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Das Schicksal, vom lesenden Publikum vergessen und von manchen Fachleuten ignoriert und kleingeredet zu werden, teilte Sibylla Schwarz mit vielen Frauen. Heute ein Text von Hrotsvit von Gandersheim, die um 935 geboren wurde und Erzählungen, Dramen und Gedichte in lateinischer Sprache schrieb.
„Hrotswita wurde sofort nach ihrem Tode vergessen. Erst die Renaissance, und zwar der Humanist Conrad Celtes, entdeckte sie wieder. Er schrieb an Kaiser Maximilian: „Meine Überraschung kann ich nicht schildern, als das Werk einer germanischen Jungfrau, die in lateinischer Sprache und in Versen dichtete, vor mir lag. Wie konnte der hell glänzende Stern der deutschen Dichtung so lange hinter den Wolken der Mißachtung verborgen bleiben? Unglaublich ist es, daß ein Mädchen von zartem Alter, in seinem rauhen Vaterland und während der dunklen Barbarei erzogen, solche Dinge schrieb.“ (Georg Hauser: Herzklang der Völker. Lateinische Dichtung des Mittelalters. Deutsche Nachdichtung von Georg Hauser. Salzburg: Akademischer Gemeinschaftsverlag, 1949, S. 83).
Gottsched und Goethe rühmten sie, aber mit der Entstehung der Germanistik kamen auch die Skeptiker und Kleinredner. 1857 spricht Johannes Scherr von einer „echten und gerechten Literatin des Mittelalters, mit einem ziemlich bedeutenden Anflug von dem, was die Engländer so ganz treffend Blaustrümpfelei nennen“, nennt sie eine „gesetzte Matrone mit einem säuerlich frommen Zug um den Mund“ und schließt: „Man mag über den ästhetischen Wert dieser Nonnenpoesie urteilen, wie man wolle“… (Ebd. S. 84).
Wenn das Werk aber wirklich gut ist … muss es von einem Mann erfunden sein. 1867 erklärte der Wiener Historiker Joseph Aschbach Dichterin und Werk zu einer Fälschung Conrad Celtis’: „Eine Klosterfrau könne weder so korrektes Latein beherrscht noch die Komik und Erotik ihrer Dramen gekannt haben. Da Hrotsvit im 10. Jahrhundert nicht vorstellbar sei, sei das Werk eine Fälschung, die Dichterin erfunden. Trotz des Zirkelschlusses fand Aschbach breite Beachtung, auch wenn Mediävisten wie Georg Waitz Aschbach bald widerlegten.“ (Wikipedia)
Der Greifswalder Germanist Gustav Ehrismann hält 1918 dagegen: „Hrotswita ist in der Literatur der Zeit eine hervorragende Erscheinung. Sie besaß angeborenes Talent, sie zeigt Begeisterungsfähigkeit für ihre dichterische Aufgabe und einen gewandten Formsinn.“
Hier ein Auszug aus „Primordia coenobii Gandeshemensis“ — dem Epos von der Gründung des Klosters Gandersheim. „Wie liebt doch die Dichterin den Wald, wie sieht sie Faun und Schratt leibhaftig vor sich, wenn sie vor den arbeitenden Holzfällern jammernd die Flucht ergreifen. Vieles ist in diesem Werk „anmutig vorgetragen“.“ (Hauser a.a.O. S. 58).
Die Gründung des Klosters Gandersheim
Nach alten Berichten, vor urdenklichen Tagen,
Lang ist es her, kaum mehr recht zu sagen,
Da war unser Klosterplatz, der liebe hier,
Vom Walde umschlossen, wie heute noch wir.
Nur war alles viel dichter und stand so nah,
Daß man vor lauter Bäumen den Wald nicht sah.
Und auf diesem Platz stand ein Häuschen allein.
Am Abend eilten Männer hinein,
Müd von der Arbeit waren die,
Schweinehirten waren sie
Von Herzog Ludolfs Meierei
Und der Meier, ihr Herr, stand auch dabei.
Allerheiligen war schon nah,
Zwei Tage fehlten noch, plötzlich sah
Man in der Nacht ein Leuchten und Brennen,
Doch niemand konnte die Ursach erkennen.
Die Hirten packte ein Fürchten und Staunen,
Keiner wagte zu sprechen, zu raunen
Und keiner dieser guten Leute
Hatt’ eine Ahnung, was das bedeute.
So liefen sie zu dem Meier sein’ Haus
Und weckten ihn auf, er mußte heraus:
Meier, steh auf, auch du mußt erkennen,
Wie im dunklen Wald die Lichterlein brennen!
Vom Lager sprang der Meier schnell,
Eilte hinunter und war zur Stell.
Doch alles blieb finster, dem Dunkel gesellt,
Was früher die Lichter so taglicht erhellt.
Doch der Meier wollte das Leuchten ergründen,
Er wollte den Grund und die Ursache finden.
Die kommende Nacht ging er gar nicht schlafen,
Wenn ihn auch noch so die Sandmännlein trafen
Und sie ihm rieten: Meier, schlaf ein!
Doch jedesmal rief er: Ich darf nicht, nein!
Bald auch ward ihm des Willens Preis,
Es begann zu leuchten, erst rot, dann weiß,
Viel stärker strahlt’s als in letzter Nacht,
Da die Schweinehirten allein gewacht.
