N-Wort

Vor einiger Zeit las ich einen Tweet, ein offenbar nichtweißer Deutscher sprach seine weißen Freunde an: Niemals sollt ihr das N-Wort aussprechen. Auch nicht im Zitat.

Freunde, die ich schätze, beeilten sich zu laiken. Als müssten sie dringend versichern, dass sie zu den Guten gehören, dachte ich zuerst nur halb belustigt. Dann wurden meine Gedanken düsterer. – Ich muss vorausschicken, ich weiß, dass sich Sprache ständig verändert, sonst würden wir alle so reden:

upi sia auar kihalont die         die dar fona himile quemant,

enti si dero engilo         eigan uuirdit

(Bert Papenfuß versteht mich)

Oder gleich so:


בראשית ברא אלהים את השמים ואת הארץ
Bereschit bara elohim et haschamajim we et ha’aretz
(Gott versteht mich)

Als ich Kind war, sprach man unverheiratete Frauen mit „Fräulein“ an. Auch die ältere Lehrerin, Fräulein M. Es machte Spaß zu witzeln: Fräulein und Herrlein. Das Wort wird kaum noch verwendet, aber wir können es in Büchern lesen, in Filmen hören.

Sprache verändert sich auch heute. Veränderung ist immer umstritten. Ich sage (schon lange) nicht mehr Fräulein, es sei denn ironisch (zu meiner Katze). Ich sage nicht mehr Zigeunerschnitzel und Neger. Bei Mohrenstraße habe ich meine Zweifel. Natürlich würde ich keinen Menschen „Mohr“ nennen (außer Karl Marx, Mohr war sein Spitzname).

Aber ich habe viele Bücher, in denen solche Wörter stehen: Zigeunerdichtung. Lyrik amerikanischer Neger. Soll ich die nicht mehr lesen, nicht mehr zitieren? 1990 war ich in einem kleinen revolutionären Akt an der Neuschreibung des Statuts der Philosophischen Fakultät beteiligt, es war im zeitigen Frühjahr 1990. Wir schrieben eine Drittelparität hinein: Professoren, Mitarbeiter, Studenten. (Da fingen manche Professoren an, das Hochschulrahmengesetz der Bundesrepublik zu studieren. Da gab es so etwas nicht. Vielleicht ein nicht immer berücksichtigter Grund für die schnelle Wiedervereinigung.) Im Statut benutzten wir das taz-Binnen-I: ProfessorInnen. Ein Professor fragte mich, ob man das heute so schreibe. Ein halbes Jahr später redete ein Herr Möllemann in der Aula der Universität Greifswald, er sagte: „Ab morgen bin ich Ihr Minister.“ Mit den Experimenten war Schluss.

Zurück zu jenem Tweet. Wenn ihr die Wörter nicht mehr zitiert, dachte ich traurig, was macht ihr dann mit den alten Büchern? Klar kann man ein Wort in einem Kinderbuch ändern, das hat man schon immer gemacht. Aber die Bücher der alten Schriftsteller, der „weißen“, der „nichtweißen“? Der große US-amerikanische Dichter Langston Hughes, dessen Gedichte ich in einem Reclambuch las, als ich noch zur Schule ging. „Auch ich singe Amerika“, heißt ein Gedicht, es endet so:

Übrigens
Werden sie sehen, wie schön ich bin,
Und sie werden sich schämen –

Auch ich bin Amerika.

Deutsch von Stephan Hermlin

An ein anderes Gedicht von Hughes dachte ich, als ein Clown in Amerika diesen „MAGA“ abgekürzten Spruch einführte, Make Ummerica Great Again. Bei Hughes heißt es: „Let America be America again“, darin diese Zeilen:

Ich bin der arme Weiße, betrogen und verstoßen,
Ich bin der Neger, der die Sklavennarbe trägt.
Ich bin der rote Mann, den man vom Land vertrieben
(…)
Holen wir uns das Land zurück einmal,
Amerika!

Deutsch von Stephan Hermlin

Bitte nicht an dieser Stelle „N-Wort“ einsetzen. Lest die alten Dichter, nehmt sie ernst, zitiert sie, tragt sie vor, im Wortlaut. An Grammatik, Rechtschreibung und Wortschatz mag man erkennen, dass es ein alter Text ist, Schrift gewordene Geschichte. – (Hughes hatte übrigens sehr gemischte Vorfahren, ein englischer Dichter war darunter, ein jüdischer Sklavenhändler, ein französischer Kaufmann neben schwarzen Sklaven, die Irokesen oder Irokesinnen geheiratet hatten. Er war Amerika.)

Heute ein Gedicht von Langston Hughes

 (* 1. Februar 1902 in Joplin, Missouri; † 22. Mai 1967 in New York) 

The Negro Speaks of Rivers
(To W. E. B. DuBois)

I’ve known rivers:
I've known rivers ancient as the world and older than the
   flow of human blood in human veins.

My soul has grown deep like the rivers.

I bathed in the Euphrates when dawns were young.
I built my hut near the Congo and it lulled me to sleep.
I looked upon the Nile and raised the pyramids above it
I heard the singing of the Mississippi when Abe Lincoln
   went down to’ New Orleans, and I’ve seen its muddy
   bosom turn all golden in the sunset

I’ve known rivers:
Ancient, dusky rivers.

My soul has grown deep like the rivers.
Der Neger spricht von Strömen
(Für W. E. B. DuBois)

Ich habe Ströme gekannt:
Ich habe Ströme gekannt, alt wie die Welt und älter als
   der Fluß menschlichen Blutes in menschlichen Adern.

Meine Seele ist tief geworden wie die Ströme.

Ich badete im Euphrat, als die Dämmerungen jung waren.
Ich baute meine Hütte am Kongo, und er sang mich in
   Schlaf.
Ich blickte auf den Nil hinab und türmte Pyramiden über
   ihn.
Ich lauschte dem Gesang des Mississippi, als Abe Lincoln
   nach New Orleans herunterkam, und ich sah, wie die
   schlammige Brust des Stromes im Sonnenuntergang sich
   golden färbte.

Ich habe Ströme gekannt,
Uralte verdunkelte Ströme.

Wie die Ströme tief ist meine Seele geworden.

Deutsch von Stephan Hermlin, aus: Schwarzer Bruder. Lyrik amerikanischer Neger. Gedichte, Spirituals, Work Songs, Protestlieder, englisch und deutsch. Leipzig: Reclam, 1968, S. 37

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