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Hölderlinjahr, Beethovenjahr, Hegeljahr… und Celanjahr. 100. Geburtstag im November (!), 50. Todestag heute!* Ich konnte mich nicht für ein Gedicht entscheiden und beschloss, etwa fünf an fünf Tagen zu präsentieren. Es sollten nicht zu bekannte und trotzdem mich bewegende Gedichte sein, Gedichte verschiedener Arten womöglich. Ich beginne mit
ARS POETICA 62 Das große Geheimnis - beim Bärlapp, da stands, auf der Wiesen. Ich hätte es pflücken können, leicht, mit zwei Zehen. Aber ich hatte zu tun, ich brachte Hyperion die Sprache bei, auf die es uns Hymnikern ankam. Er lernte gerne und brav. Beim Wort Hure wuchs ihm der braune Lorbeer schnell um Taktstock und Klaue: er hatte was man zum Reimen braucht, nach Pindar und einigen Ungarn, Finnen und Pruzzen. In seinem Vers stand die Zeit, im Licht ihrer schwäbischen Stunden, schnurrbärtig, jung und gesamtstumm. Sinnig, hört ich mich sagen, sinnig meinem andern, gestern im Schwarzwald halbierten Nachbarn, dem Mann mit der Dohle (und der vernähten Zäsur!) fehlte noch dieses Schatzwort. (Sonst wär auch die zweite Hälfte gestorben und aus- leg- bar.)
Aus: Paul Celan, Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hrsg. u. kommentiert von Barbara Wiedemann. S. 473f.
Das Gedicht entstand am 2. und 3. Dezember 1962. An diesen beiden Tagen übertrug er auch ein Gedicht von Ossip Mandelstam: „Den steigenden Zeiten“. Eine frühere Fassung hatte als Untertitel „Eine Marginalie“. Natürlich spukt Hölderlin im Gedicht, der schwäbische Hymniker. Vielleicht auch Heidegger (mit der vernähten Zäsur) und manche Widersacher Celans in der unseligen Gollaffäre. Aber ich glaube, man kann sich in ihm bewegen auch ohne alles aufzudröseln. Celan hat es nicht selbst veröffentlicht.
*) Das Gedicht des Tages ist normalerweise Nacht-, Frühstmorgenarbeit. Diesmal war der Redakteur zu schlaftrunken und verdrehte die Daten. Wofür ich Celanfreunde um Entschuldigung bitte. Das Jahr ist noch lang, genug Zeit, Hölderlin-, Celan-, expressionistische oder einfach Gedichte zu lesen. Zum Beispiel jeden Morgen hier.
Schönes Gedicht🙂👍
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