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Sappho (in Umschrift): „Déduke mèn a selánna / kaì Pläïades . mésai dé / núktes, parà d’ érchet’ hora, / égo dè móna kateúdo.“
Max Treu: „Nun ist schon der Mond versunken / und auch die Plejaden. Mitte / der Nacht, und die Zeit des Wartens / vorüber. Allein schlaf ich.“
Emil Staiger: „Der Mond und die Siebensterne / sind untergegangen. Mitter- / nacht ist und die Zeit vorüber. / Ich aber, ich liege einsam.“
Horst Rüdiger: „Versunken der Mond / Und die Plejaden; Mitte / Der Nacht; die Zeit verstreicht. / Ich aber schlafe allein.“
Dietrich Ebener: „Unter gingen der Mond schon / und die Plejaden; Mitternacht / ist es, die Stunden verrinnen, / und ich schlafe allein.“
Joachim Schickel: „Hinabgetaucht ist der Mond und / mit ihm die Plejaden; Mitte / der Nächte, vergeht die Stunde; / doch ich lieg allein danieder.“
Wolfgang Schadewaldt: „Untergegangen ist die Mondin / Und die Pleiaden. Mitternacht ist / und vorüber geht die Zeit. / Ich aber schlafe allein.“
Albert von Schirnding: „Gesunken ist Selenna, / sind die Plejaden. Mitter- / nacht, vorüber die Stunde. / Und ich schlafe allein.“
Die zitierten Beispiele, die sich ohne weiteres vermehren ließen, zeigen die Fülle der in diesen vier Zeilen steckenden Übersetzungs-Möglichkeiten. Horst Rüdiger kommt dem Duktus durchaus nahe, Joachim Schinkel der Wörtlichkeit — abgesehen von dem etwas pejorativ-mißverständlichen Verb „darniederliegen“ —, doch allein Schirnding versteht es, sämtliche Tugenden zu verbinden, und wagt sich sogar noch einen Schritt weiter, indem er Selenna, den im griechischen Original weiblichen Mond (daher Schadewaldts häßliche „Mondin“), und die Plejaden als mit Namen genannte Personifizierungen begreift, die nach dichterischer Manier angerufen werden können, so daß der Gegensatz zwischen den himmlischen Gestalten droben und der einsamen Dichterin hienieden noch verstärkt wird. Schirnding wagt auch, sehr zu recht, den feststehenden Begriff „mésai dé núktes“ mit einem den Sapphischen Originalen nicht fremden Zeilenbruch innerhalb des Wortes zu übertragen. Diese konkrete „Mitternacht“ — anders als eine unbestimmte „Mitte der Nacht“ oder wörtlicher: „der Nächte“ — macht es nun auch sinnvoll, „hora“ nicht als abstrakte Zeit, sondern viel genauer als eben jene Tages- bzw. Nachtstunde zu übersetzen. Der Partikel „dè“ in der letzten Zeile schließlich kann zwar auch einen Gegensatz andeuten, dieser ist jedoch im Text nicht unbedingt intendiert — es sei denn, man sähe die Sterne als Schlafgemeinschaft am Himmel —, so daß ein verbindendes „und“ tatsächlich eleganter und sinnfälliger ist. Schirnding findet, auch insgesamt, zu einem Ton, der weder unnötig schwerfällig oder pathetisch wirkt, dennoch aber in seiner funkelnden Nüchternheit durchaus angemessen erhaben bleibt. /Jürgen Brôcan, Fixpoetry (http://www.fixpoetry.com/feuilleton/kritiken/sappho/und-ich-schlafe-allein)
Sappho
Und ich schlafe allein
Neu übersetzt und erklärt von Albert von Schirnding
C.H. Beck
2013 · 168 Seiten · 16,95 Euro
ISBN: 978-3-406-65323-0
Ich bevorzuge folgende Übersetzung (von mir selbst):
Herab ist Selanna, die Göttin des Mondes,
Mit den Pleiaden, den Töchtern des Atlas, gesunken – die Mitte
Der Nacht, und es schreiten die Stunden vorbei –
Ich aber lege als einsame Frau mich zur Ruh.
Ohne die Einschübe „die Göttin des Mondes“ und „den Töchtern des Atlas“ mag es vielleicht klanglich noch schöner sein, aber auch so zieht sich das Metrum durch und ich bevorzuge, dass sofort herauskommt, dass sowohl Mond, Pleiaden, als auch das lyrische Ich, wie in „monA kateudo“ (als Einsame sich niederlegen) herauskommt, weiblich sind.
