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Woche der altgriechischen Poesie in L&Poe 2.-8.4.
Satyr mit Kantharos und Lyra. Tondo eines Attisch-rotfigurigen Kylix,
460-450 v. Chr. Aus Vulci. (Wikimedia Commons)
Jeder, dem etwas an Literatur liegt, landet irgendwann bei Sappho. (Arnfrid Astel)
1916 veröffentlichte Ezra Pound ein Gedicht mit dem Titel „Papyrus“:
Spring ……
Too long ……
Gongula ……
Inspiriert wurde er durch die kurz zuvor erfolgte Veröffentlichung einiger Sapphofragmente. Die Fragmente, die auf antiken Pergamenten oder Papyri überliefert sind (seit 1905 waren kistenweise Papyrusfragmente aus den Resten der Stadt Oxyrhynchus aus dem ägyptischen Wüstensand oder gar aus dem Mund mumifizierter Krokodile geborgen und nach England gebracht worden, wo die Entzifferung andauert. Bis 1915 wurden neben Texten von Euklid oder Pindar nicht weniger als 56 Fragmente von Sapphotexten entdeckt. Die Fragmente faszinierten Pound und seine Freundin Hilda Doolittle, die auf der Suche nach einer modernen Poesie waren. Pound schrieb: „Willst du den Inbegriff der Sache, geh zu Sappho, Catull, Villon, zu Heine, wo er in Schwung ist, zu Gautier, wo er nicht allzu frostig ist, oder, falls du diese Sprachen nicht kannst, suche den geruhsamen Chaucer auf.“*
Sapphos Name wurde so berühmt, daß in vielen Teilen der Welt dichtende Frauen nach ihr benannt wurden, wie die deutsche Sappho (Anna Luisa Karschin), die pommersche Sappho (Sibylla Schwarz). Ihr Werk dagegen verschwand fast völlig. Die Antike kannte 9 Bände. Heute kennen wir neben weniger als einer Handvoll ganz oder in größeren Teilen überlieferter Gedichte über hundert Fragmente, manche in der Art von Pounds „Papyrus“. Fragmentträger sind Papyri, Pergamente, Tonscherben oder erhaltene Werke anderer Autoren, die sie zitieren. Auch Aristoteles ist ein solcher Zitatträger. Im 1. Buch seiner Rhetorik schreibt er:
(…) aller Schändlichkeiten – einerlei ob in Wort, Tat oder Absicht – schämt man sich, wie Sappho Alkaios, als dieser schrieb: „Etwas sagen will ich, doch mich hindert der Anstand“, erwiderte:
Wenn zu Edlem und Erhabenem Verlangen dich hielte
und nicht böse Worte die Zunge sagen wollt‘,
dann füllte nicht Scham deine Augen,
sondern du sprächest das Rechte nur. **
*) Ezra Pound: Dichtung und Prosa, Berlin: Ullstein 1959, S. 148 (übersetzt von Eva Hesse).
**) Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger, Stuttgart: Reclam 1999, S. 44.
Einige deutsche Übersetzungen:
Wilhelm Heinse
Alkaios. Ich möchte Dir etwas sagen, aber die Scham verwehrt es mir. Sappho. Wenn es Verlangen nach Gutem und Schönem wäre, so würde Scham Deine Augen nicht ergriffen, Deine Zunge nicht gezittert haben, Böses zu sagen, Du würdest von etwas Gerechtem reden.
Wilhelm Heinse: Sämmtliche Schriften, E. Graul, 1857. Bände 4-5
Hans Rupé:
Alkaios:
So gerne möcht‘ ich reden, allein mich hindert die Scham ….
Sappho:
Verlangte dich nach edlem und Schönem nur
und flockte deine Zunge beim bösen Wort,
so senkte nicht die Scham dein Auge,
sondern du redetest frei, wie’s recht ist.
