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Als Nacht der ermordeten Dichter gilt der 12. August 1952, als auf Befehl Stalins zahlreiche der führenden jiddischen Dichter der Ukraine ermordet wurden, darunter David Bergelsson, David Hofstein, Lejb Kwitko, Perez Markisch und Itzik Fefer. Aber es gibt mindestens eine zweite Nacht, die den traurigen Titel tragen könnte. Am 29. Oktober 1937 wurden zahlreiche weißrussische Intellektuelle erschossen, darunter die Schriftsteller Anatol Wolny, Platon Golovatsch (Galawatsch), Ales Dudar, Michail (Michas) Sarezkij, Wasil Kawal (Kowal), Mosche (Moische) Kulbak, Jurka Ljawonny, Waleri Marakoj, Wasil Staschewski und Michas Tscharot.
Hier ein jiddisches Gedicht von Mosche Kulbak aus der Anthologie „Der Fiedler vom Getto. Jiddische Dichtung aus Polen“ (Reclam Leipzig 1968, herausgegeben und übersetzt von Hubert Witt).
Lied eines armen Mannes
Auf dem Boden sitzt bei Nacht ein armer Mann
mit einem dünnen Lächeln auf dem Gesicht.
Er singt, wie sowas, hör mal, leben kann,
denn überall hilft man sich schon und braucht ihn nicht.
Er streckt den langen Leib, wird länger und schwächer
er klagt und singt sein armundgraues Lied
und der gehörnte, der stechende Mond auf den Dächern
kriecht herum wie ein weißer Wurm und glüht.
O die gilbe Stimm des Armen voller Schrecken
in allen Winkeln dieser grauen Welt.
Stimm eines Menschen, angetan mit Säcken –
wie schwer sie sich aus ihrer Trauer schält.
Er singt die dünne Freud, die er aus Qual gewann
wie kühles Wasser unter nackten und verbrannten Steinen.
Auf dem Boden singt bei Nacht ein armer Mann
und rührt den Mond, doch weiter keinen keinen …
(S. 103f)
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