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Was heißt schon Verstehen? Mal vorausgesetzt, das Lesen geschieht freiwillig. Man kann entzückt verharren, achselzuckend weitergehn, wieder lesen, Indizien sammeln, sätze / Stelzen auf kauernden stirnen? Was haben wir da, eine Beziehungskiste, du so, ich so?
du in der Sonne deines badezimmers du in der geöffneten tür ich betrüge Gewohntes: trinke Gewaschenes Haar
Wie wird es weitergehn? Gewohntes betrügen? Falsches trinken? Fliegen die Fetzen? Nein (noch nicht?), aber
blaupausen fliegen Am Augenwinkel vorbei sätze Stelzen auf kauernden stirnen
Wenn ich so weiter lese, wird das klarer?
Angesichts weißer wangen blätter schweigt die wünscherei hand: sie ist noch klein Flieg Haar von deinem haar leiser als Spinnenfäden nasses Haar rotes Haar Eben noch bei dir
Der Text in den Kästchen (das ist beim Lesen im Handy nicht sichtbar, die Verszitate zwischen den Kommentaren) ist ein fast vollständiges Gedicht, es stammt von Judith Zander. Hier noch einmal komplett mit Überschrift und in der Originalschreibweise.
du in der Sonne deines badezimmers/(okt)oberlicht du in der Sonne deines badezimmers du in der geöffneten tür ich betrüge Gewohntes: trinke Gewaschenes Haar blaupausen fliegen Am Augenwinkel vorbei sätze Stelzen auf kauernden stirnen Angesichts weißer wangen blätter schweigt die wünscherei hand: sie ist noch klein Flieg Haar von deinem haar leiser als Spinnenfäden nasses Haar rotes Haar Eben noch bei dir
Eben noch bei dir. Man könnte (da ist es aber nicht mehr freiwillig) Interpretationen schreiben lassen. Viele verschiedene sind denkbar, und das ist gut so. Dann bitte hier nicht weiterlesen (und nicht am Ende die schönen Interpretationen, die da entstehen könnten, korrigieren mit der „richtigen“ Bedeutung.
Ich schlage etwas anderes vor, Hinschauen statt Verstehen.
Die Sache mit der Beziehungskiste,
Eben noch bei dir
höchstens eine vage Ausgangshypothese sein lassen und wieder lesen (vielleicht fällt mir noch was auf? oder wenigstens ein?), beobachten und fragen statt antworten und interpretieren. Warum sind in fast jeder Zeile einzelne Wörter kursiv gedruckt? Warum wird die Sonne großgeschrieben, das Badezimmer aber klein,
du in der Sonne deines badezimmers
manchmal das gleiche Wort in der gleichen Zeile verschieden
Flieg Haar von deinem haar
Hier noch einmal das Gedicht, wobei alle kursiven Stellen zusätzlich unterstrichen sind zur besseren Sichtbarkeit.
du in der Sonne deines badezimmers/(okt)oberlicht du in der Sonne deines badezimmers du in der geöffneten tür ich betrüge Gewohntes: trinke Gewaschenes Haar blaupausen fliegen Am Augenwinkel vorbei sätze Stelzen auf kauernden stirnen Angesichts weißer wangen blätter schweigt die wünscherei hand: sie ist noch klein Flieg Haar von deinem haar leiser als Spinnenfäden nasses Haar rotes Haar Eben noch bei dir
Spoilerwarnung: wer weiterliest, wird das Gedicht nie mehr unbefangen lesen können.
Vielleicht sieht man, dass es nur in den kursiven Textteilen korrekte Groß- und Kleinschreibung gibt. Vielleicht lassen sich die zwei unterschiedlich behandelten Textteile als verschiedene Diskurse lesen.
Kurze Frage: Könnten die Kursiva Zitate sein?
Kurze Antwort: Ja, sind sie.
