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Hviezdoslav
(Pavol Országh, * 2. Februar 1849 in Vyšný Kubín; † 8. November 1921 in Dolný Kubín)
Manche Lyrikfreunde erschraken, als der große russische Dichter Joseph Brodsky (Jossif Brodskij) nach der Unabhängigleit der Ukraine ein Schmähgedicht auf das „abtrünnige“ Land schrieb; andere verbaten sich Kritik am Dichter aus politischen Gründen (Nachrichten im Archiv der Lyrikzeitung). Heute ein anderes Beispiel aus etwa umgekehrter Perspektive. Der große slowakische Dichter Hviezdoslav kritisiert den verehrten russischen Dichter Alexander Puschkin, den er ins Slowakische übersetzt hatte, wegen einer politischen Haltung.
Bei Wikipedia steht: „Sein Werk wurde noch nicht ins Deutsche übersetzt, was aber auch aufgrund seiner zahlreichen Neubildungen und Wortspiele eine große linguistische Herausforderung sein dürfte.“ Das stimmt nicht ganz. 1983 erschien in der DDR ein zweisprachiger Band der Insel-Bücherei mit Sonetten, übersetzt von Dietmar Zirnstein.
Als ich darin das folgende Sonett las, war ich erstaunt, dass die DDR-Zensur es durchgelassen hatte, weil sie bei solchen nationalen Fragen heikel war. Das Sonett steht übrigens als einziges in diesem Band auch im Original in Klammern, wie nebenbei gesprochen.
(Auch du, mein Puschkin, irrst in deinem Denken,
als ob dein Geist hier krank gewesen wär:
Du willst, daß in ein großes Russisch-Meer
die Slawen-Ströme ihre Wasser lenken,
sonst trocknete das Meer-Bett aus. Wir schenken
uns nicht den Streit mit der Natur: Denn wer
lenkt wohl die schnellen Flüsse einzeln her,
und läßt sie doch in eine Richtung schwenken?
Ich sag: der Geist steigt wie das Wasser auf
als Dunst und kehrt als Regen dann zurück;
genauso nimmt Verbindendes den Lauf
und reinigt so den Sumpf von allem Schlick.
Ins saubre Meer fließt frischer Geist zuhauf,
doch jeder Strom behält auch sein Geschick.)
Hviezdoslav: Mit dem Olivenzweig kehr bei uns ein. Sonette. Leipzig: Insel, 1983, S. 111
Eine Anmerkung zur zweiten Strophe. Die zweite Zeile, im Original ohne Enjambement, die hier mit „Wir schenken uns nicht den Streit mit der Natur“ übersetzt ist, könnte wörtlich etwa heißen: „die Natur selbst streitet mit dir“ (Google führt hier in die Irre und Deepl kann nicht Slowakisch. Ich auch nicht, aber aus der Kenntnis anderer slawischer Sprachen vermute ich das – beim Adverb bin ich unsicher, aber s tebou heißt: mit dir. Man versteht den Reimzwang, aber mir scheint die Aussage hier etwas verschoben. Nicht wir streiten mit der Natur, sondern auch die Natur streitet mit Puschkin. (Hat es deshalb der Zensor durchgelassen?)
(Nie, Puškine môj, mysľou vysoký,
ty mýlil si sa, podráždením chór)‘:
Vraj, musejú sa stiecť-zliať v ruskom mori
tie naše bystré slavian-potoky,
alebo ono – vyschne ráztoky.
Už príroda, vidz! sama s tebou sporí:
má osve ich, vždy čerstvé bytia vzory;
no trvá aj ich poťah hlboký . . .
Ja myslím: duch sa rovná vode, hore
čo parou stúpa, prší návratom;
tak, vzájomstva prúd, teká po priestore,
zhŕdajúc lieňou v bahne stojatom .. .
Nuž, vyschnúť nemusí ni ducha more,
ni potoky zájsť ducha v mori tom!)
Ebd. S. 110. Original aus dem Band Krvavé sonety (1914, Blutige Sonette)
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