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Worte können töten. Gerade wieder haben wir es im Fernsehen gesehen, aus Washington D.C.. Vor 60, 70 Jahren hatten es die Menschen gerade erlebt und – unterschiedliche – Schlußfolgerungen daraus gezogen. Nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben, schrieb A. B (in einem Gedicht): „Zeichen, Farben, es ist ein Spiel. Ich bin bedenklich, es möchte nicht enden gerecht.“ C: „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch / beinahe ein Verbrechen ist, / weil es soviel Gesagtes / mit einschließt.“
(Keine Gewähr für den Wortlaut, nur für den Sinn: ich zitiere beim Schreiben aus dem Gedächtnis, daher verbürgt.)
Die drei Herren heißen Adorno, Bobrowski, Celan, ich könnte mich durch das Alphabet hangeln, wenn ich mir Zeit nehme und die Bücher hinzuziehe. Ich könnte Frauen hinzunehmen, spontan fallen mir ein für A: Ausländer, Aichinger, für B: Bachmann, Busta, für C jetzt keine auf die Schnelle. Ich springe zu G, wieder ein Mann, ich schlage nach: „Die populäre Einfachheit, das lustvolle Bejahen und Spielen, das Buch als buntes Gesamtkunstwerk und die universale, über Länder und Sprachen ausgreifende Haltung: all dies, von Eugen Gomringer einst eingeleitet, ist erst heute wirklich aktuell.“ Das Zitat stammt von dem amerikanischen Germanisten Reinhold Grimm, es gilt dem Begründer der „konkreten Poesie“ und der „Konstellation“.
Eine von Gomringers Konstellationen hat vor ein paar Jahren heftiges Pro und Contra ausgelöst, eine der laut Grimm populären, einfachen, lustvollen, bunten, spielerischen, universalen Konstellationen musste von einer Berliner Hauswand entfernt werden. (Die eine Vorliebe für die einfache Erklärung haben, sagen „Cancel culture“ – als ob es so einfach wäre.)
Grimm, als er das schrieb, es war 1970, kritisierte eine Meinung Helmut Heißenbüttels (der in den Worten das kritische Potential betonte) und erlag selber einer utopischen Verzeichnung, als er glaubte, „nun“ sei die Zeit, die Konstellationen unideologisch als einfaches, fröhliches Spiel zu nehmen, als das sie vielleicht gemeint waren. Er übersah, dass Worte, wie lustvoll-spielerisch man sie auch montiert haben kann, mit Bedeutungen einhergehen und deshalb je verschieden interpretierbar sind. Die StudentInnen, die jene Debatte um Gomringers kleine Konstellation in spanischer Sprache auslösten, führten es selbst vor in ihrer ersten Stellungnahme: das Gedicht war ja schon eine ganze Zeit an der Wand präsent, aber erst jetzt in den Semesterferien hätten sie sich die Zeit genommen und das Gedicht interpretiert mit dem bekannten Resultat. (Sie hatten vielleicht nicht gelernt, dass auch die Interpretation ein Spiel ist.)
Heute, zum 96. Geburtstag Gomringers, hier eine andere Konstellation aus den 50er Jahren, erschienen in dem Band „33 konstellationen“ (1960).
EUGEN GOMRINGER
sonne mann
mond frau
sonne frau
mond mann
sonne mond
mann frau
kind
Es sind nur vier Worte, vier Substantive, die in drei Zeilenpaaren unverbunden nebeneinandergestellt und permutiert werden und dann ein fünftes Substantiv „gebären“.
„Sprich im ganzen Satz“, sagen Lehrer vielleicht noch immer zu Kindern, dabei weiß jeder aus der Alltagsrede und gegebenenfalls aus Poesie, dass Rede auch ohne ganze Sätze funktioniert. Wenn wir die Wörter Sonne und Mann unverbunden und in Kleinschreibung finden, erkennen wir blitzschnell, a) dass es trotz Kleinschreibung Substantive sind und b) dass man das als verkürzte Definition lesen kann: Die Sonne ist ein Mann, der Mond ist eine Frau. Wozu 10 Wörter, wenn zwei bzw. vier genügen? Aber was stimmt nun. Die Sonne ist ein Mann? Im Spanischen ja, im Deutschen nein; und beim Mond gerade anders herum.
Soweit eine mögliche Interpretation. Ich glaube nicht, dass es die einzig mögliche ist. Das ist ja gerade der Spaß an (verkürzter oder poetischer) Rede, dass man verschiedenes herauslesen kann. Oder der Spaß hört auf, wenn man eine der möglichen Interpretationen als einzig richtige nimmt und die Schlussfolgerung zieht, also zum Beispiel irgendeine Tendenz herausliest und anschließend das Ergebnis der eigenen Interpretation bekämpft. Dieses Gedicht, heißt es dann, ist friedens- oder gesellschafts- oder gottes- oder männer- oder frauen- oder konsum- oder – …-feindlich: Wand ab! Kopf ab! Es geschah oft und wird wieder geschehen. Am 6. August 1992 wurde der iranische Dichter Fereydun Farrochsad im Exil in Bonn erstochen und enthauptet, ich nehme das Beispiel, weil ich gerade gestern davon las.
In Gomringers Konstallation aber kreisen die Wörter friedlich umeinander, bis das Kind da ist.
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