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Veröffentlicht am 7. Juni 2013 von lyrikzeitung
Autor Walle Sayer ist kein Trosttexter, kein Erbauungslyriker oder pantheistischer Panegyriker. Seine Gedichte schleichen sich auf leisen Titeln an: „Psalm“, „Tagesanfangsverse“, „Poesiealbumzeilen“, das klingt so betulich-besinnlich und täuscht doch gewaltig. Dieser Dichter ist ganz im Hier und Jetzt, beim „Hörgerät“, der „Bettpfanne“, dem „Schafsmist“, dem „Geldscheißer“, und seine Assoziationsarrangements sind komplexer:
Kahle Astversalien
Am Fenster des Klassenzimmers.
Vor seiner Kurzsichtigkeit
erstreckt sich das Absehbare.
Durch solch ein Kassengestell gesehen,
sind die unerreichbaren Mädchen
noch unerreichbarer.
Ein angehender Jüngling
und die Tümpel seiner Augen.
Eisschicht oder Einsicht:
liest er von der Tafel ab.
„Brillenverordnung“ heißt dieses Gedicht, das nur scheinbar harmlos vor sich hindöst. Spätestens beim zweiten Lesen erkennt man plötzlich die Tiefe der Komposition, diese Rösselsprünge im Wortfeld „Sehen“, die Tragikomik einer entstellenden Sehhilfe, die in einen Verleser mündet, der nicht nur Freudianer anrühren dürfte.
/ André Hatting, DLR
Kategorie: Deutsch, DeutschlandSchlagworte: André Hatting, Walle Sayer
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