Wahrlich, das war ein glückliches Zeichen!
Schließlich mußte das Leuchten weichen
Der strahlenden Sonne, dem neuen Tag.
Die Kunde doch nicht behalten mag
Der Meier für sich und sie ward bekannt,
Die freudige, schnell im ganzen Land.
Fröhlich erzählt man’s von Mund zu Munde,
So kam auch zu Herzog Ludolf die Kunde.
Es war die Nacht vor der Heiligen Fest,
Da sprach der Herzog: Es ist das Best,
Ihr wollt mich all in den Wald begleiten!
Und er mit den vielen tät also reiten
Dorthin, wo das Leuchten zuerst man sah.
Finsternis deckte fern und nah,
Doch plötzlich, in weitem Kreis herum
Sah man Licht aufleuchten um und um,
Immer strahlender ward sein Schein,
Man sollte glauben, es könnte nicht sein,
Aber doch war’s so, denn wahrlich, es hatten
Alle Bäume ihren Schatten.
Da jubelten alle Menschen laut:
Herr Herzog Ludolf, wir bitten, schaut
Die Lichter, sie künden uns allen eben
Den Platz, wo ein Kloster sich soll erheben
Zu christlichem Dienste, von euch erbaut,
Das künden die Lichter, Herr Herzog, schautl
Es frohlockte Herr Ludolf über Gottes Zeichen,
Weil aber die Gattin dem Gatten tat gleichen,
Rief auch Frau Oda, die Zierde der Frauen:
Hier laßt uns ein heiliges Kloster erbauen!
Es begann das Schlagen, es begann das Roden,
Die Bäume fielen, es wurde der Boden
Vom Gestrüpp befreit und geebnet glatt
Und jammernd flohen Faun und Schratt.
Und schließlich ward aus dem Walde Land
So unser liebes Tal entstand.
Schon wachsen Mauern, bis die Kirche steht,
„Zu Ehren Gottes!“ sei unser Gebet.
Und bald erhoben sich die Türme
Unseres Klosters, das Gott beschirme!
(Hauser, a.a.O. S. 59-61)
Lyrikwiki zur Autorin
[…]
[186] Proxima coenobio fuerat tunc silvula, cincta
Collibus umbrosis, quibus et nos cingimur ipsis;
Necnon in silva fuerat sita parvula villa,
In qua Liudulfi soliti stabulare subulci,
[190] Intra septa viri cujusdam lassa quieti
Corpora nocturnis sua composuere sub horis,
Dum sibi commissos debebant pascere porcos.
Hic quondam, cum sanctorum venerabile festum
Esset cunctorum mox post biduum celebrandum,
[195] Sub noctis claras tenebris ardere lucernas
In silva multas ipsi videre subulci.
His visis, cuncti mirabantur stupefacti,
Quid nova splendentis vellet sibi visio lucis,
Miro nocturnas scindens splendore tenebras;
[200] Hocque domus patri narraverunt tremefacti,
Demonstrando locum, quem lux perfuderat ipsum.
Qui visu clare cupiens audita probare,
Extra tecta domus illis habitans sociatus,
Insomnem coepit noctem servare sequentem,
[205] Non claudens oculos somno suadente gravatos,
Donec succensas rursus rutilare lucernas
Aucto vincentes numero videre priores,
Ipso quippe loco, sed prisco quam prius hora;
Ominis hoc signum felicis namque serenum
[210] Ut Phoebus radios spargebat ab aethere primos,
Fit notum, fama cunctis prodente jocunda.
Nec latuisse ducem dignum potuit Liudulfum,
Aures sed citius dicto pulsaverat ejus.
Ipseque sacrata festi mox nocte futuri
[215] Observans caute, si quicquam postea tale
Caelitus ostensi monstraret visio signi,
Cum multis silvam pernox conspexerat ipsam.
Nec mora, cum nebula terras nox texerat atra,
Undique silvestris per gyrum denique vallis,
[220] In quo fundandum fuerat praenobile templum,
Ordine disposito cernuntur lumina plura;
Quae simul arboreas umbras noctisque tenebras
Clare pollentis scindebant luce nitoris.
Hinc simul astantes Domino laudem referentes,
[225] Omnes esse locum firmabant sanctificandum
Ejus ad obsequium, qui luce repleverat illum.
At dux coelesti non ingratus pietati,
Arboribus mox succisis spinisque rejectis,
Consensuque suae dilectae conjugis Odae,
[230] Omnino vallem mundari jussit eandem;
Silvestremque locum Faunis monstrisque repletum
Fecit mundatum divinis laudibus aptum.
Hinc, quos poscit opus, prius acquirens sibi sumptus,
Protinus ecclesiae construxit moenia pulchrae,
[235] Quae splendor lucis designavit rutilantis.
Hac igitur causa fuerat jam coepta secundo
Coenobii sub honore Dei constructio nostri.
[…]
(Text ohne Gewähr)
Cf. Hrotsvithae Opera. Recensuit et emendavit Paulus de Winterfeld [=Paul von Winterfeld]. Berlin: Weidmann, 1902, p. 234ff.
(https://www.dmgh.de/mgh_ss_rer_germ_34/index.htm#page/23/mode/1up)
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