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Ernst Jandl (* 1. August 1925 in Wien; † 9. Juni 2000 ebenda)
selbstporträt, 18. juli 1980 es sei mit ihm was los. nein, so genau wisse er selbst es nicht, spüre jedoch daß nichts mehr sei wie es gewesen sei. davon erzählen wolle er eigentlich nicht. wolle eigentlich überhaupt nichts, wolle aber auch nicht völlig untätig sein, beschäftige sich daher nach wie vor mit gedichten, deren herstellung. auch wenn kein wort mehr glänze. ... aus dreckigem glase jetzo trinke er das übliche gemisch, nur etwas mehr mineralwasser, dafür weniger whiskey, die flasche beinah leer, und er nicht willens das haus um neuen vorrat zu verlassen; müsse ja dieses gedieht hier noch schreiben und absegnen, ehe er sich an das spiel mit dem schach-computer mache, seinem neuesten hausgenoss, bekanntlich dem einzigen (immerhin schon dritten, nachdem den ersten und zweiten innerhalb rückgabefrist er verabschiedet habe), dreckig, das glas, von seinen schokoladelippen gestern nachts. er schon griffe zum strick, den es im hause nicht gebe, gäbe es nicht so unmäßig viel auch noch in seinem alter zu erleben: schokolade, whiskey, schach-computer, nutten – nein, vor diesen habe er immer sich gehütet. sich zu hüten sei überhaupt zeitlebens seine kunst gewesen. (er wäre ein genie gewesen, hätte er sich selbst ver- hüten können.)
Aus: Ernst Jandl, Werke in 6 Bänden. Hrsg. Klaus Siblewski. Werke 3. München: Luchterhand, 2016, S. 413f (Ursprünglich aus dem Band „selbstporträt des schachspielers als trinkende uhr“).
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