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Zagajewski ist auch am nächsten Tag [bei der Kölner „Poetica“] mit von der Partie, wenn es im Alten Senatssaal um „Poesie und Politik“ geht. Und zwar anhand eines Skandalgedichts, das Exilrusse Joseph Brodsky (1940-1996) in Amerika „Auf die Unabhängigkeit der Ukraine“ schrieb.
Wie konnte der Nobelpreisträger und Kreml-Kritiker 1991 die Ukrainer als Hinterwäldlervolk von „Kürbismelonen“ verspotten? Zwar blieb der Text unpubliziert, reüssiert jedoch in heutigen Kriegszeiten an russischen Stammtischen. Für Köln ausgesucht hat ihn der russische Philosoph Michail Ryklin, der Putins Autokratie mit dem Tod seiner Frau bezahlte: Die Künstlerin Anna Altschuk nahm sich nach einem nie verkrafteten Schauprozess das Leben, ein Drama, das der Witwer im Buch „Über Anna“ festhielt. In Brodskys Gedicht sieht er die Jekyll/Hyde-Verwandlung vom elitären Einzelgänger zum „Sprachrohr einer tödlich beleidigten imperialen Autorität“.
Zagajewski liest den anrüchigen Text eher „als Rollengedicht, in dem sich Brodsky als russischer Ganove inszenierte“. Spiel statt Beleidigung? Michael Krüger hört hier Brodskys „Bauchstimme“ heraus und bedauert, dass der Dichter jetzt für diesen bewusst unveröffentlichten Missgriff „als russischer Superpatriot in Anspruch genommen wird“.
Hintersinnig meint Lars Gustafsson, der Fall lehre zweierlei: „Wir haben keine Kontrolle über die Zukunft unserer Texte. Und jeder Mensch enthält seine eigene Negation.“ Marcel Beyer indessen springt zornig dem toten Kollegen bei und findet „diese ganze Tribunalsituation fürchterlich. Denn jeder darf jeden Scheiß schreiben, den er will“.
Auch dies bleibt nicht ohne Widerspruch, wobei sich der souveräne Moderator Günter Blamberger über solche Kontroversen freut. / Axel Hill und Hartmut Wilmes, Kölnische Rundschau
lieber marcel beyer, den zorn verstehe ich nicht ganz (ich war nicht dabei, ich urteile nur nach dem bericht). natürlich, jeder darf jeden scheiß schreiben. aber wieso sollte das nicht auch jeder scheiße finden dürfen? keine heiligen dichter bitte.
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