Zur Entzifferung

Kaum ein anderer poetischer Text aus der Wendezeit zwischen 1890 und 1910 hat so viele Exegeten und Übersetzer, aber auch Nachahmer und Parodisten auf den Plan gerufen wie der Würfelwurf [Stéphane Mallarmés] – die oft beschworene „Dunkelheit“ (wenn nicht gar „Unverständlichkeit“) des Werks scheint demnach eher anregend als abschreckend gewirkt zu haben. In zahlreichen Sprachen liegen Hunderte von einschlägigen Abhandlungen, Dutzende von Nachdichtungen und appropriativen Überschreibungen vor, lauter Versuche, dem Würfelwurf mit unterschiedlichen Mitteln und Methoden einen Sinn abzugewinnen, wenn nicht gar den Text auf eine – und nur eine – Bedeutung festzulegen, die der Autor vorgefasst und sorgsam verschlüsselt haben soll, um ihn voreiligem Verstehen zu entziehen.

Das internationale Syndikat der Mallarmé-Forschung besteht, grob gesagt, aus zwei kontroversen Lagern, von denen das eine den Dichter als einen Hermetiker qualifiziert, dessen gleichsam sakrale Texte bewusst auf Unverständlichkeit angelegt seien und deshalb auch keiner Erklärung bedürften, derweil die Vertreter des anderen Lagers davon ausgehen, dass es sich beim Würfelwurf um ein vorsätzlich verdunkeltes Werk handle, das den Code zu seiner Entschlüsselung in sich trage, mithin also durchaus entzifferbar sei – ein verriegeltes Schloss, das sich problemlos öffnen ließe, sobald man den fehlenden Schlüssel dazu entdeckt haben würde.

Das heißt: Entweder hat der Würfelwurf als ein Rätsel zu gelten, für das es keine Lösung geben soll und geben kann, oder man hat es mit einem eigens verrätselten Text zu tun, dessen Lektüre die Lösung erbringen kann und erbringen muss, eine Lösung, die naturgemäß die einzige und auch die einzig richtige wäre. An Lösungsversuchen mangelt es nicht. Seit der postumen Publikation der Fassung „letzter Hand“ (1914) sind unzählige Vorschläge zur Dechiffrierung des Poems eingebracht worden, und immer wieder – vorab in den 1980er-Jahren, als der Strukturalismus neue Lesarten ermöglichte – glaubte man, den inhärenten Code des Würfelwurfs geknackt zu haben. Doch auch diese bisweilen ingeniös bewerkstelligten Auslegungen hielten kritischer Überprüfung nicht stand, und wenn nun neuerdings der französische Philosoph Quentin Meillassoux mit dem dezidierten Anspruch auftritt, den Schlüssel zu Mallarmés Jahrhundertpoem gefunden und damit dessen Lektüre vollendet zu haben, ist darauf zunächst mit Skepsis zu reagieren, obwohl – oder weil?! – die These des Autors wie auch deren geistreiche Herleitung bereits weithin als „Sensation“, ja als epochale „Wende“ der Mallarmé-Lektüre belobigt werden. Unter dem Titel Die Zahl und die Sirene (Le nombre et la sirène, 2011) liegt Meillassoux‘ Arbeit inzwischen auch in deutscher Übersetzung vor.

(…)

Der Exeget beantwortet die von ihm selbst gestellte rhetorische Frage mit hochgemuter Gewissheit: „Das Ergebnis der Scharade der Zahl ist jetzt eindeutig bestimmt: die Zahl des Würfelwurfs ist keine andere als 707.“ „Keine andere!“ – „Keine andere?“ „Endlich ist der Würfelwurf entziffert!“ So lautete eine Schlagzeile des Pariser Nouvel Observateur nach Erscheinen von Quentin Meillassoux‘ Untersuchung (…)

So oder anders: Quentin Meillassoux regt mit seiner brillanten Studie nachhaltig dazu an, die Frage nach Sinn und Bedeutung dichterischer Texte erneut zu bedenken; die Frage auch, inwieweit der jeweilige Autor für das „Sagen“ und die „Aussage“ solcher Texte zuständig ist und welchen eigengesetzlichen oder eigendynamischen Anteil die Sprache selbst daran hat. Es ist die Frage, über der einst Ferdinand de Saussure bei seinen Anagrammstudien ins Grübeln geraten ist: Sind die in altrömischen und mittelalterlichen Dichtungen besonders häufig auftretenden Anagramme auktorial gewollt oder handelt es sich dabei um Zufallsprodukte innersprachlicher Prozesse? Die Tatsache, dass er dazu keine Antwort finden konnte, veranlasste de Saussure schließlich zum Verzicht auf seine diesbezüglichen Forschungen. Wenn Meillassoux den geheimen Code des Würfelwurfs tatsächlich entdeckt haben sollte, wäre damit auch die Bedeutung des Poems geklärt, mithin das, was der Autor bewusst als verschlüsselte „Aussage“ in den Text investiert hat. Doch damit wäre keineswegs auch der Sinn des Werks erfasst, denn dieser ist nicht Sache des Autors, sondern des Rezipienten – der Sinn ist nicht im Text mitgegeben, er muss aus dem Text entwickelt werden. (…)

Stéphane Mallarmé selbst, „der Dunkle“, war’s, der einst dezidiert festhielt, es sei für den Dichter eine Schande, verstanden zu werden. Die Entzifferung seines Würfelwurfs hätte ihn demnach wohl eher verstimmt denn erfreut. Der Sinn seines Werks ist damit freilich noch lange nicht erschöpft. Weitere Lesarten sind gefragt.  / Felix Philipp Ingold, Volltext 1/2016

Quentin Meillassoux, Die Zahl und die Sirene (Eine Entschlüsselung von Mallarmés „Würfelwurf“). Aus dem Französischen von Giulia Agostini. Diaphanes Verlag, Zürich/ Berlin 2013; eine mündliche Darlegung seiner These bietet der Autor in englischer Sprache auf https://www.youtube.com/ watch?v=vmcIF2etD4A

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