Das ganze Gedicht ist ein Remake oder eine Überschreibung eines anderen Gedichts, oder vielmehr ein Palimpsest. An den kursiven Stellen schaut der Quelltext durch, die ältere Textschicht. Hier diese alte Schicht isoliert:
... in der Sonne deines ... ... ... geöffneten ... ich ... Gewohntes: ... Gewaschenes Haar ... fliegen Am Augenwinkel vorbei ... Stelzen auf ... ... Angesichts weißer ... ... ... ... ... ist noch klein Flieg Haar von ... ... ... ... Spinnenfäden ... Haar ... Haar Eben noch bei ...
Woher ich das weiß? Das Buch, aus dem das überschriebene Gedicht stammt, war eine meiner großen Entdeckungen, als ich anfing, Gedichte zu lesen, jahrelang ein Lieblingsbuch. Viele Gedichte kenne ich fast oder ganz auswendig, weil ich sie so oft las. Nicht nur weil mir die Gedichte gefielen. Ich sympathisierte mit der Autorin, weil sie von den Literaturaufsehern beargwöhnt und kritisiert wurde (auch dieses von Judith Zander überschriebene Gedicht war schon vor Erscheinen des Buches nach Abdruck in einer Wochenschrift Gegenstand einer Kampagne in einer Satirezeitschrift).
Das Gedicht stammt von Sarah Kirsch, es stand in dem Gedichtband Landaufenthalt (1967), es ist eines von drei Gedichten zum Tod des von mir ebenfalls damals schon verehrten Dichters Johannes Bobrowski, es entstand in der Sonne seines Sterbemonats, das war der September 1965.
Ich in der Sonne deines Sterbemonats ich im geöffneten Fenster ich betreibe gewohntes: trockne gewaschenes Haar Schaukeln fliegen am Augenwinkel vorbei, Wespen stelzen auf faulenden Birnen angesichts weißer Laken schreit der Wäschereihund: er ist noch klein Flieg Haar von meinem Kamm flieg zwischen Spinnenfäden schwarzes Haar totes Haar eben noch bei mir
Schön beide Gedichte, das Original wie das Überschriebene
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Bin froh, dass ich weitergelesen habe. Sonst hätte sich das Gedicht nicht erschlossen. Das Problem beim puren Hinschauen ist ja meist, dass man das daruntergelegene nicht erfasst
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Aber was wäre das (Pendant zum) Röntgengerät für dieses Darunter des Gedichts? Nach meiner Erfahrung gibt es Gedichte. Die sind aus Sprache gemacht. Und es gibt Simulacra, die dann als vollwertige Poeme akzeptiert werden, wenn sie von den „wirklich praktischen Leuten“ (Morgenstern) rezitiert/performt werden, die von vermeintlichen Experten als versiert ausgegeben, und daraufhin vom zeitgenössischen Kunstsystem verwertet werden. Widerstand dagegen wird als Idiotie gebrandmarkt. Menschlich ist das verständlich, nämlich als Rationalisierung des eigenen Mitmachens lesbar, aber diesen Verstehensbegriff sehen wir hier doch gerade sehr anschaulich problematisiert.
Im Jahr 2007/08 provozierten Ulf Stolterfohts angenehm unromantische Dicta zum Thema Unverständlichkeit von Poesie (BELLA triste 17, Lyrikjahrbuch 2008) die Simulacren-Manufakteure. Michael Gratz aktualisiert hier Stolterfohts Diskussionsbeiträge, die damals ein gewisses Echo fanden.
Die beiden letzten Versuche, zu Lyrikdebatten zu kommen waren äußerst unergiebig, weil sie von außerliterarischen Ambitionen (Neid, Eitelkeit, Hass) entstellt und letztlich verdrängt wurden.
Gedichtlektüre muss mehr sein als eine klassistische Sozialheuristik, vorgetragen unter der immerwährend dummschlauen Scheinfrage: Wer schafft es warum (nicht)?
Was in der Schule beginnt, endet zuverlässig im örtlichen Literaturhaus und in der Totalität von Youtube und Co. Es gibt also immerhin Ortswechsel, die Rollen sind klar verteilt. Ein Schwank, könnte man meinen. Dem ist nicht so, des signifikanten Unterschieds wegen: Es gibt keinen Zuschauerraum, weil früher oder später alle Teilnehmer ´dran´ sind. Viele sind sich dessen aber überhaupt nicht bewusst.
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