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Da das Gedicht mich immer noch nicht losgelassen hat, habe ich mich wieder daran versucht. Jetzt ist es etwas knapper, kommt dem Altgriechischen im Klang als auch im Ausdruck näher, beherzigt dennoch den oben von mir gemachten Punkt und verstärkt zusätzlich durch einen Reim die Zäsur zwischen dritten und viertem Vers:
Gesunken ist Mondfrau Selanna
zwar mit den Pleiadinnen: Mitten
in Nächten, die Stunde verstrich,
ich Frau aber liege allein.
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„Schadewaldts häßliche „Mondin““: das mag ich nicht unwidersprochen lassen, auch wenn es vielleicht nur unglücklich formuliert ist. einen ausdruck, der in der ausgangssprache vollkommen gängig ist, mit einem in der zielsprache ungewöhnlichen, gar neugeschaffenen, zu übersetzen, erzeugt natürlich immer befremden (die neuerdings aufgetretene esoterische aufgeladenheit von „mondin“ kannte sch. wohl noch nicht); andererseits aber gibt es nun mal im deutschen keinen ausdruck, der zugleich den himmelskörper und die damit verbundene gottheit bezeichnet und dabei auch noch weiblich ist – und das leistet schadewaldts „mondin“ ja tatsächlich alles. bleibt also nur die fremdheit, die man als unangemessen für eine übersetzung werten könnte. das aber, denke ich, kann für schadewaldts übersetzungen nicht gelten, da er sich ja erklärtermaßen eine art von kunstsprache dadurch schafft, dass er das deutsche dem griechischen (am besten beobachtet man das bei seiner homer-übersetzung) so weit wie möglich annähert. ob das ergebnis immer „schön“ ist, sei dahingestellt, aber ich denke, im diesem falle sollten wir nicht eine einzelne formulierung, sondern schadewaldts übersetzungsprinzip in den blick nehmen.
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ich vermisse in der aufzählung der zitierten übertragungen diejenige dirk uwe hansens. natürlich ist jürgen brôcan völlig,frei, die auswahl nach eigenem ermessen zu treffen, aber es ist verwunderlich, dass er ausgerechnet die jüngste auslässt, gewissermaßen das direkte konkurrenzprodukt. umso mehr, als hansen mit seiner doppelübersetzung einen neuen akzent setzt und gerade seine „nachdichtung“ durch einen völlig neuen ansatz der repoetisierung bemerkenswert ist:
Unter der Mond gegangen
gegangen Pleiaden aus
aus die Stunde geblieben
geblieben wieder allein
(Sappho: Scherben – Skizzen. Übersetzungen und Nachdichtungen von Dirk Uwe Hansen. Potsdam : Udo Degener Verlag, 2012)
aber auch in der einschätzung der neuen übersetzung dieses gedichts kann ich brôcan nicht ganz folgen. wenn albert von schirnding sich dafür entscheidet, statt „mond“ (oder „mondin“) das griechische etymon im deutschen als eigennamen „Selenna“ wiederzugeben, dann ist dagegen nichts einzuwenden, doch erscheint mir dies kein gutes beispiel für eine ausgabe, die sich, so brôcan, „mit […] einer unprätentiösen, jeden altertümelnden Duktus abstreifenden Übersetzung an den Leser wendet, der Sapphos Dichtung hier ohne altphilologische Bildung genießen darf“ [passage nicht in dem von der lyikzeitung wiedergegebenen ausschnitt]. denn zum einen identifiziert manche/r (potentielle/r) leser/in unserer tage „selenna“ möglicherweise gar nicht mehr als „Mond“, und zum anderen scheint mir der umstand, dass der text sie und die pleiaden „als mit Namen genannte Personifizierungen begreift, die nach dichterischer Manier angerufen werden können“ eher ein hinweis auf einen philologisch-historisierenden ansatz. ob durch die personifizierung „der Gegensatz zwischen den himmlischen Gestalten droben und der einsamen Dichterin hienieden noch verstärkt wird“, sei dahingestellt (im zweifelsfalle schläft/liegt der mond bzw. selenna ja auch allein), und den zeilenbruch durch das wort „Mitter-/Nacht“ hatte ja schon emil staiger ge“wagt“ (korrekterweise von brôcan auch aufgeführt). inwiefern dieser Band, der sich „aufs Schönste in die lange Reihe der deutschen Sappho-Übertragungen ein[reiht,] […] gewiß ein Glanzlicht dar[stellt]“, kann ich anhand der übertragung des berühmten 168b Voigt noch nicht nachvollziehen.
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aber ob die „mondin“ häßlich ist ist sicher geschmacksfrage
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