40. Neue Poesie 1916 / 2014

Aus der Zeitschriftenschau Michael Brauns, poetenladen (in der es soviel Lyrik gibt, daß ich sie auf zwei Nachrichten verteile):

Die Revolution der deutschen Lyrik begann im Mai 1916 mit einer Absage an den Journa­lismus. Poesie, so orakelte damals der Dadaist und Mystiker Hugo Ball, müsse sich fern­halten von einer „durch den Journa­lismus verdor­benen und unmög­lich geworde­nen Sprache“. Man dürfe nicht mehr „aus zweiter Hand“ dichten und also keine Wörter und Sätze mehr verwenden, die man nicht „funkel­nagel­neu“ für die Poesie erfunden habe. „Man ziehe sich“, so Ball weiter, „in die innerste Al­chimie des Wor­tes zurück, man gebe auch das Wort noch preis und bewahre so der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk.“

  Dieser Appell war das Gründungs­ereignis der deutschen Literatur­revolution, deren Nach­wirkungen noch in den post-avant­gardis­tischen Mani­festen der un­mit­tel­baren Gegen­wart zu spüren sind. Im Juli-Heft der Zeit­schrift „Merkur“ hat kürz­lich der Literatur­wissen­schaftler Hannes Bajohr eine Linie gezo­gen von den Experi­menten des Da­daisten Tristan Tzara bis hin zu den Zufalls-Poetiken einiger heutiger Dichter.

 Tristan Tzara hatte 1920 mit aus dem Hut gezo­genen Wort-Schnipseln Gedichte improvisiert. Das ist nicht weit entfernt von den Ver­suchen der so­ge­nann­ten „flarf“-Dichter, die der­zeit aus der Er­gebnisvorschau der Such­maschine Google Gedich­te kompo­nieren.

 In den aktuellen Ausgaben der Literaturmagazine „randnummer“ und „Mütze“ können wir nun einige faszi­nie­rende Exempel einer sprach­alche­misti­schen Dichtung im Sinne Hugo Balls ent­decken. Es sind in bestem Sinne poeti­sche Grenz­über­schrei­tungen zwischen den Sprachen und Gattungen, die hier vorge­führt werden. Das neue Sonder­heft der „rand­nummer“ bietet ein Ge­meins­chafts­unter­nehmen zu­sam­men mit der in Prag er­schei­nenden Zeitschrift Psí víno. Hier werden ins­gesamt 14 Auto­rin­nen und Au­toren aus Deutsch­land, Tschechien und der Slowa­kei vorge­stellt, die zum größten Teil der experi­mentel­len Poesie zuzu­rechnen sind; Dichte­rin­nen wie Uljana Wolf, Dagmara Kraus oder Simone Korn­ap­pel – oder die in Deutsch­land bislang völlig unbe­kannte slowa­kische Perfor­merin Zuzana Husárová. In einem sehr ent­spannten Begleit­wort, das völlig frei ist von dem in diesem litera­rischen Sektor oft epide­mischen Dogma­tismus, ver­weist Michael Gratz auf die im Sinne von Hugo Ball „funkel­nagel­neuen“ Erweite­rungen der klang­lichen, rhythmi­schen und syntak­tischen Mittel, die diese „neue Poesie“ anstrebt. (…)

Diese [bezogen auf Dagmara Kraus‘ „kleine grammaturgie“] Utopie eines polyglotten Reichs der Dichtung erträumt auch die aktuelle Nummer 8 der Literatur­zeit­schrift „Mütze“. Auch in diesem Heft ist Dagmara Kraus vertreten, diesmal mit zwei sogenannten „Fatrasien“, das sind mittel­alter­liche Formen absurder Poesie, die vor einiger Zeit von Ralph Dutli wieder­ent­deckt worden sind. In der neuen „Mütze“ sind es dann Bertram Reinecke und Tobias Roth, die zu auf­regenden Expeditionen zwischen Antike, Renais­sance und Moderne starten. Bertram Reinecke prä­sentiert Fragmente der legendären antiken Dichterin Sappho und ihres Kollegen Alkaios, die wohl aus den Über­setzungen des deutsch-russi­schen Univer­sal­gelehrten Jacob von Stählin stammen. Tobias Roth, der junge Münchner Dichter, Musik­wissen­schaftler und Renaissance-Spezialist, überträgt ziemlich frivole Poeme des italie­nischen Humanisten Giovanni Pontano aus dem Lateini­schen. Das Glanz­stück in dem neuen „Mütze“-Heft ist der Aufsatz des Zürcher Literatur­wissenschaft­lers Hans-Jost Frey „Sisyphus und das Plagiat“. Hier gelingt Frey das Kunst­stück, das Plagiat aus dem Kontext des krimi­nellen Text­dieb­stahls zu lösen und nicht eine morali­sierende, sondern eine strikt ästhetische Sicht auf das Verhältnis von Original und Plagiat zu entwickeln. Am Beispiel eines Baudelaire-Gedichts, das im Grunde nur zwei Gedichte von Kollegen zu einem eigenen Gedicht montiert, stellt Frey die Grenz­ziehung zwischen Original und Wieder­holung in Frage: „Die eigent­lich wichtige Frage ist nicht, wem ein Text gehört, sondern die…noch elemen­tarere, ob ein Text über­haupt ein Besitz sein kann.“ (…)

Displej.eu: Zeitgenössische Poesie aus Tschechien, Deutschland und der Slowakei.
Randnummer (Sonderheft) in Zusammenarbeit mit Psí víno
c/o Peter Dietze, DISPLEJ.eu, Fehmarner Str. 23, 13353 Berlin. 240 Seiten, ca. 15 Euro.

Mütze, Heft 8
Obere Steingrubenstrasse 30, CH-4500 Solothurn, 52 Seiten, 8 Euro.

Merkur, Heft 7/2014 und 12/2014
Mommsenstr. 27, 10629 Berlin, 96 Seiten, je 12 Euro.

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