im Umfang vergleichbare „Neue Geschichte der deutschen Literatur“ von Wellbery, Gumbrecht et al. (2004) daneben: Von Nietzsche bis Expressionismus steht da auf 110 Seiten kein einziges ganzes Gedicht, lediglich Gedichtfragmente von George und Benn. Von den hier genannten Lyrikern stehen Liliencron, Dauthendey, Hasenclever, Lotz, Holz, Morgenstern, Lasker-Schüler und Engelke nicht einmal im Register! Wenn mich ein lyrikaffiner Schüler fragt, welche einbändige Literaturgeschichte ich für einen schnellen Überblick über die moderne deutsche Lyrik empfehlen würde, ich müsste Geerdts vorziehen. Ich würde sagen, lies die allgemeinen Abschnitte über die Epochen erst gar nicht, lies die Gedichte und was um sie herum steht: er bekäme einen ersten Überblick.

Dazu passt eine Anekdote. Ein jüngerer Greifswalder Literaturwissenschaftler durfte in den 80er Jahren zusammen mit Geerdts ins kapitalistische Ausland reisen, was Normalbürgern praktisch unmöglich war, zu einer Konferenz nach Dänemark. Als der Grenzbeamte den Namen von Geerdts las, sagte er: Sie sind Professor Geerdts! Wissen Sie, dass wir Ihre einbändige Literaturgeschichte benutzen, wenn wir entscheiden müssen, ob jemand bei der Einreise ein Buch in die DDR einführen darf? Wir sehen im Register nach, wenn der Name des Autors nicht drin steht, ist es verboten.

Innerliterarische Szene

Das eine also die Ideologie, die eindeutig und klar Unterwerfung forderte. Daneben aber gab es die Praxis, gemischt, nicht immer klar-und-deut. Lehrer, die auf Dinge außerhalb des Lehrplans hinwiesen. Gedichte im Lesebuch, die nicht behandelt wurden und vielleicht gerade deshalb wirkten, wie das eine einzige Gedicht von Else Lasker-Schüler im Lesebuch:

Weltende

Es ist ein Weinen in der Welt,
Als ob der liebe Gott gestorben wär,
Und der bleierne Schatten, der niederfällt
Lastet grabesschwer.

Komm, wir wollen uns näher verbergen . . .
Das Leben liegt in aller Herzen
Wie in Särgen.

Du! wir wollen uns tief küssen . . .
Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,
An der wir sterben müssen.

Dieses Gedicht steht auch in Gänze in der einbändigen Literaturgeschichte von Geerdts. Es war da, man konnte es finden. Was nicht behandelt wird, darf im Dunkeln wirken. Ich glaube, das gilt auch heute: Bitte, liebe Lehrer, lasst die Finger von den guten Gedichten, lasst sie einfach in der Nähe liegen: kann sein, sie zünden dann.

Der Reclamband der Galgenlieder von 1967 war insofern ein guter Start, als das Nachwort (von Anne Gabrisch) für die Zeit erstaunlich unideologisch-literaturaffin war. „Fisches Nachtgesang“ auf dem Rücktitel lockte in unbekanntes Gelände; die verspielten Illustrationen von Horst Hussel erleichterten die Einübung. Die ideologischen Schlagworte („Abkehr vom gesellschaftlichen Geschehen, subjektivistische Resignation und Religiosität“) stehen bei ihr isoliert in Zitatstrichen. Sie wehrt es mit der Autorität Victor Klemperers ab. Als einziger sei der in einem 1956 wiederveröffentlichten Aufsatz (siehe Literaturverzeichnis am Schluss des Beitrags) „dem Dichter ganz gerecht geworden“ :

Für ihn sind der Morgenstern der „seidenen“ Verse und der Morgenstern der Grotesken eins: „Ein Positivismus-müder junger Mann am Ende des 19. Jahrhunderts wendet sich genauso wie ein Aufklärungs-müder Jüngling am Ende des 18. Jahrhunderts der Romantik zu“, er gibt seiner Naturschwärmerei, seiner Gottsuche, seinen unbestimmten Sehnsüchten in den lyrischen Gedichten Ausdruck und – ironisiert all diese Sehnsüchte in seinen humoristischen Versen echt romantisch wieder. (S. 196)

Er sei ein „respektloser Geist“ (S. 198) und bleibe “ Skeptiker allem und jedem gegenüber“ (S. 197). Steinersche Mystik UND Palmström, so ihre Formel für das Spätwerk (S. 201).

