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Vor ein paar Jahren saß ich auf dem Fußweg (also an einem Tisch dortselbst) vor einem New Yorker Bistro. Eine vorbeigehende Dame blieb stehn und sprach zu mir: „Ich weiß nicht, wer Sie sind, but you have a wonderful beard“. Mir lag auf der Zunge, mit Emily Dickinsoin zu antworten: „I’m nobody – who are you? Are you nobody too?“ Aber ich fürchtete sie zu irritieren.
Jedenfalls heute mehrere deutsche Nachbildungen jener Strophe.
Ich bin niemand – wer bist du?
Gleichfalls niemand? – Dann Glück zu!
Dann sind wir ein Paar – Halt dicht!
Schau: die andern woll‘n uns nicht.
Aus: Julius Bab: Amerikas neuere Lyrik. Ausgewählte Nachdichtungen. Bad Nauheim: Christian-Verlag, 1953, S. 50
Ich bin Niemand! Wer bist du?
Noch ein Niemand mehr dazu?
Schon sind wir ein Paar im Land!
Still, sonst werden wir verbannt!
Deutsch von Lola Gruenthal aus: Emily Dickinson: Guten Morgen, Mitternacht. Gedichte und Briefe. Zweisprachig. Zürich: Diogenes, 1977, S. 23
Ich bin Niemand! Wer bist du?
Bist auch – Niemand – du?
Dann sind wir zwei ein Paar?
Sag nichts – Zeitung – Gefahr!
Deutsch von Gertrud Liepe aus: Emily Dickinson: Gedichte. Englisch und Deutsch. Stuttgart: Reclam, 1970, S. 45
Niemand bin ich! Und du?
Ein Niemand – noch dazu?
Dann sind wir zwei im Land!
Still! Gleich wird man bekannt!
Deutsch von Gunhild Kübler aus: Emily Dickinson: Sämtliche Gedichte. Zweisprachig. München: Hanser, 2015, S. 215
Und im Original:
I’m Nobody! Who are you?
Are you – Nobody – too?
Then there’s a pair of us!
Don’t tell! they’d advertise – you know!
Ich versuchs auch mal ausm Handgelenk. Ich nehme den Paarreim raus, warum? Dickinson arbeitet oft mit fast versteckten Halbreimen, z.B. Auslautreim. Door reimt auf air, sun auf morn, grass auf face, broad auf bread, glow auf through, time auf thumb, die Beispiele sind Legion. Wo es sich aufdrängt/anbietet, dann auch mal be auf me oder wide auf beside oder you auf too, aber das eher selten. Sonst wechselt der Reim auch mal von Vers zwei + vier auf eins + drei, oder bleibt ganz weg. Kurz, auf wenige Dichter paßt der Reim von Karl Kraus so gut wie auf Dickinson: Der Reim ist nur der Sprache Gunst / nicht nebenher noch eine Kunst.
Der Zauber dieses Gedichts beruht trotzdem auf dem platten reinen Paarreim you/too. Er ist nicht ins Deutsche übertragbar, der Versuch führt zu Krampf wie in den meisten der hier vorgestellten Übertragungen.
In den acht Versen dieses Gedichts ist es so:
you – too – us – know
somebody – frog – June – Bog
Zwei reine Reime, aber wie beiläufig, mal Paarreim, dann Kreuzreim. (Man kann auch too / know als Halbreim auffassen, sie benutzt oft Auslautreime, die auf einen beliebigen Vokal gehen, alle Vokale gelten gleich: low – typify, glow – now, way – sea, see – eye, bow – now, go – too…) Eine Fundgrube für Reimstudien nebenbei!
Wenn es nur verkrampft geht, warum nicht erst mal ganz weglassen? Ich plaziere beiläufig eine andere Art Halbreim, die Assonanz, auf Verse drei und vier (und gleich noch einen Schlagreim-Halbreim in Vers vier, begünstigt durch die Sprechpause zwischen den Wörtern: psst / sonst. Nicht ideal, ideale Lösungen gibt es nicht (bessere sind natürlich immer möglich).
Ich bin Niemand! Und du?
Bist du auch – Niemand?
Dann sind wir schon zwei!
Aber psst! – sonst – plaudern sie gleich.
I’m Nobody! Who are you?
Are you – Nobody – too?
Then there’s a pair of us!
Don’t tell! they’d advertise – you know!
ich versuchs auch mal 🙂
meine Übersetzung:
ich bin niemand. wer bist du?
auch ein niemand? dann, nur zu
sind wir schon zwei davon da.
nicht sagen! sie verbreitens sonst, du kennst es ja.
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