95. Elisabeth Borchers gestorben

Noch bei Luchterhand erschien 1961 ihr erster eigener Gedichtband, und schon das allererste Gedicht in diesem Buch löste, als es in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vorabgedruckt wurde, einen kleinen Skandal in Form von protestierenden Leserbriefen aus. Man las:

eia wasser regnet schlaf
eia abend schwimmt ins gras
wer zum wasser geht wird schlaf
wer zum abend kommt wird gras
weißes wasser grüner schlaf
großer abend kleines gras
es kommt es kommt
ein fremder

Elisabeth Borchers ist es mit diesem Gedicht ähnlich ergangen wie Paul Celan mit der „Todesfuge“ und Günter Eich mit der „Inventur“: Man hat sie mit diesem Gedicht identifiziert und ihr Werk auf dieses Gedicht reduziert. Natürlich sträuben sich die Autoren mit guten Gründen gegen eine solche Festlegung und Einengung auf nur eines Ihrer Gedichte. Elisabeth Borchers wollte dieses wunderbare surrealistische Gedicht zeitweise sogar aus der Sammlung ihrer frühen Texte eliminiert sehen, die Jürgen Becker 1976 herausgegeben hat. Es erschien dann doch wieder, und ich denke: zu Recht. In diesem Gedicht verbinden sich Partikel des Märchens, des Shantys, der magischen Zauberformel mit Elementen der Realität (Wasser, Gras, Abend) zu einem sinnverwirrenden Gebilde, zu einem Protokoll des Zustands zwischen Tag und Nacht, zwischen Wachen und Traum, in dem die Grenzen zwischen der Wirklichkeit des Bewussten und der des Unterbewussten verschwimmen. Gedichten ist es erlaubt, so schrieb Elisabeth Borchers damals zum Abschluss der heftigen Debatte, „der Realität – dem, was wir Realität zu nennen gewohnt sind und was doch nur unser Dahinleben und Daherreden ist – zu entfliehen, ihre eigene unnütze Realität zu finden und sei es die des Traums, in dem sich alles auf den Kopf stellt, und in dem doch alles geborgen ist in einer süßen Surrealität“. (…)

So vielseitig wie die Töne sind die Formen und Themen ihrer Gedichte. Auf pure Botschaften, auf bloße Zugehörigkeiten lassen sie sich jedoch nie festlegen. Weder für eine ökologische noch für eine feministische, weder für eine experimentell-artistische noch für eine agitatorisch-politische Position können sie in Anspruch genommen werden, obwohl alle diese Dimensionen der Erfahrungswirklichkeit in ihren Gedichten begegnen. Sie wollen nicht mitreden. Sie lassen sich eher als Gegenreden gegen voreilige Übereinkünfte verstehen. Solche Gegenreden auf die einfachste und direkteste, zugleich aber auch bildkräftige und pointierte Formel zu bringen – das ist vielleicht die größte poetische Leistung von Elisabeth Borchers. Am Mittwochabend ist sie mit siebenundachtzig Jahren in Frankfurt gestorben. / Wulf Segebrecht, FAZ

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