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Veröffentlicht am 17. August 2022 von lyrikzeitung
Zum 100. Geburtstag des Dichters Paul Wiens eine Flaschenpost aus dem Jahr 1957. Damals kriegte der Dichter Prügel (später hat er selber geprügelt bzw. gespitzelt, ein anderes Kapitel).
Paul Wiens
(* 17. August 1922 in Königsberg; † 6. April 1982 in Ost-Berlin)
VERZWEIFLUNG Wenn sich die letzten Staaten tödlich reiben was wird von Land und Leuten übrigbleiben? Ach, schwarze Wogen himmelgroß, die auf die Städte schlagen . . . Wer wird die letzte Geschichte schreiben? Wer wird zu Grabe tragen den armen Erdenkloß? Es bleibt auch nicht einer — ihm nachzudenken . . . Es bleibt auch nicht einer — sich mitzuversenken . . . Schnell, schreibe noch dein Schlußgedicht, eh wir zu Nichts erkalten, eh wir vom roten Gestirn abschwenken — für keinen zu erhalten das letzte Sonnenlicht! Schnell, sammle letzten Glimmer, letzte Feder, mit letztem Duftöl schmier dein Hosenleder und schwill und spreiz dich wie ein Pfau und schmück mit Geist und Haaren den wehen Schädel — zu gefallen jeder, wie immer wunderbaren, wie nie noch letzten Frau! Schnell, eh zerspellt Weltbild und Weltenrahmen! Schnell, Sämann, säe deine letzten Samen dem letzten Frühling in den Wind! Ins Nichts wird er sie tragen . . . Ehe vergessen sind die süßen Namen, laß uns noch einmal sagen: Geliebte, Brot und Kind . . .
Aus Paul Wiens: Nachrichten aus der dritten Welt. Gedichte. Berlin: Volk und Welt, 1957 (Lyrikreihe: Antwortet uns! 8), S. 30f
Kategorie: Deutsch, DeutschlandSchlagworte: Paul Wiens
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