Aus: Sappho. Übertragen von Hans Rupé mit dreizehn Zeichnungen von Renée Sintenis. Berlin: Holle & Co., o.J., unpag.
Raoul Schrott:
[Alkaios zu Sappho]
Ich möchte dir etwas sagen doch
eigentlich trau ich mich nicht –
[Sappho zu Alkaios]
Alles was gut und recht ist mein lieber
wenn du was andres als bumsen
im kopf hättest dann wäre es dir längst
schon über die lippen gekommen
Aus: Raoul Schrott: Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten viertausend Jahren. Frankfurt/Main: Eichborn 1997, S. 137.
Ja, Carsons Übersetzung ist ein seltener Glücksfall und sei herzlich empfohlen (und ist vergriffen). Zum Trost mag „Autobiography of Red“ gereichen, auch wenn Stesichoros weniger berühmt ist als Sappho…
Und auch ja: wenn sich das Gefühl einstellt, da arbeitet ein Übersetzer sich nicht am Text ab, sondern an seinen Vorgängern (seien es Übersetzer oder Erklärer), dann stimmt mich das missmutig.
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danke dirk uwe hansen, die bereitbeinigen übersetzungen von schrott wirken wie der trotz eines pubertierenden. und wahrscheinlich kann er gar kein altgriechisch, sondern interpretiert nur rotzig andere übersetzungen
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Breitbeinige Übersetzung: großartig getroffen! Mangelnde Sprachkenntnisse sind sicher auch ein Problem, aber ich will keineswegs dem Wilamowitz-Dictum das Wort reden, dass nur ein Philologe (in Wilamopsens Sinne also ein Klassischer Philologe) überhaupt übersetzen darf. Da gibt es sehr schöne Gegenbeispiele. Ich habe nur hier – und auch bei Schrotts Iliasübersetzung – den Eindruck, dass das Original gar keine Rolle mehr spielt, weder Freund noch Gegener ist und allein wohlfeiler Anlass für Selbstinszenierung. Und für eine uninteressante Selbstinszenierung zudem, wo doch die einzige Rechtfertigung für Selbstinzenierung sein kann, dass sie interessant ist. „Bumsen“ zu schreiben ist aber genauso langweilig wie „dem hat Zeus wohl ins Gehirn geschissen“ und ähnlicher Firlefanz.
Wenn ich es richtig voraussehe, werden wir in L&Poe noch Ann Cottens Sappho-Bearbeitungen zu lesen bekommen, das wird dann interessant.
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ein -s- trage ich hiermit nach
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ich denke auch. gern lese ich auch die sappho kommentare von anne carson, gut die ist auch philologin
http://5-squared.blogspot.de/2009/07/if-not-winter-by-sappho-trans-anne.html
aber alle nähern sich dem text mit empathie und einer gewissen ehrfurcht und nicht mit der geste, alle philologische arbeit davor über den haufen zu werfen
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θέλω τί τ‘ εἴπην, ἀλλά με κωλύει
αἴδως ……………
αἰ δ‘ ἦχες ἔσλων ἴμερον ἢ κάλων
καὶ μή τί τ‘ εἴπην γλῶσσ‘ ἐκύκα κάκον,
αἴδως †κέν σε οὐκ† ἦχεν ὄππα-
τ‘ ἀλλ‘ ἔλεγες †περὶ τὼ δικαίω†
Ich glaube, Schrott vergibt bei seinem effekthascherischen „wenn du was andres als bumsen
im kopf hättest“ das Schönste vom Ganzen: ἐκύκα beschreibt das sich Winden der Zunge, über die etwas Schlechtes (so schlicht heißt es bei Sappho) kommen will, Also so was wie „wenn deine Zunge nicht immer im Mund herumwühlen würde nach etwas Üblem, um es zu sagen“; und damit ist Alkaios´ Schweigen schön erklärt – wer ans Bumsen denkt, braucht deswegen ja nicht den Mund zu halten.
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