102. Warum ist die moderne Lyrik so schlecht?

Von  Ron Charles, Washington Post 20.6. (sic)

Am Freitag werden Amerikas große Dichter aufwachen und sehen, daß jemand die Bäume mit Klopapier umwickelt und FEIGLING an ihre Tür geschrieben hat.

Eine 6000-Wort-Jeremiade über den Zustand der heutigen Lyrik erscheint in der Juliausgabe von Harper’s. Mark Edmundson, Englischdozent an der Universität Virginia, tadelt unsere Barden, weil sie „schräg, zweideutig, auf schmerzhafte Weise selbstbezüglich … ängstlich, klein, auf dem Rückzug … immer privater, idiosynkratischer und zurückgezogener“ seien. Um nur den Anfang zu zitieren. Ihre Lyrik sei „manchmal zu hermetisch, um sie mit etwas wie Verstehen anzuhören“.

Und er nennt alle Namen. Paul Muldoon: nach jahrelanger Lektüre habe er immer noch keine Ahnung, worum es ihm eigentlich gehe. Jorie Graham ist „ominös“ (portentous). Anne Carson mag Kanadierin sein, aber das entschuldigt sie nicht; ihre Gedichte seien „so dunkel, manieristisch und privat, daß man (oder zumindest ich) ihren Windungen nicht folgen kann“. John Ashbery „sagt wenig“ in seinen „unaufhörlichen Einhegungen“ (hedging).

Sharon Olds, Mary Oliver, Charles Simic, Frank Bidart, Robert Hass, Robert Pinsky — alle werden in Edmundsons Büro gebracht und runtergeputzt. Ihre Gedichte seien „in ihrer Art gut“, gibt er zu. „Nur sind sie nicht gut genug. Sie stillen keines Lesers Durst nach Bedeutung über die individuelle Erfahrung des Dichters hinaus“ und „erhellen unsere gemeinsame Welt nicht“.

Das ist seine Hauptbeschwerde: die heutigen Dichter trauten sich nicht, „Wir“ zu sagen und „Dur“ anzuschlagen, wenn es um „grundsätzliche Wahrheiten der menschlichen Existenz“ gehe. Angesichts von „Krieg, Umweltzerstörung und ökonomischen Zusammenbrüchen“ würden sie schreiben, als ob „die großen öffentlichen Krisen vorbei seien und nichts wichtiger wäre als Selbstkultivierung und die Abwehr der Langeweile“ (sic). Das einzige, was diese narzisstischen Sänger interessiere, sei die Schaffung einer „eigenen [unique] Stimme“.

Auch der schädliche Einfluß der Literaturtheoretiker bekommt sein Fett weg. Mit ihrem Herumhacken auf den unüberwindlichen Schranken von Rasse, Geschlecht und Klasse würden diese liberalen Postmodernisten jedermann daran hindern, über etwas anderes als seine eigene Privatwelt zu sprechen.

Edmundson gibt zu, daß Ralph Waldo Emerson im Wesentlichen dieselbe Klage vor 170 Jahren gepredigt habe.

(Soweit dazu, könnte man sagen und Edmundsons Rundumschlag gegen DIE Lyrik zu den Akten legen, wo schon vieles Ähnliche steckt. Alle, die ohnehin keine Lyrik lesen, werden Beifall klatschen und sich behaglich zurücklehnen. Oder man kann sich den Teil herausnehmen, der zu seinen jeweils eigenen Vorlieben und Vorurteilen paßt. So ist es. Was ist, ist, weil es ist. Michael Gratz)

Ralph Waldo Emerson

Hier eine Antwort

3 Comments on “102. Warum ist die moderne Lyrik so schlecht?

  1. Solchen Rundumschlägen wie dem von Ron Charles in der Washington Post stehe ich äußerst misstrauisch gegenüber. Wobei einige seiner Beobachtungen sicher richtig sind. Auf jeden Fall gibt es diese Angst, sich zu den „grundsätzlichen Wahrheiten der menschlichen Existenz“ zu äußern. Man sollte darüber sprechen warum.

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    • aber gerade carson und auch jorie graham tun das. vielleicht nicht im sinne des autors. auch ashberys flowchart halte ich für eine äusserung in dieser richtung, oder david lerner. natürlich äußern sie sich nicht mit welterklärender anspruchsgeste und vielleicht nich aphoristisch zitierfähig. aber sie tun es, auch wenn sie mit recht „grundsätzlichen wahrheiten“ misstrauen.
      genannte autorinnen fallen mir ad hoc ein, weil ich sie überaus schätze. wenn mir schon auf die schnelle diese autoren in den sinn kommen, wie viel mehr muss es noch gebenm die in dieser hinsicht nennbar wären. (beide walddrops z.b.)

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