Der Reclamband und die verschiedenen Ausgaben beim Leipziger Insel-Verlag erschienen in Tausender-Auflagen zu niedrigen Preisen. Schließlich erschien 1971 ein Heft der Reihe „Poesiealbum“. Die von Bernd Jentzsch begründete Reihe erschien seit 1967 monatlich und war bis in die frühen 80er Jahre am Zeitungskiosk für 90 Pfennig erhältlich – und war so auch in der Provinz auffindbar. Die Auflage lag in der Regel bei 10.000 oder mehr – das Morgensternheft musste 1973 nachgedruckt werden. Herausgeber war der Lyriker Jo Schulz, er lieferte einen kurzen Begleittext ohne ideologische Hammerworte:

Morgensterns Leben war kurz. Frühes Kranksein, langwierige Liegekuren verstärkten zwar seine grüblerische Sensibilität, schärften zugleich aber Blick und Sinn, selbst im alltäglichen Gleichmaß steriler Umgebung das phantastisch-groteske Dahinter zu entdecken. Im vieldimensionalen Spielraum seiner poetischen Welt verdichteten sich Zeitgeist und Ungeist, militanter Machtwahn und Kleinbürgerrausch, Lebensangst und Philistertum, oft zwischentönig spottend und immer mit hoher Wortkunst und Musikalität, zu bildkräftiger Symbolik. Morgenstern zielte kaum direkt, er spielte – und traf, Wahrscheinlichkeit des Zufalls voraussetzend: ins Schwarze, Doppelbödige, Untergründige, den Schatten der Dinge.

Damit konnte man anfangen. Morgenstern hatte in der DDR aller Ideologie zum Trotz tausende Leser und Zehntausender-Auflage. Die Hefte des „Poesiealbum“ waren für viele junge Leute und auch junge Lyriker eine Schule der deutschen und Weltlyrik. Mir bleibt nur hinzuzufügen, dass es auch einige – nicht allzu viele, Morgenstern war nicht gerade ein Schwerpunktthema – ernstzunehmende wissenschaftliche  Arbeiten gab. Ich nenne nur zwei. Einmal Victor Klemperers Aufsatz „Christian Morgenstern und der Symbolismus“, der zwar aus den 20er Jahren war, aber 1956 in der DDR wiederveröffentlicht wurde und zum Beispiel von der Nachwortverfasserin der Reclamausgabe der Galgenlieder als Nothelfer gegen die Ideologen benutzt wurde. Zum andern Klaus Schuhmann, ein bedeutender Lyrikkenner, der 1975 einen Band „Ausgewählte Werke“ herausgab. In einem längeren Vorwort bringt er es fertig, die marxistische Einordnung im Ganzen mit Feingefühl und  literarischem Sachverstand, soll ich sagen: zu versöhnen? Nur manchmal schlägt der „Fluch der Interpretation“ zu. Als das Buch erschien, hatte ich mir das Nach- oder Vorwortlesen schon fast abgewöhnt. Ich  habe die fast 60 Seiten damals nicht zu Ende gelesen, das Buch schon, denn es enthält nicht nur sämtliche Galgenliederdichtungen, sondern auch „seriöse“ Lyrik, Kindergedichte, Briefe, Epigramme und Parodien. Das Vorwort habe ich erst für diesen Aufsatz gelesen. Hier zwei meiner Randbemerkungen ohne anderen Kontext als die entsprechenden Seitenzahlen.

