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Ein Dichter wie Rainer Schedlinski, der in den späten 1980er Jahren als kritischer Kopf der sogenannten „Prenzlauer Berg-Connection“ galt, hat in den Jahren nach der Wende seinen literarischen Kredit vollkommen verspielt. Seit 1992 ruchbar wurde, dass er als inoffizieller Mitarbeiter den Staatssicherheitsdienst der DDR mit brisanten Informationen über seine Dichterkollegen versorgte, hat er innerhalb der Dichter-Community keine Freunde mehr. In der Zeitschrift „Zonic“, einem ketzerisch aufgelegten Periodikum für dissidente Subkulturen aus Osteuropa, ist nun ein höchst lesenswerter Beitrag zur bizarren Neupositionierung Schedlinskis erschienen. Henryk Gericke analysiert in der aktuellen Ausgabe No 20 von „Zonic“ die Lebenswende Schedlinskis, der sich Mitte der 1990er Jahre aus dem Galrev Verlag zurückzog und anschließend eine Firma für thermoelektrische Generatoren gründete. Schedlinski, einst ein bekennender Strukturalist, beschäftigte sich fortan mit Kühlkörpern, Wärmeleitmitteln, Messgeräten und sonstigem Zubehör der thermoelektrischen Gerätschaften. Als Dichter kultivierte Schedlinski einst eine kühle, bis zur Tonlosigkeit und Indifferenz ausgenüchterte Gedichtsprache. Nun ist aus dem Stasi-Spitzel nicht nur ein abgeklärter Einzelhändler geworden. Nun stehen wir auch dem schönen Paradoxon gegenüber, dass sich „der Dichter eines kühlen Sprechens dem Handel von Wärmeleitmitteln widmet.“ Auch wenn er sich nicht mehr auf Poesie versteht, so doch zumindest auf Business.
Michael Braun, Zeitschriftenlese
Zonic, No. 20 (2013) Almanach für kulturelle Randstandsblicke & Involvierungsmomente.
Ventil Verlag, Mainz 2013, Boppstr. 25, 55118 Mainz. 224 Seiten, 18 Euro.
Naja, man kann es auch anders zuspitzen: Das was damals eingefordert wurde, hat er im kleinen getan, nämlich sich für einen ökologischen Umbau stark gemacht. Die Formulierung „mit Wärmeleitern handeln“ verdeckt ein wenig, dass die Dinger entwickelt werden mussten und dass es dabei zunächst um eine Nische der alternativen Energieerzeugung ging. Und Kühle hin, Wärme her, interessant ist die Temperaturdifferenz. Man hätte auch formulieren können: Während er damals mit seiner unterkühlten Sprache aus der Temperaturdifferenz zum üblichen lyrischen Sprechen Energie zog, nutzt er jetzt kleine Temperaturdifferenzen, um elektrische Energie zu erzeugen. Irgendwie hat es mir immer eingeleuchtet, dass einem Strukturalisten ingenieurtechnische Expertise, die man in diesem Feld zweifellos braucht, eher zugänglich ist, als, sagen wir einem Hermeneutiker. (Man darf ja seine Stasitätigkeit und deren Rechtfertigung dennoch ablehnen)
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