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Aus der Zeitschriftenschau Michael Brauns, poetenladen (in der es soviel Lyrik gibt, daß ich sie auf zwei Nachrichten verteile):
Die Revolution der deutschen Lyrik begann im Mai 1916 mit einer Absage an den Journalismus. Poesie, so orakelte damals der Dadaist und Mystiker Hugo Ball, müsse sich fernhalten von einer „durch den Journalismus verdorbenen und unmöglich gewordenen Sprache“. Man dürfe nicht mehr „aus zweiter Hand“ dichten und also keine Wörter und Sätze mehr verwenden, die man nicht „funkelnagelneu“ für die Poesie erfunden habe. „Man ziehe sich“, so Ball weiter, „in die innerste Alchimie des Wortes zurück, man gebe auch das Wort noch preis und bewahre so der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk.“
Dieser Appell war das Gründungsereignis der deutschen Literaturrevolution, deren Nachwirkungen noch in den post-avantgardistischen Manifesten der unmittelbaren Gegenwart zu spüren sind. Im Juli-Heft der Zeitschrift „Merkur“ hat kürzlich der Literaturwissenschaftler Hannes Bajohr eine Linie gezogen von den Experimenten des Dadaisten Tristan Tzara bis hin zu den Zufalls-Poetiken einiger heutiger Dichter.
Tristan Tzara hatte 1920 mit aus dem Hut gezogenen Wort-Schnipseln Gedichte improvisiert. Das ist nicht weit entfernt von den Versuchen der sogenannten „flarf“-Dichter, die derzeit aus der Ergebnisvorschau der Suchmaschine Google Gedichte komponieren.
In den aktuellen Ausgaben der Literaturmagazine „randnummer“ und „Mütze“ können wir nun einige faszinierende Exempel einer sprachalchemistischen Dichtung im Sinne Hugo Balls entdecken. Es sind in bestem Sinne poetische Grenzüberschreitungen zwischen den Sprachen und Gattungen, die hier vorgeführt werden. Das neue Sonderheft der „randnummer“ bietet ein Gemeinschaftsunternehmen zusammen mit der in Prag erscheinenden Zeitschrift Psí víno. Hier werden insgesamt 14 Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Tschechien und der Slowakei vorgestellt, die zum größten Teil der experimentellen Poesie zuzurechnen sind; Dichterinnen wie Uljana Wolf, Dagmara Kraus oder Simone Kornappel – oder die in Deutschland bislang völlig unbekannte slowakische Performerin Zuzana Husárová. In einem sehr entspannten Begleitwort, das völlig frei ist von dem in diesem literarischen Sektor oft epidemischen Dogmatismus, verweist Michael Gratz auf die im Sinne von Hugo Ball „funkelnagelneuen“ Erweiterungen der klanglichen, rhythmischen und syntaktischen Mittel, die diese „neue Poesie“ anstrebt. (…)
Diese [bezogen auf Dagmara Kraus‘ „kleine grammaturgie“] Utopie eines polyglotten Reichs der Dichtung erträumt auch die aktuelle Nummer 8 der Literaturzeitschrift „Mütze“. Auch in diesem Heft ist Dagmara Kraus vertreten, diesmal mit zwei sogenannten „Fatrasien“, das sind mittelalterliche Formen absurder Poesie, die vor einiger Zeit von Ralph Dutli wiederentdeckt worden sind. In der neuen „Mütze“ sind es dann Bertram Reinecke und Tobias Roth, die zu aufregenden Expeditionen zwischen Antike, Renaissance und Moderne starten. Bertram Reinecke präsentiert Fragmente der legendären antiken Dichterin Sappho und ihres Kollegen Alkaios, die wohl aus den Übersetzungen des deutsch-russischen Universalgelehrten Jacob von Stählin stammen. Tobias Roth, der junge Münchner Dichter, Musikwissenschaftler und Renaissance-Spezialist, überträgt ziemlich frivole Poeme des italienischen Humanisten Giovanni Pontano aus dem Lateinischen. Das Glanzstück in dem neuen „Mütze“-Heft ist der Aufsatz des Zürcher Literaturwissenschaftlers Hans-Jost Frey „Sisyphus und das Plagiat“. Hier gelingt Frey das Kunststück, das Plagiat aus dem Kontext des kriminellen Textdiebstahls zu lösen und nicht eine moralisierende, sondern eine strikt ästhetische Sicht auf das Verhältnis von Original und Plagiat zu entwickeln. Am Beispiel eines Baudelaire-Gedichts, das im Grunde nur zwei Gedichte von Kollegen zu einem eigenen Gedicht montiert, stellt Frey die Grenzziehung zwischen Original und Wiederholung in Frage: „Die eigentlich wichtige Frage ist nicht, wem ein Text gehört, sondern die…noch elementarere, ob ein Text überhaupt ein Besitz sein kann.“ (…)
Displej.eu: Zeitgenössische Poesie aus Tschechien, Deutschland und der Slowakei.
Randnummer (Sonderheft) in Zusammenarbeit mit Psí víno
c/o Peter Dietze, DISPLEJ.eu, Fehmarner Str. 23, 13353 Berlin. 240 Seiten, ca. 15 Euro.
Mütze, Heft 8
Obere Steingrubenstrasse 30, CH-4500 Solothurn, 52 Seiten, 8 Euro.
Merkur, Heft 7/2014 und 12/2014
Mommsenstr. 27, 10629 Berlin, 96 Seiten, je 12 Euro.
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