Fluch der Interpretation (S. 47)

wieviel Angst die Marxisten vor der Freiheit hatten (S. 48)

Coda

Und destotrotz und alledem: Höhepunkt der Morgensternrezeption in der DDR war eine Szene in Greifswald, im Nordosten der DDR und Deutschlands. Die Geschichte spielt in einem Haus in der Langen Straße (damals Straße der Freundschaft oder kurz F-Straße). An der Stelle des jetzigen Hauses standen damals zwei Häuser, in denen sich ein Zeitungskiosk und ein Milchladen befanden. Kurz vor Ende der DDR wurden die Häuser abgerissen und durch Neubauten ersetzt. In den 90er Jahren zog eine Filiale der Erotikkette Beate Uhse in das Haus (sie hielt sich darin bis 2020.

In den 70er- und 80er-Jahren aber hing am Eckhaus eine Tafel, die augenscheinlich als Scherz von Hausbewohnern angebracht wurde. Eigentlich in der an Kontrollwahn leidenden DDR ein Unding, man kann nicht einfach eine Tafel an einem Haus anbringen. Die Tafel bezog sich augenzwinkernd auf die Sitte vieler Universitätsstädte, auf Dutzenden Tafeln zu vermerken, welcher Schriftsteller bzw. Professor früher hier wohnte.

In der DDR-Zeitschrift „Das Magazin“ stand damals ein Artikel über die Tafel. Ich weiß nur noch, der Verfasser hielt das für einen Ulk, er meinte, I. Sulk müsse „Is Ulk“ gelesen werden. Aber das stimmt nicht, der Herr I. Sulk war ein dort lebender Greifswalder. Demnach hatte der Autor nicht recherchiert, sondern nur auf der Durchreise das Schild fotografiert und den Rest zusammenspekuliert. Es gibt gute Gründe, einen Ulk zu vermuten. Ein Blick auf das Personenverzeichnis des Kurzdramas zeigt das::

Ein hübsches Junggesellenzimmer mag auch der Ort der Erstaufführung gewesen sein. Aber wieso Ulk? Ich sehe es vor mir.Die Handlung des Dramas beginnt nämlich so:

ERSTE ZIGARRE läßt Ringel zur Decke steigen. Der dazugehörige Herr sagt etwa : Wo nur die Fanny heut so lang bleibt! Läßt sich vom Zimmer zu schaffen machen.

MEHRERE TELLER klappern.

GABELN klirren

EINE TÜTE MIT DATTELN wird irgendwo versteckt.

EINE FLASCHE SEKT knallt. Der dazugehörige Diener sagt etwa: Bleibt heut das Fräulein aber lang!

Der erste Akt endet so: „DAS GESAMTE TISCHGERÄT entwickelt eine lustige Musik, durch welche hindurch man hie und da einige Namen von Speisen und Personen sowie allerlei auf diesen und jenen Lebensausschnitt bezügliches vernimmt. Nach einer Weile fällt der Vorhang.“ Lange vor der bruitistischen Musik der Futuristen und dem bruitistischen Krippenspiel des Hugo Ball hat Christian Morgenstern die Chose erfunden. Und erstaufgeführt wurde es in der DDR, in Greifswald, Straße der Freundschaft. In diesem Haus. Oder was da vorher stand.

Die Tafel hängt heute um die Ecke Kapaunenstraße:

Literaturverzeichnis

  • Christian Morgenstern, Ausgewählte Werke. Hrsg. Klaus Schuhmann. Leipzig: Insel, 1975
  • Christian Morgenstern. Poesiealbum 51. Berlin: Neues Leben, 1971
  • Christian Morgenstern, Galgenlieder. Eine Auswahl. Leipzig: Reclam, 1967
  • Hans Kaufmann, Krisen und Wandlungen der deutschen Literatur von Wedekind bis Feuchtwanger. . Fünfzehn Vorlesungen. Berlin und Weimar: Aufbau, 1969
  • Geschichte der deutschen Literatur . Vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1917. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Hans Kaufmann. Berlin: Volk und Wissen, 1974
  • Eine neue Geschichte der deutschen Literatur. Hrsg. David E. Wellbury, Judith Ryan, Hans Ulrich Gumbrecht u.a. Berlin University Press 2007

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