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Im Februar kommt als (hoffentlich nicht nur) Greifswalder Großereignis der 400. Geburtstag von Sibylla Schwarz (24.2.1621 – 10.8.1638 unseren Kalenders (julianisch 14.2. – 31.7.). Sonst noch dies und das, wichtig der 200. Todestag von Keats (23.), vielleicht der 100. Geburtstag von Margarete Hannsmann und … Der Monat aber fängt an mit Raoul Hausmann, dem „Dadasophen“, der heute vor 50 Jahren gestorben ist.
Raoul Hausmann
(* 12. Juli 1886 in Wien; † 1. Februar 1971 in Limoges)
Für Friederike Mayröcker
Wiener Wald 1896
Als ich jung war, führte man mich in den Wiener Wald. Warum, wußten nur die Parzen, die Vater und Mutter spielten. Man kam hin durch lange Straßen mit vielen Häusern. Das war mir unbekannt, und hieß Leopoldstadt. Ich erkannte es gar nicht, denn ich wohnte am Rennweg.
Ich kam an eine sehr lange Brücke, mit einem blauen Band nach beiden Seiten. Man sagte mir, das sei die Donau und das sei tausend Meter breit. Das konnte sein, aber ich erkannte gar nichts.
Von einem Wald war keine Rede. Was sich da ausbreitete hieß der Prater.
Man kam an ein großes rundes Gestell, das war das Große Rad. Es hingen hässliche kleine Waggons daran herum.
Die Parzen beschlossen, einzusteigen. Nach einer Weile hob sich zitternd langsam das Rad mit seiner Kiste.
Der Anblick von oben war so nach allen Seiten ausgedehnt, daß ich nicht sagen konnte, welchen Eindruck das machte. Ich erkannte gar nichts.
Auf der einen Seite waren eine Unmenge Dächer, auf der anderen Seite schien ein Wald zu sein.
Die aufgeschwebte Kiste begann langsam wieder sich zu senken. Unten angelangt, stieg man aus und ging fort, um sich an einen Tisch zu setzen. Da aß man dünn geschnittene Salami und trank Bier dazu.
Als ich jung war, führte man mich in den Wiener Wald.
Warum, wußten nur die Parzen, die Eltern spielten.
Auf mich machte das keinen Eindruck, denn ich erkannte gar nichts.
Heute bin ich alt und Niemand führt mich in den Wiener Wald.
Die Parzen, die Eltern spielen, sind längst verschwunden, und ich glaube der Wiener Wald auch.
20.II.68
Aus: Raoul Hausmann, Geist im Handumdrehen. Dadasophische Poesie. Hrsg. Uta Brandes u. Michael Erlhoff.
Hamburg, Zürich: Edition Nautilus und Edition Moderne, 1989, S. 11f
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